„Reinhard Mey wird eine neue CD veröffentlichen. Und die Texte werden wieder politischer“. Diese Ankündigung löste in mir als einem Fan der Liedermacherkunst Vorfreude aus. Schließlich hatte der Songwriter-Veteran mit seinen letzten Alben überwiegend um die Frage gekreist: „Wie geht es eigentlich Reinhard Mey und seiner Familie?“ Da waren auch schöne und sprachlich sehr ausgefeilte Lieder dabei gewesen, aber gerade zu den Besorgnis erregenden politischen Ereignissen der letzten Jahre hätte man sich kritische Statements des in jüngeren Jahren oft erstaunlich bissigen Großliedermachers gewünscht.
Auf dem neuen Album, „Nach Haus“ findet man nun tatsächlich vier politische Lieder. Das bewegendste darunter ist für mich „Verschollen“.
Verschollen
Darin geht es um einen deutschen Soldaten, der während eines Rückzugsgefechts auf russischem Boden sein Leben verliert. Reinhard Mey setzt sein bekanntes Einfühlungsvermögen und seine Wortkunst ein, um uns das Schicksal eines gutwilligen jungen Mannes nahezubringen, der niemals in einem fernen Land andere Menschen töten wollte, es unter dem Druck der Umstände dann aber doch tut:
„Ich war ein schöner Kerl, ich wollte leben, lachen, lieben,
Ich wollte diesen Rock nicht, den Tornister, das Gewehr,
Ich wollte nicht in dieses Land, nun bin ich hiergeblieben,
Bin eins geworden mit den harten Klumpen rings umher.
Ich wollte nicht verrohen, plündern, ich wollte nicht schießen,
Und sah mich doch, ein Friedenslamm, die Waffe in der Hand,
Bereit zum Morden, Brandschatzen, bereit zum Blutvergießen,
Sah Frau’n und Kinder als den Feind und hab ihr Dorf verbrannt.“
Das Setting dieses Lieds deutet auf den Zweiten Weltkrieg hin, letztlich ist diese Anklage gegen den Krieg aber zeitlos und nicht auf ein bestimmtes Land beschränkt. Mey sagt nicht explizit, dass er gegen die neue Kriegshetze gegen Russland ist. Aber er thematisiert in dieser angespannten Lage deutsche Verbrechen an Russen im letzten großen Krieg, während er gleichzeitig Mitgefühl für deutsche Soldaten zeigt, die von einem erbarmungslosen System gegen ihren eigenen Willen zu Tätern geformt wurden. Das Lied ist sicher eines der wichtigsten, die die ansonsten eher glanzlos agierende etablierte deutsche Musikszene in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Auch die Musik ist schön, in einer Molltonart gehalten, was ein wenig „russisch“ klingt.
Sanft verschwommene Kritik
Weiter enthält die CD „Nach Haus“ auch ein Lied über die DDR: Es ist — etwas sperrig — betitelt: „Zwischen K ewitz und ontrollpunkt Dr der Brücke von Dreilinden.“
Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden
Darin beschreibt Reinhard Mey seine Erfahrungen mit Grenzkontrollen zu Zeiten der deutschen Teilung. Und er schildert seine Erleichterung angesichts heutiger humanerer Verhältnisse. Mey packt ein gutes Stück deutscher Geschichte in das lange Werk und will uns mit all dem auch etwas sagen:
„Ich hör so viele Torheiten von Welten, die uns trennen
Dass sich aus Neid und Widersprüchen neuer Zwist entspinnt.
Wir müssen ja nicht gleich sein, nein, wir müssen uns nur kennen.
Wir sind doch nicht nur eins, wenn wir auch einer Meinung sind.“
Nachdem die Mauer gefallen ist, so deutet es der Liedermacher-Veteran an, hätten sich neue Gräben aufgetan: solche, die mit Meinungsdifferenzen zu tun haben. Deutschland ist erneut ein geteiltes Land — oder es wird sich zu einem entwickeln, wenn wir nicht aufpassen und uns auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen.
Wieder bleibt Mey unbestimmt, was die Inhalte des von ihm beklagten „neuen Zwists“ betrifft, und verrät auch nicht, welche Position er selbst in aktuellen politischen Auseinandersetzungen einnimmt. Kritisch betrachtet, macht er sich damit „einen schlanken Fuß“; freundlicher ausgedrückt, bemüht er sich um Versöhnung im auseinanderdriftenden Deutschland und versucht Wunden zu heilen, die Menschen, die eigentlich zusammengehören, einander zugefügt haben.
