Die im Zuge des vorläufigen Waffenstillstandes 2025 vereinbarten Freilassungen sind von immens großer Bedeutung. Denn sie bringen etwas zum Leben, was unter dem Trümmerberg in Gaza begraben werden soll.
Der Austausch von festgehaltenen Personen ist seit Jahrzehnten erprobt: Auf eine festgehaltene Person aus Israel kommen etwa 60 bis 100 Personen aus Palästina frei. Das schließt ganz stillschweigend „Gefangene“ in Gaza und im Westjordanland mit ein. Nur in diesem Fall existiert Palästina, was ansonsten vom Staat Israel und seinen Verbündeten mit allen Mitteln negiert und torpediert wird.
Seit dem Waffenstillstand vom 19. Januar 2025 werden Zug um Zug, ja was nun, Gefangene oder Geisel ausgetauscht?
In den deutschen Laufstallmedien gilt eine eindeutige, selbstverständlich völlig freiwillige Übereinkunft: Wenn Palästinenser ausgetauscht werden, dann sind es „Gefangene“. Wenn israelische Bürger ausgetauscht werden, dann sind es „Geisel“. Das hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, aber diese kann man ja kreieren.
Das macht zum Beispiel die Tagesschau mit mäßig gelungenen akrobatischen Verrenkungen. Ganz leicht und flüssig berichtet man über die freigelassenen Menschen aus Israel. Man zeigt sie, man zeigt die Freude der Angehörigen und man beschreibt ihre Geschichte. Dabei fällt in jedem zweiten Satz, dass es sich dabei um „Geisel“ in der Hand der „Terrororganisation“ Hamas handele.
Um nicht ganz der Manipulation und der vorsätzlichen Einseitigkeit geziehen zu werden, stellt die Moderatorin noch die Frage nach:
„Um was für Gefangene handelt es sich auf palästinischer Seite?“
Jetzt fängt das Geeiere des Reporters vor Ort so richtig an.
„Ja es wurden Gefangene freigelassen, die schwere Straftaten verübt haben … und …(Pause) Gefangene, die keine Straftaten begangen haben. (Pause) Außerdem wurden auch Minderjährige ausgetauscht. Ja (Pause), aber genaues weiß man nicht.“
Die Moderatorin versteht sofort und bedankt sich bei ihrem Reporter und geht zum nächsten Beitrag über. Das macht sie nicht kopf- und gedankenlos, sondern sehr bewusst und sehr routiniert.
Sie weiß, dass fast alles an dem Bericht des Reporters vor Verbogenheiten und Auslassungen strotzt. Denn wenn sie und das gesamte Laufstallkonsortium aus öffentlich-rechtlich-privaten Anstalten ins Detail gehen müssten, wäre die ganze Lüge vom „Selbstverteidigungsrecht“ Israels am Arsch.
Der „7. Oktober“ und das ausgelöschte Davor
Alles wird mit den Ereignissen am 7. Oktober 2023 erklärt, als es um diese zweifellos schwer auszuhaltenden Ereignissen geht, die zu den vielen Opfern auf israelischer Seite geführt haben. Von diesem Tag haben wir viele Bilder und Videosequenzen im Kopf und noch mehr Erzählungen von Scheußlichkeiten, wie zahlreiche abgetrennte Babyköpfe. Erzählungen, die so unerträglich sind, dass man als Reaktion darauf alles versteht und alles damit erklärt.
Ich möchte diese Eindrücke und Bilder, die uns vermittelt wurden, so stehen lassen. Ich möchte auch nicht die vielen Dokumentationen und Recherchen erwähnen und werten, die massive Zweifel an den Rekonstruktionen haben, die in den deutschen Medien nicht erwähnt werden und die wesentlich israelische Militärquellen benutzen. Und das in dem Wissen, dass die israelischen Militärquellen sehr oft manipulativ und gezielt verzerrt vorgehen.
