Aron Morhoff ist wahrscheinlich nur wenig jünger als unsere eigenen Kinder. Sein Text Salzstangen und Cola rumort in uns. Bei Arons Betrachtungen fehlt uns die tiefgründigere Analyse, woran die eklatante Verschlechterung der Lebensverhältnisse wirklich liegt. Seinem westdeutschen Blick auf uns Boomer wollen wir unsere ostdeutsche Perspektive entgegensetzen. Bei unserer Replik beziehen wir uns neben unseren eigenen Erfahrungen auch auf unseren rund 20 Familien umfassenden Freundeskreis mit den Geburtsjahren um 1960 mit jeweils zwei bis drei in den 1980ern geborenen Kindern.
Unsere Altersgruppe verfügt statistisch über ein durchschnittliches Nettovermögen von rund 80.000 Euro, das damit um ein Fünftel geringer ist als das von Aron für die ostdeutschen Boomer insgesamt angegebene. Unser Durchschnittsvermögen beträgt weniger als die Hälfte der Westdeutschen (170.000 Euro) in der gleichen Altersgruppe. Wir können keine „satten Erbschaften“ verbuchen, denn unsere Eltern haben ihr Arbeitsleben größtenteils in der DDR verbracht und danach von einer eher kleinen Rente gelebt.
Wir ostdeutschen Boomer erlebten die 1990er Jahre signifikant anders als die westdeutschen. So gut wie alle hatten wir damit zu tun, den Arbeitsplatzverlust nach der Wende zu überwinden.
Wir hatten zu dieser Zeit Kinder im Vorschul- oder Grundschulalter. Sämtliche Lebensverhältnisse änderten sich für unsere Familien schlagartig. Viele wurden zunächst arbeitslos, manche machten sich mühevoll selbständig, manche fanden eine neue Anstellung. Bei einigen hat es Jahre gedauert, bis sie eine zufriedenstellende und relativ gut bezahlte Arbeit gefunden haben. Von den Selbständigen haben einige wieder aufgeben müssen, weil ihnen die Netzwerke in den westlichen Bundesländern fehlten. Wer in einer strukturschwachen Region lebt, hatte es umso schwerer. Manche müssen sich bis zu ihrer nun allmählich eintretenden Rente in einem Bullshit-Job durchkämpfen. Trotzdem konnten sich die meisten — nicht alle — bis etwa 2010 Wohneigentum und einen kleinen sozialen Aufstieg erarbeiten.
Dabei waren wir doch 1989 für bessere Lebensverhältnisse, für Reisefreiheit und für einen besseren Sozialismus auf die Straße gegangen. Selbst als es dann zum Anschluss an die BRD kam, hofften wir, dass alles besser wird. Einige von uns hatten unter dem selektiven Bildungsweg in der DDR gelitten. Ohne Arbeiter- und Bauern-Herkunft, SED-Zugehörigkeit und Verpflichtung der Männer zu dreijährigem Dienst bei der Nationalen Volksarmee waren wir zu Umwegen gezwungen. Zum Abitur durften viele von uns nicht auf die Erweiterte Oberschule, sondern mussten ein (minderwertiges) Abitur mit einer Berufsausbildung zum Zerspanungsfacharbeiter, Galvaniseur oder Industriemechaniker ablegen. Die Wahl der Studienrichtung und der Universität oder Hochschule sowie des Arbeitsortes nach dem Studium waren für viele von uns aus oben genannten Gründen ebenfalls eingeschränkt.
Da hatten es unsere Kinder nach dem Anschluss an das BRD-Schulsystem scheinbar besser. Sie gingen in Gymnasien oder sogar Spezialgymnasien und erste Privatschulen, danach oft für ein Jahr ins Ausland, und konnten dann ihre Wunsch-Fächer studieren. Wer sich wie wir für naturwissenschaftlich-technische Fächer entschieden hat, kann heute mühsam ein wenig Wohlstand aufbauen und besitzt im Ausnahmefall das (kreditfinanzierte) eigene Haus. Diejenigen unserer Kinder, die sich für sozialwissenschaftliche, sprachliche oder künstlerische Studienrichtungen entschieden haben, leben heute zumeist das von Aron beschriebene Leben mit prekären und befristeten Jobs, Mietwohnung und hoffnungslosem Blick auf eine ungesicherte Altersversorgung.
Aber liegt das wirklich daran, dass wir ignorant und überheblich unseren Nachkommen gegenüber sind?
Den Wunsch, dass es auch unseren Kindern einmal besser geht, wie es uns besser ging als unseren Eltern, lassen wir uns nicht absprechen. Allenfalls kann man uns vorwerfen, dass wir vergessen haben oder uns nicht erinnern wollten, was uns im Staatsbürgerkundeunterricht sowie im Studium über das Wesen des Kapitalismus eingebläut worden war.
Wenn nun erst nach und nach der Blick hinter die Kulissen der Weltpolitik gewagt wird, stellen wir plötzlich fest, dass die Frage nach dem Eigentum der Produktionsmittel wirklich die entscheidende Systemfrage ist. Das kapitalistische Prinzip der Gewinnmaximierung zeigt, dass es um den Kampf von Reich gegen Arm geht — nicht Alt gegen Jung. Auch die Erkenntnis, dass uns die etablierten Medien vieles verschweigen und dass man sich die wichtigen Informationen über die weltpolitischen Zusammenhänge woanders holen muss, sickert in unserer Generation zu langsam durch. Wären diese Erkenntnisse bei mehr Menschen eher angekommen — hätten wir den Abschwung der Lebensverhältnisse bremsen können?