Diesem Konzept bleibt er auch im Lied „Black and white 1945“ treu, einem Lied von Ross Brown, das er ausnahmsweise auf Englisch singt.
Black and White 1945
Ich zitiere hier aus der deutschen Übersetzung, die auf der Seite zu finden ist.
„In Krieg und Frieden lasst uns Ungewissheit lernen,
Nicht in Schwarz und Weiß zu denken.
Lasst starre Sicht im sanften Fokus verschwimmen,
Wir wissen nicht, was richtig ist,
Aber lasst uns nach Wegen suchen, die es sein könnten.“
Schläfriger Sänger von „Sei wachsam“
Es ist ehrlich, zuzugeben, dass es generell sehr schwer ist, Richtig und Falsch zu unterscheiden. Das Lied wird aber all jene nicht zufriedenstellen, die ein weniger sanft verschwimmendes Statement bevorzugt hätten. Etwas näher an der Tagespolitik, jedoch als Dystopie mit teilweise surrealistischen Elementen gestaltet, ist dann das Lied „Lagebericht“:
Lagebericht
„Das rote Kliff strahlt dunkelgrün, ein Loch ist im Ozon.
Die Wendeministerin hat eine Wende vermieden,
Verwechselt Kernschmelze mit der geglückten Kernfusion
Und hat sich einstimmig zunächst für Braunkohle entschieden.
Das Kabinett ist im Regierungs-U-Boot abgetaucht
Mitsamt der Staatskasse, aber das zuzugeben ziert sich
Die Presse. Mein Sauerstoffguthaben ist aufgebraucht,
Wir schreiben den 21.12.2042.“
Man muss hier würdigen, dass sich der mittlerweile 81-jährige Reinhard Mey relativ weit vorgewagt hat. Wer ihm vorwirft, er sei „plötzlich“, im Alter zahm geworden, der verkennt, dass auch ältere politische Lieder wie, „Das Narrenschiff“ oder das nach wie vor von vielen geliebte „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ nicht Ross und Reiter nennen — dass sie vielmehr ganz allgemein eine nicht näher benannte Herrscherclique geißeln. In der Folge sind die Texte dieser Lieder ziemlich zeitlos. „Wir haben ein Grundgesetz, das soll den Rechtsstaat garantieren. Was hilft’s, wenn sie nach Lust und Laune dran manipulieren?“ Nichts hindert uns daran, uns von „Sei wachsam!“ aus dem Jahr 1996 weiter inspirieren zu lassen, auch wenn der Künstler an seinen eigenen Ansprüchen gemessen in den letzten Jahren recht schläfrig wirkte.
Was passierte in den Jahren?
Reinhard Meys Kollege Konstantin Wecker hat in den letzten Jahren keine neuen Lieder herausgebracht, sich dafür aber in Talkshows auf eine Weise geäußert, die ein Licht auf die Entwicklung engagierter Kunst in einer sich politisch verfinsternden Epoche wirft. Bei der Moderatorin Barbara Stöckl vom ORF sprach Wecker im April 2024 von „diesen dystopischen Zeiten“. Dies weckte in mir die Hoffnung, der Liedermacher werde nun den Demokratieabbau, die Einschränkung der Meinungsfreiheit oder das transhumanistische Weltbild geißeln, in denen die Hauptrichtung des Regierungshandelns der letzten Jahre zum Ausdruck kommt.
Der Künstler betonte jedoch nur sehr allgemein seine „Sehnsucht nach einer herrschaftsfreien Welt“. Was wenig glaubwürdig erscheint bei jemanden, der in den Corona-Jahren nicht einmal den Status Quo — also die leidlich freiheitlichen Zustände der alten Bundesrepublik — angemessen zu verteidigen wagte. „Was passierte in den Jahren?“ könnte man da in Anlehnung an ein älteres Lied Weckers fragen.