Wer auch immer den Vernichtungskrieg in Gaza ab dem 8. Oktober 2023 erklären will und diesen als Antwort auf den „7. Oktober“ versteht, den man in Israel ohne Skrupel vor Geschichtsklitterungen zum „zweiten Holocaust“ macht, der muss und sollte eine Frage beantworten:
Warum lehnt das Kriegskabinett Netanjahus bis heute kategorisch ab, diesen „7. Oktober“ unabhängig, von internationalen Experten untersuchen zu lassen?
Eine zweite Frage schließt sich dem an:
Selbst wenn all das so passiert ist, wie es israelische Militärquellen und embedded Journalisten behaupten, ist all das ein Grund, eine Rechtfertigung für ein Genozid in Gaza?
Solange internationales Recht, sei es das UN-Völkerrecht oder der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Regeln für Konflikte und Kriege bestimmen, für alle, solange gilt das auch für Israel. Aber, und das muss man betonen, wenn man sich auf internationales Recht beruft: Das gilt auch für die palästinische Seite. Zivilisten zu ermorden, Zivilisten als Geisel zu nehmen, sind Kriegsverbrechen. Und zwar aus einem guten und verständlichen Grund: Die Einhaltung internationalen Rechts kann man nicht aus „guten“ Gründen und „herzensnahen“ Motiven suspendieren.
Der Austausch von Geiseln/Gefangenen ist der beste Beweis dafür, dass das allermeiste vor dem „7. Oktober“ passiert ist.
Denn die Geschichte dieses Austausches ist zugleich die Geschichte der israelischen Okkupation, die — ganz zurückhaltend — 1967 begann, mit der Besetzung palästinensischer Gebiete, der Golan-Höhen in Syrien, des Westjordanlands, Gazas und Ost-Jerusalems. Viele palästinensische Gefangene, die nun freikommen, saßen Jahrzehnte in israelischen Gefängnissen. Sie sind zum Teil über 60 Jahre alt. Aber es gibt auch eine große Zahl an Freigelassenen, die Jugendliche, Minderjährige sind, denen man entweder gar nichts vorwirft oder Steine geworfen zu haben. Was auf dasselbe hinausläuft.
Und dann kommen noch über 10.000 Menschen, die in israelischer Administrativhaft sind und damit im wahrsten Sinne des Wortes Geisel in der Hand der israelischen Armee. Diese Praxis wir seit Jahren ausgeübt und ich kenne keine westliche Regierung, keinen Staat, der zu den „Freunden Israels“ zählt, die dieses Apartheidrecht anprangern, verurteilen und zur Rücknahme zwingen — wozu diese westlichen Staaten sehr viele Möglichkeiten hätten.
Gefangene und Geisel
Im Mittelpunkt der ersten Phase dieses Waffenstillstandes steht der Austausch von Gefangenen. Selbst dies wird in Israel, in den USA und Deutschland mit verbalen Verrenkungen begleitet.
Dass die Hamas am 7. Oktober Geisel genommen hat, ist unzweifelhaft und wurde mit großer Verve im Wertewesten verurteilt. Dass die israelische Armee genau dies seit Jahren tut, also nicht nur an einem Tag, ist nicht der Rede wert.
In Israel nennt man das „Administrativhaft“, was bedeutet, dass man inhaftiert werden kann, ohne eine Anklage, ohne ein Gerichtsverfahren, ohne juristischen Schutz. Diese Administrativhaft trifft ausschließlich Palästinenser, was ein Merkmal für ein Apartheidsystem ist. Diese Art von Entführung führt zur Geiselhaft. Denn sehr oft dienen diese Verschleppten der Erpressung und als Tauschmittel für gefangene Israelis. Auch dieses Mal.
Diese Geiselpolitik hat die israelische Armee seit dem 7. Oktober 2023 massiv verstärkt. Jetzt befinden sich über 12.000 Geiseln in israelischen Gefängnissen, die sehr oft menschenunwürdigen Bedingungen und Folter ausgesetzt sind. Dieses Apartheidsystem hat also viele Freunde und Unterstützer.