Die Reduzierung der Wochenarbeitszeit wurde durch jahrelange gewerkschaftliche Kämpfe in manchen Branchen auf bis zu 35 Stunden erreicht. Auch hier gibt es immer noch Unterschiede zwischen West und Ost, wie auch im Lohn, der im Osten bei BMW noch immer um 20 Prozent geringer ist als in den westdeutschen Werken. Erst im Januar 2026 soll auch im Leipziger BMW-Werk die Arbeitszeit der in den westlichen Werken angeglichen werden. In einem gerechten gesellschaftlichen System würden Produktivitätssteigerungen fast zwangsläufig zu kürzeren Arbeitszeiten führen.
Im kapitalistischen System fließen die wachsenden Gewinne allerdings nur in geringem Umfang in höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeit. Sie werden hauptsächlich von den Eigentümern in Form von exorbitanten Dividenden abgesaugt. Die BMW-Eigentümerfamilie Quandt/Klatten erhielt beispielsweise im Jahr 800 Millionen Euro Dividende. Wenn junge Leute heute kürzere Wochenarbeitszeiten haben wollen, müssen sie auf Einkommen verzichten.
Für bessere Lebensverhältnisse muss jede Generation auch selber kämpfen. Wir sind unter anderem dafür 1989 auf die Straße gegangen. Neben allen mit dem kompletten Systemwandel verbundenen Schwierigkeiten brachte die Wende vielen von uns berufliche Möglichkeiten, die wir in der DDR nie gehabt hätten.
Wir können uneingeschränkt reisen und haben oftmals zusammen mit unseren Kindern die Welt erkundet. Für unsere Jahrgänge reichte die Zeit, einen kleinen Wohlstand und in den meisten Fällen eine ausreichende Rente zu erarbeiten.
Ost- und West-Renten-Niveau sind übrigens noch heute unterschiedlich. Die den Lebensunterhalt sichernde Rente auf Basis eines Umlagesystems wurde 1957 als Wahlkampfgeschenk von Konrad Adenauer eingeführt. Vorher wurden die Alten in den Familien versorgt, und kleine, angesparte Renten waren eine Unterstützungsleistung. Indem Adenauer den alten Leuten versprach, mit einer auskömmlichen Rente vom Wirtschaftswunder zu profitieren, konnte er der CDU den Sieg bei der Bundestagswahl 1957 sichern.
Allerdings fehlt seitdem der politische Wille, das Umlagesystem an die jeweils wechselnden Verhältnisse von Einzahlern und Empfängern anzupassen. Mit der stetigen Produktivitätserhöhung wäre das Geld eigentlich da gewesen. Die deutschen Rentenkassen werden darüber hinaus für versicherungsfremde Leistungen geplündert. Österreich zeigt, dass es besser geht. Langjährig versicherte österreichische Männer, die 2022 in Rente gingen, erhielten eine 1,8-fach höhere Rente als deutsche Männer.
In Österreich zahlen alle Erwerbstätigen in die Rente ein, bei uns sind zum Beispiel Beamte, Ärzte, Richter oder Selbständige ausgeschlossen. Arbeitgeber zahlen einen höheren Rentenversicherungsanteil als Arbeitnehmer, bei uns sind beide Teile gleich groß. In Deutschland folgen die Renten der allgemeinen Lohnentwicklung — allerdings mit Einschränkungen, die die Rentenerhöhungen dämpfen. In Österreich sind die Rentenerhöhungen an die Inflationsrate gekoppelt. Und schließlich ist das Renteneintrittsalter in Österreich niedriger als in Deutschland.
Es reicht nicht, gegen Klimawandel und für „unsere Demokratie“ auf die Straße zu gehen. Junge Leute heute müssen die Hintergründe mannigfacher gesellschaftlicher Spaltungen erkennen und zuerst einmal ihren wirklichen Gegner identifizieren. Es sind nicht die Alten — es sind die Reichen.
Alle Spaltungsprozesse dienen der Ablenkung vom grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt, vom Krieg Reich gegen Arm.
Warren Buffett sagte es uns 2006 in der New York Times:
„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“
So ist es bezeichnend, wenn in einer Fair-Talk-Runde Jens Lehrich die Frage stellt: „Was ist eigentlich Kapitalismus?“ und Jasmin Kosubek, in ähnlichem Alter wie Aron, sehr verunsichert antwortet: „Freie Marktwirtschaft?“ Der dressierte Nachwuchs lässt grüßen. Jedem in der DDR Aufgewachsenen fällt an dieser Stelle sofort das Privateigentum an Produktionsmitteln als maßgebliches Merkmal ein — das haben wir bis zum Erbrechen lernen müssen. Die Annehmlichkeiten unseres Lebens haben es uns für einige Jahre vergessen lassen. Daran erinnert uns Aron, wenn er der Boomer-Generation Ignoranz, Arroganz und mangelnde Selbstreflexion vorwirft.
Es stimmt, Hoffnungslosigkeit kann man nicht mit Salzstangen und Cola überwinden. Bücher lesen und Wissen aneignen, sich nicht spalten lassen, mit den Alten über ihre Erfahrungen reden, sich aktiv und selbstbestimmt für seine Rechte einzusetzen, wäre eine Möglichkeit.
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