Konstantin Wecker betonte in Interview: „Es geht jetzt vor allem gegen den drohenden Faschismus“, macht aber deutlich, dass damit nur die AfD gemeint ist. „Lasst uns bitte wieder an Wilhelm Reich denken. Er hat 1934 geschrieben: ‚Massenpsychologie des Faschismus‘. Und er hat damit bewiesen, dass Faschismus ausschließlich auf Mythen basiert. Und was sind Mythen heute? Fake News!“ Diese Passage fand ich — trotz insgesamt auch guter Ansätze im Interview — eher enttäuschend. Denn es wirkt, als hätte sich hier ein ausgewiesener Sprachkünstler entschieden, nicht nur auf eine vom Mainstream unabhängige Meinung, sondern auch auf eine eigenständige Sprache zu verzichten.
„Fake News“ — dieser Begriff ist eine Propagandafloskel, die von den Herrschenden in den letzten Jahren mit Macht im öffentlichen Raum etabliert wurde. „Fake“ — damit sind immer die Nachrichten und Auffassungen des politischen Gegners gemeint. Konstantin Wecker liefert kein Beispiel dafür, was damit eigentlich gemeint sein könnte. Es ist ja richtig, die AfD zu kritisieren, es gibt genügend Gründe dafür. Aber auf der Basis von Doppelstandards, die in letzter Zeit zur Regel geworden sind, werden die Regierenden von Vertretern der etablierten Linken niemals mit gleicher Schärfe kritisiert wie die verhassten „Rechten“.
Das Versagen der Linken hat „Rechts“ groß gemacht
Dort wo es darauf ankäme, die Macht direkt und unmissverständlich anzugreifen, wird die Sprache ehemals nonkonformistischer Künstler verschwommen, nicht greifbar. Da legt Wecker ein Bekenntnis zum „Pazifismus“ ab, kritisiert aber die derzeitige Kriegsvorbereitung gegen Russland nie direkt. Da träumt er von einer „herrschaftsfreien Welt“, lässt aber Nancy Faesers Ambitionen, einen „starken Staat“ vor unerwünschter Kritik zu abzuschirmen, unerwähnt. Mit keinem Wort wird auch erwogen, ob die guten Umfragewerten der AfD nicht zum großen Teil durch das Versagen der politischen „Mitte“ verursacht wurden.
Ja, man muss hinzufügen: auch durch das zu angepasstes Agieren der eingebetteten Linken. Denn auch die weit verbreitete Enttäuschung über Künstler und Intellektuelle mit ehemals sehr sorgfältig gepflegtem Rebellen-Image könnte so manchen in politische Verzweiflung und Heimatlosigkeit getrieben haben, könne ihn anfällig gemacht haben für Lockrufe von rechts.
Ebenso wie zu oberflächliche Entrüstungsbekundungen über den Rechtsruck die Gründe für das Phänomen verfehlen, zeigen sie auch keinen Ausweg aus der Krise auf. Lediglich inszenieren sie den sich Entrüstenden mit Blick auf die mächtigen Leitmedien als einen politisch Unbefleckten, so dass dieser im prestigeträchtigen Spiel der etablierten Kulturlandschaft weiter mitspielen „darf“.
Man muss leider auch deutlich sagen: Künstler, die es sich weder mit Regierung und Medien noch mit ihrem an kritische Statements gewöhntes Publikum verscherzen wollen, bohren als Ausweichlösung gern dünne Bretter. Wer gern kämpft, jedoch im Fall einer Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Gegner Blessuren fürchtet, sucht sich lieber einen relativ leichten Gegner. Da leistete man 2020 lieber Widerstand gegen die unbeholfene Jana aus Kassel als gegen Jens Spahn, entrüstet sich 2024 lieber über die Sylter „Ausländer-raus-Gröhler“ als über Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die bei jedem Talkshow-Auftritt für eine gefährliche Kriegspolitik wirbt. Ebenso begehrt man lieber gegen die AfD auf, die nicht an der Macht ist als gegen die Ampel, die es ist. Man protestiert eher noch gegen Adolf Hitler und Erich Honecker, die tot sind, als gegen einen leider nur allzu lebendigen, sich anbahnenden Correctness-Totalitarismus. So auch auf Reinhard Meys neuer CD: Ein Protestlied gegen den Zweiten Weltkrieg, ein Protestlied gegen die DDR und ein eher allgemein gehaltenes gegen das bundesrepublikanische Establishment.