Die Komplizen der Kriegsverbrechen oder: Die Dehumanisierung hat keine Altersgrenze
In den deutschen Laufstallmedien hörte und las man viel über die ersten drei freigelassenen israelischen Geiseln. Man konnte sich ausgiebig mit ihnen und ihren Familien und Freunden mitfreuen. Das ist gut und richtig. Verlogen und dreist wird es jedoch, wenn man über die freigelassenen Geiseln aus israelischer Haft so gut wie nichts erfährt. Ganz schnell und huschelig wird dabei auch — ganz nebenbei—von Jugendlichen gesprochen, die zu den ersten Freigelassenen gehören. Warum schreiben diese Medien nicht das, was man weiß, was auch sie wissen? Zu den ersten freigelassenen Geiseln aus israelischen Gefängnissen gehören 69 Frauen, 16 Männer und 10 Minderjährige, der Jüngste ist 16 Jahre alt! Mittlerweile ist die Zahl der Minderjährigen auf über 30 angestiegen.
Kein Aufschrei, keine Nachfragen. Die Laufstallmedien wissen, warum sie darüber kein Wort verlieren und sich so zu Schreibtischtätern von Kriegsverbrechen machen: Zu den Freigelassenen gehören viele, die aufgrund des israelischen Militärrechts ins Gefängnis verschleppt wurden, ohne Anklage, ohne juristische Rechte.
Zu den Freigelassenen gehört auch Khalida Jarrar, ein führendes Mitglied der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP): Khalida Jarrar wurde am 26. Dezember 2023 festgenommen und sechs Monate lang willkürlich in Administrativhaft genommen. Seitdem wurde diese zweimal verlängert. Die Geiselhaft verbrachte sie in Isolationshaft. Die Bilder von ihrer Freilassung zeigen sie in einem sehr schwachen und angegriffenen Zustand. Sie konnte nicht einmal ihre Freude zeigen. Das konnte man alles sehen und auf sich wirken lassen. Nur nicht in Deutschland, das diese terroristische Alltagsroutine in Israel mit Verschweigen unterstützt.
Es hat sehr gravierende Gründe, warum dies in dem Laufstallkonsortium mit kaum einem Wort erwähnt wurde. Denn das würde das Bild vom „islamistischen“, gottesfürchtigen Widerstand gewaltig durcheinanderbringen. Die PFLP ist nicht nur säkular. Sie ist — noch viel schlimmer — eine sozialistische Organisation, die nicht in ethnischen, sondern in universalistischen Kriterien denkt und handelt. Ihre Idee war und ist kein ethnisch definierter Staat, sondern ein Palästina, in dem es keine ethnischen, religiösen und nationalen Privilegien geben sollte.
Genau diese bewaffnete Opposition gegen die israelische Besatzung war im Staatsapparat Israels besonders gefürchtet. Denn sie machte eine Vision sichtbar, die jenseits nationaler Grenzziehungen seine Faszination ausübte — also auch in dem Teil Israels, der mit den religiösen Talmud-Anhängern überhaupt nichts anfangen konnte und wollte. Diese Vision war viel gefährlicher als die Waffen, die die PFLP hatte und hat. Und genau deshalb taten die israelischen Regierungen viel, sehr viel, um sie zu schwächen. Ein Mittel war, eine religiöse Konkurrenz zu fördern, um den palästinensischen Widerstand zu spalten und zu schwächen: Diese nannte sich „Hamas“ und gegen die kann die israelische Armee heute nicht mehr siegen.
Ein weiterer Punkt hat den Charakter einer Verdeckungstat: Die israelische Armee hat den freigelassenen Palästinensern als „Auflage“ mit auf den Weg gegeben, dass sie an keiner öffentlichen Veranstaltung teilnehmen dürfen, anderenfalls müssten sie mit „Konsequenzen“ rechnen.