Ich singe, um nicht gecancelt zu werden
So scheinen viele der neueren politischen Lieder haarscharf am Ziel vorbeizuschießen. Sie enthalten Aussagen weichgezeichneter oder mehrdeutiger Natur, gegen die nicht viel einzuwenden ist, die aber auf merkwürdige Weise unbefriedigt lassen. Dass eine gewisse Übervorsicht textstarker Künstler, heiße Eisen anzufassen, nicht von ungefähr kommt, zeigt das Schicksal von Hans-Eckardt Wenzel, einem Sangesveteranen, der keineswegs ein rechtsextremistischer Verdachtsfall ist, offenbar aber bei einem Konzert im „Werk 2“ in Leipzig im Januar ein paar flotte Sprüche riskiert hatte. Daraufhin bekam er von dem Veranstalter für die Zukunft Auftrittsverbot.
Die Gründe für dieses Musterbeispiel neudeutscher Cancel Culture dokumentiert der Künstler in einem offenen Brief in der jungen Welt. Die Leitung des Veranstaltungsorts „Werk 2“ warf Wenzel unter anderem folgendes vor: „verfälschende Glorifizierung der DDR-Vergangenheit“, “positiver relativierender Bezug zu Putin“. Wenzel habe sich „über sensiblen Sprachgebrauch amüsiert“ – also über das Gendern. Vorwurfsvoll wird konstatiert „Eine Besucherin hat sogar unter Tränen die Halle verlassen.“ Schließlich habe der Künstler Witze gemacht „über die Gefahren der Coronapandemie und über nonbinäre Personen“.
Damit halten wir eine komplette Liste dessen in Händen, was heute „nicht mehr geht“. Als langjähriger Hörer der Lieder Hans-Eckardt Wenzels weiß ich, dass er sozial und humanistisch denkt und für Toleranz eintritt.
Der Liedermacher war vermutlich einfach dem fatalen Irrtum erlegen, er dürfe auf der Bühne sagen, was er selber will, nicht was er nach Ansicht politischer Tugendwächter sagen sollte.
Es ist eine mögliche Erklärung für das verbreitete Schweigen der Sänger, dass sie genau davor Angst haben: Auftrittsverbote, öffentliche Ausgrenzung, gar das Karriereende. Jedoch kann man Künstlern, die in den vergangenen Krisenjahren allzu stromlinienförmig agierten, Kritik nicht ganz ersparen. Sie haben das repressive Meinungsklima, unter dem sie jetzt leiden, ja miterzeugt, indem sie sich nicht rechtzeitig lautstark dagegen auflehnten.
Das Leiden der Aufrechten unter den Querdenkern
Daneben gibt es auch Lieder, die Herrschaftsnarrative ziemlich unverblümt stützen. In „Entfreunde dich“ bringt die junge Liedermacherin Tamara Banez – bekannt auch für sehr kritische Titel wie „Kriegstreiber“ – ihre Traurigkeit über das Ende einer Freundschaft mit einer Person zum Ausdruck, die während der Corona-Zeit ins Querdenkerlager abgedriftet ist.
Tamara Banez: Entfreunde Dich (Electropop Version), produced by monojo
Ich hab‘ nichts übrig für Verschwörungsfantasien,
Wir haben zum Glück noch sowas wie Demokratie.
Natürlich haben wir gerade wirklich ein Problem.
Aber Verwirrung hilft uns nicht, dem zu entgehen.
Und nein, wir leben nicht in einer Meinungsdiktatur.
Warum behaupten du und deine Freunde das denn nur?
Wenn dem so wäre, dürftet ihr dann demonstrieren?
Und dürften wir dann offen die Regierung kritisieren?
Hier zeigt sich eine demokratische Anspruchslosigkeit, die bis heute sehr verbreitet ist. Wenn Kritiker die Einengung des Meinungskorridors beklagen, wird ihnen vorgehalten, gerade die Tatsache, dass sie diese Kritik noch äußern „dürfen“, widerlege den Vorwurf.
Die richtige Antwort ist: Man „darf“ vieles, wenn man bereit ist, mit den Folgen zu leben, die für Aufmuckende derzeit immer gravierender werden.
Das Böse im Keim ersticken
Auch die Liedermacherin Sarah Lesch („Dey“) hat einen politisch ambitionierten Text vorgelegt: „Nie wieder“
Sarah Lesch - Nie wieder (Offizielles Musikvideo)
Ihr Angriffsziel: „Rechte“, die nicht zugeben wollen, dass sie welche sind.
Du hast ja genauso schwarze Kollegen
und Araber und Inder.
Aber die haben sich alle hier angepasst
und Arbeit und brave Kinder.
Du hilfst ja gern, wenn die bloß wieder gehen.
Nur am Ende bleiben die doch da.
Man weiß ja wie die so drauf sind alle.
Man sorgt sich halt um seine Tochter.
An ihr, Sahra Lesch, ist es nun, ihnen die harmlose Maske vom Gesicht zu reißen und bloßzulegen, wes’ Geistes Kind sie wirklich sind.
Nie wieder will ich zu feige sein,
Dir fest in die Augen zu blicken
Und nicht weg zu sehen, um dein faschistisches
Denken im Keim zu ersticken.
Es ist natürlich richtig, dass es Faschisten und Rassisten gibt, die sich mitunter mit harmlos anmutenden Aussagen bei Vertretern der „Mitte“ anbiedern („Ich habe nichts gegen Ausländer, aber…“). Richtig ist aber auch, dass Sarah Leschs Lied den Faschismus-Begriff hier erheblich ausweitet und jede „verdächtigen“ Äußerung zu einem Verteidigungsfall für „unsere Demokratie“ ausruft. Damit wird der Alltag aber zu einem ideologischen Schlachtfeld, auf dem Wohlmeinende ihre Mitmenschen wegen jeder tatsächlich oder vermeintlich problematischen Äußerung sofort unbarmherzig zur Rechenschaft ziehen.
Der Kampf gegen den eigenen Schatten
Dies erinnert an die Aussage von Bundesverfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, im Rechtsextremismus nur auf Gewaltbereitschaft zu achten, denn es gibt auch verbale und mentale Grenzverschiebungen. (…) Wir müssen aufpassen, dass sich entsprechende Denk- und Sprachmuster nicht in unserer Sprache einnisten.“ Lesch will „faschistisches Denken im Keim ersticken“. Neutral ausgedrückt also: Sie will Denken, das von ihrem eigenen abweicht, ersticken, anstatt sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Somit wird um die Festung der linken Mitte eine sehr hohe Brandmauer gebaut, die jede Gedankenaustausch, jede Luftzufuhr von „außerhalb“ verunmöglicht.
Eine derartige Mentalität zeigt keinerlei Einsicht in die Wirkungsweise der Schattenprojektion, in den relativen und perspektivischen Charakter von Wahrheitsbehauptungen, in die Vielschichtigkeit und Widersprüchlich menschlicher Charaktere. Alles scheint in seinem moralischen Gehalt klar definiert und voneinander abgegrenzt.
Wenig Einsicht auch in die Tatsache, dass „Rechte“ ja keine bösen Außerirdischen sind, die von „außerhalb“ in unser Gemeinwesen eingedrungen sind, sondern Menschen, die aus unserer Gesellschaft und deren Widersprüchen hervorgegangen sind, als deren Frucht oder deren Schatten. Menschen also, die „wir“ gerade durch unser angestrengtes und letztlich unglaubwürdiges Gut-sein-Wollen in die Bösewichts-Rolle gedrängt haben.
Die sich öffnende Schere zwischen Links und Rechts
Die Musikszene wird so auch zu einem Symptom dafür, dass die Schere zwischen Mitte-Links und Rechts immer weiter auseinandergeht, dass sich beide Lager radikalisieren, unversöhnlicher werden, offene Feindschaft pflegen, anstatt nur höflich auf voneinander abweichende Nuancen hinzuweisen. Estéban Cortez („Soldatengebet“, “Deutschland, peinlich Vaterland“) ist ein Protestsänger klassischen Zuschnitts, der aufrichtig wirkt und Sprachtalent mitbringt. Während sich Cortez in frühen Werken jedoch eher auf allgemeine Kritik am „Establishment“ verlegt hat und nur gelegentlich auf Migration als einen von vielen Missständen verwies, wirbt er in letzter Zeit offen für die AfD. Etwa in „Nie wieder Altparteien“ und „Die Kinder von Eurasia“.
Sein neuestes Werk „Affentanz“ lässt er mit der gepfiffenen Melodie von „L’amour toujours“ beginnen, bekannt auch als „Döp Dödö Döp“ – der Deckname für „Ausländer raus“. Ein Lied also, das in den Wochen seit dem einschlägigen „Sylt-Video“ in der Öffentlichkeit Furore machte.