Das macht man, weil man es kann, und signalisiert zugleich, wie vorläufig die „Freilassung“ ist. Aber es gibt noch einen anderen Grund: Wenn man überall auf der Welt sehen könnte, dass Israel „Kinder“, also Minderjährige, gefangen hält, junge Menschen, die abgemagert sind, von Haft und Folter gezeichnet und kaum noch gehen können, wie Mohammed Sabah, der mit 17 Jahren in ein israelisches Gefängnis verschleppt wurde. „Im Juni 2022 wurde Mohammed Sabah (17) vom israelischen Militär (IDF) festgenommen, das ihn beschuldigt hatte, Steine geworfen zu haben. Er wurde nie verurteilt, verbrachte aber 17 Monate im israelischen Gefängnis. Am 25.1.2025 wurde er im Rahmen des israelischen Waffenstillstandsabkommens mit der Hamas freigelassen“, schrieb dagbladet.no.
Was hätte er stattdessen machen sollen? Die Schuhe der Besatzer putzen?
Ebenfalls soll verschwiegen werden, dass Frauen freikommen, deren Verbrechen darin besteht, gegen die Besatzer zu sein, wie Khalida Jarrar und viele andere. An all den Freigelassenen kann man die Geschichte Palästinas und die Verbrechen Israels nachzeichnen.
Gehört jetzt auch zum „Selbstverteidigungsrecht“ Israels, dass das Feiern ihrer Freilassung in Gaza und im Westjordanland verboten ist?
Wie viel Angst muss der israelische Staat haben, wenn für alle Welt öffentlich wird, dass unter den Freigelassen „Schwerverbrecher“ 10, mittlerweile 30 Minderjährige sind? Und wie viel Angst hat der israelische Staat vor der Freude derer, die die Freigelassenen in den Arm nehmen?
Den großen Jubel kann man trotzdem sehen. Hunderte Handyaufnahmen kann man davon sehen — wenn man das öffentlich-rechtlich-private Anstaltswesen abschaltet.
Die Freude übertrifft die Sprengkraft der Bomben, die Gaza unbewohnbar gemacht haben. Nach über 16 Monaten Krieg, die selbst am Bildschirm kaum auszuhalten waren, weil sie jeden Tag die Allmacht und den Vernichtungswillen der israelischen Kriegsmaschinerie und ihrer Helfershelfer zeigten, ist das jetzt eine Genugtuung.
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Quellen und Anmerkungen:
PFLP Leader, Khalida Jarrar, among First Detainees to be Freed in Ceasefire Deal, The palestine Chronicle vom 18. Januar 2025: https://www.palestinechronicle.com/pflp-leader-khalida-jarrar-among-first-detainees-to-be-freed-in-ceasefire-deal/
Bericht über die Administrativhaft von Khalida Jarrar, addameer.org vom 24. Dezember 2024: https://www.addameer.org/news/5456
Ein berührender Bericht über Khalida Jarrar von Al Jazeera vom 19. Januar 2025:
Palestinian MP and activist Khalida Jarrar freed after months in Israeli solitary confinement: https://www.youtube.com/watch?v=3H8HXYcYqYM
Freilassung von drei Frauen am 19. Januar 2025 durch Izz ad-Din al-Qassam Brigades: https://x.com/i/status/1881078151356538990
I could have been one of those who broke through the siege on October 7, Salman Abu Sitta, 2024: https://mondoweiss.net/2024/01/i-could-have-been-one-of-those-who-broke-through-the-siege-on-october-7/
Dieser Mann darf in Deutschland nicht über seine Jugend reden: https://globalbridge.ch/dieser-mann-darf-in-deutschland-nicht-ueber-seine-jugend-reden/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=globalbridge-updates-3
Was geschah wirklich am 7. Oktober? Sharmine Narwani und Robert Inlakesh vom 27. Oktober 2023: https://magma-magazin.su/2023/10/sharmine-narwani-und-robert-inlakesh/was-geschah-wirklich-am-7-oktober/
„Hast du Angst, das zu hören, Deutschland?“ Nan Goldin’s Rede in der Neuen Nationalgalerie in Berlin am 22. November 2024: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/12/10/hast-du-angst-das-zu-hoeren-deutschland/