Affentanz
„Affentanz“ handelt unter anderem von der von Cortez so empfundenen Überempfindlichkeit der Links-Mitte-Gesellschaft gegenüber unkorrekten Scherzen und Kulturerzeugnissen. Wie immer klagt der Sänger seine Gegner in rhetorisch sehr dichten Sätzen an: „Ihr wart selber niemals standhaft, deshalb tut euch unsere Stärke so weh.“ Dennoch sehe ich derartige Lieder mit gemischten Gefühlen, denn Cortez scheint denen Recht zu geben, die schon immer gesagt haben: „Wer gegen Corona-Maßnahmen ist und gegen die Regierung ist, muss ein Rechter sein“.
Bei allem Verständnis dafür, dass jemand gegen den erstickenden Correctness-Druck im Land anzusingen versucht: „Ausländer raus“ ist kein sinnvoller Beitrag zur Debatte und nicht annäherungsweise ein Argument. Der Satz wirft eher Gräben auf zwischen „inländischen“ und „ausländischen“ Opfern einer ausbeuterischen Plutokratie, die besser zusammenhalten sollten.
Wieder zeigt sich, was schon lang zu beobachten war. Kritische Geister wie Estéban Cortez, die sich vom Mainstream abgestoßen fühlen oder von ihm verstoßen wurden, richten sich wohnlich in der rechten Ecke ein, in die gestellt wurden. Sie leisten damit einen Großteil der kulturellen Oppositionsarbeit, zu der Linke nicht mehr bereit oder in der Lage sind – jedoch leider oft mit einem falschen „Spin“. In der Folge werden Opposition und „Rechts-Sein“ zunehmend als deckungsgleich wahrgenommen. Wer sich als „Antifaschist“ oder „weltoffen“ definiert, lässt sich von einer Regierung vereinnahmen, die die Kriegsgefahr schürt und für Massenverarmung verantwortlich ist. Da wächst zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört. Nur eine Linke, die sich der wirklichen Probleme der Menschen annimmt und sich in klarer Frontstellung zur herrschenden Desaster-Politik als tatsächliche Opposition begreift, könnte verhindern, dass sie selbst in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, während „Rechts“ politisch wie kulturell blüht.
Ein Beispiel gelungener Gegenkultur
Neben politischen Liedern, bei den ich kleine oder größere Fehler zu entdecken meine, gibt es aber auch eine neue Kultur des engagierten Songwriting, die umso wertvoller ist, als sie heutzutage buchstäblich Seltenheitswert hat. Ein Beispiel für gehaltvolle Gegenkultur war der NuoViso Song Contest vom 11. Mai 2024, der parallel zu der Mainstream-Freakshow „Eurovision Song Contest“ veranstaltet wurde. Es war ein Festival der Lieder, das zwar nur im virtuellen Raum stattfand, jedoch wie sein berühmtes Vorbild Wettbewerbscharakter hatte. Die Zuschauer kürten mehrheitlich eine Siegerin. Wer mag kann alle Teilnehmer des Contests hier bewundern. Im Folgenden präsentiere ich einige meiner Lieblingstitel mit Kurzbeschreibungen.
Alien’s Best Friend: Sag endlich nein
Mittlerweile eine der großen, fast schon klassischen Bands des kulturellen Widerstands. Begonnen hatte es vor Jahren mit “coronaskeptischen” Liedern, in Deutsch-Pop-Manier gut arrangiert und ausdrucksvoll gesungen von Nathalie Brink. Während Konstantin Wecker, Autor des Titels “Sage nein”, zu vielem, was uns die Mächtigen in den letzten Jahren zugemutet hatten, bestenfalls ein zaghaftes „jein“ hervorbrachte, bekannten die Außerirdischen-Freude unverdrossen Farbe. Auch ihr neues Lied ruft zum Widerstand auf und sagt auch, wogegen dieser notwendig wäre. Die Band ist ein Lichtblick in Zeiten des Kultur-Verfalls.
Sid der Liedermacher: Weg mit dem einen Prozent
Wenn er die Bezeichnung “Der Liedermacher” nicht schon im Namen trüge, wäre wohl nicht jeder auf die Idee gekommen, dass er einer ist. Heutzutage ist eine klare politische Frontstellung gegen die Mächtigen bei dieser Berufsgruppe ja alles andere als selbstverständlich. Sid dagegen gibt sich hier geradezu klassenkämpferisch. Während nämlich “Eliten”-Vertreter darüber räsonieren, wie viele Prozent der Menschen auf der Erde unbrauchbar sind und um wie viele man die Erdbevölkerung reduzieren müsste, hat der Sänger eine einfache Antwort: Auf die, die bei weitem am meisten Ressourcen verbrauchen und den Rest von uns permanent mit herrischer Gebärde quälen, könnte man getrost verzichten. Sie dürfen ja existieren, nur an den Schalthebeln der Macht haben sie definitiv nichts zu suchen.
G Rom: Sklavenmentalität
“Mit Sklavenmentalität fühlt man sich im Gefängnis wohl.” Dieser Sprechgesang greift ein brisantes und hochaktuelles Thema auf: Gefangenschaft, die von den Insassen nicht bedauert, ja nicht einmal bemerkt wird. “Wenn du es nicht einmal merkst, ist die Illusion der Knast”. Das Schweizerdeutsch im Lied ist auch für Nicht-Eidgenossen verkraftbar, wofür eine eingeblendete Übersetzung sorgt. Hier lohnt es sich auch, den visuellen Stil des Videos zu analysieren: Neben “Gefangenen” mit Glatze und roter Bekleidung sieht man auch unter anderem Technik-Zombies mit Cyberbrillen.
LiCHT: Wach endlich auf!
“Du bist ein Schaf, das vor der Schlachtbank steht”. Dieses Lied ist eine wuchtige Anklage gegen das System. Visuell nimmt es Anleihen bei Fritz Langs “Metropolis” sowie Charlie Chaplins “Moderne Zeiten”. Gezeigt werden auch Bilder von Persönlichkeiten, die die Macher des Videos verehren, und von solchen, die sie vermutlich weniger schätzen. LiCHT-Sänger Jürgen Kohler wirkt etwas düster und würde wohl bei keiner Boyband reüssieren. Dafür ist er ein Charakterkopf. Das Lied geißelt nicht nur die vielen Angriffe gegen die Freiheit in letzter Zeit, sondern deutet die Eingliederung des Menschen in eine öde, fremdbestimmte Arbeitswelt ganz allgemein als einen Zustand, gegen den wir uns wehren müssten. Die Frage wird gestellt, warum sich die Vielen überhaupt von den Wenigen gängeln lassen – und wie lange sie das noch zulassen wollen.
Schließlich der Siegertitel des NuoViso Song Contests – ausnahmsweise gar nicht so politisch.
Emma Marten feat. Jola: Die Kraft
“Diese eine Kraft, die uns verbindet, die auch im kleinsten Herzen schlägt und Melodien komponiert. Vielleicht spürst du sie im Gebet, beim Schwimmen im Meer, in einem Kuss, an deinem Kraftort. Vielleicht nennst du sie Universum, All-eins, Gott, Geist oder große Kraft. Egal, was du glaubst. Es gibt eine Kraft, die uns verbindet. Eine Magie, die in allem lebt. Und darum geht‘s in diesem Lied.” So beschreiben die Künstlerinnen selbst ihren Song. Und gewannen damit den NuoViso Song Contest. Wohltuend ist in dem Video der völlige Mangel an Inszenierung und Schnickschnack, speziell im Kontrast zum Eurovision Song Contest, der zeitgleich stattfand. Zwei junge Frauen, eine Gitarre, ein Baum. Eine einfache Melodie, bei der die Stimmen der Frauen manchmal verschmelzen. Dabei gibt der Text durchaus Anlass zum Nachdenken. Denn die “Kraft”, die hier beschworen wird, bleibt unbestimmt wie das “Tao” der altchinesischen Philosophie. Zugleich ist sie vielseitig und überall gegenwärtig.
Ein kleiner Funke
Dabei beim NuoViso Song Contest war übrigens auch Alexa Rodrian, die ihr Lied „Auge um Auge“ in einem Artikel für Manova selbst präsentierte. Darin steht ein Satz, der Kulturschaffenden in kulturfeindlichen Zeiten durchaus als Anregung dienen kann: „Als Künstlerin habe ich das Privileg des kreativen Ausdrucks, und ein kleiner Funke in mir hofft immer noch, dass ich damit meine Botschaft in die Welt tragen und die Menschen in ihren Herzen erreichen kann.“ Möge aus dem Funken ein Flächenbrand des lebensfreundlichen und widerständigen Liedguts werden.
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