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Die schlimmste Anmaßung

Die schlimmste Anmaßung

Ein offener Brief von Oliver Ginsberg spricht Unterstützern der israelischen Rechtsregierung das Recht ab, für alle Juden zu sprechen.

Nun möchte ich zunächst vorwegschicken, dass der Vater meines Vaters, Anton Osrainik, „nach einem gestellten Schauprozess“ von einem Dreiersenat — im Namen des Nazi-Gauleiters im besetzten Gebiet von Kärnten und Krain — „als abschreckendes Beispiel nach §4 der Volksschädlingsverordnung zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt“ wurde. Er hat sich „Anordnungen“ widersetzt, wurde wegen „Veruntreuung“ verurteilt und konnte keinen Ariernachweis vorweisen — die paramilitärische Reiter-SA hat ihn deshalb bald wieder entlassen. Am 25. August 1942 haben ihn die Nazis verhaftet. Bis zum 17. Juni 1944 war er als politischer KZ-Häftling im „Gestapo-Straflager Vigaun, dann in der Strafanstalt Marburg“.

„Am 8. April 1945 gelang ihm auf einem Transport in ein Straflager nach Spittal a. d. D. Villach“ die Flucht, wie die Sozialistische Partei Österreichs am 13. Juli 1945 schrieb. In einem Bescheid des Magistrats Graz aus dem gleichen Jahr heißt es: „Osrainik ist illegaler Freiheitskämpfer und hat besonders zu leiden gehabt.“ In seinem jahrelangen Bemühen um NS-Entschädigung schrieb er im Januar 1975:

„Ich wurde zusammengeschlagen und hatte dadurch starke Gesichtsknochenverletzungen. Mir wurden Zähne ausgeschlagen, ich wurde wochenlang in Ketten gefesselt, bekam 6 Tage nur Wasser und hatte über 3 Monate Bunkerhaft. Außerdem war ich stets zum Erschießen bereitgestellt und musste einige Male mein eigenes Grab ausschaufeln. Ich glaube also, dass es nun wirklich an der Zeit wäre, dass ich für diese qualvollen Jahre meine Entschädigung fordern kann.“

Sein Körpergewicht betrug nur noch 42 Kilogramm, sein Vermögen wurde von der SS beschlagnahmt und das meiner Großmutter auch. Eine Entschädigung bekam er nie.

Auch ich lasse mir schon wegen des Leidens meines nicht arischen Großvaters, der den besetzten Menschen im ehemaligen Jugoslawien während der Naziherrschaft geholfen hat und mit ihnen verbunden war, von nichts und niemanden und besonders nicht von Neo-Faschisten, Imperialisten und Zionisten gleich welcher Länder, Religionen, Ethnien oder Berufsstände das Recht auf Worte und Taten gegen Unrecht und Unterdrückung streitig machen.

Gewiss auch nicht von sämtlichen Agitatoren des Mainstreams, die ja eifrig um eine Täter-Opfer-Umkehr bemüht sind, inflationär, gehässig und wissend oder eben unwissend in schier grenzenloser Verachtung neo-braunen, russo- oder islamophoben Dreck geschichtsrevisionistisch unter dem Deckmantel des Antisemitismus über Andersdenkende und -handelnde schütten, um einen weiteren Genozid (Völkermord) zu rechtfertigen. Seit Wochen, Monaten und viel zu vielen Jahren schon gegen Palästinenser, die wie alle anderen Völker und Volksgruppen selbstverständlich ein und dasselbe Recht auf Autonomie, Würde und Selbstverteidigung haben, gleich welche Kräfte im Hintergrund nach „divide et impera“ herrschen.

Das Messen mit zweierlei Maß ist dabei nicht nur verlogen, es ist menschenverachtend, weil es dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Menschen widerspricht. Und: Hass auf und Widerstand gegen Besatzer ist verständlich und ein beständig roter Faden durch den noch beständigeren blutroten Strom der Menschheitsgeschichte, aber kein Antisemitismus. Wenngleich das eine das andere hier gar nicht ausschließen muss, denn auch Araber sind Semiten und den Mächten im Schatten ist das ohnehin egal!

Deswegen meine Unterstützung für alle, die sich der mörderischen Heuchelei und jedem Unrecht wie auch immer in den Weg stellen. Mein ehrlicher Dank gilt Oliver Ginsberg, dem die vielen positiven Zuschriften zu seinem offenen Brief „Schluss mit der Anmaßung, für Juden zu sprechen“ zeigen, dass es lohnt, „den Mund aufzumachen“ und „wie wichtig“ es ist, sich gegenseitig zu bestärken.

Es ist genug der scheinheiligen Doppelmoral. Genug für viele Juden, Moslems, Christen oder Atheisten. Genug für viele Israelis, Palästinenser, Araber, Nord- und Südamerikaner oder Europäer. Genug für Ginsberg, für mich und für so viele andere Menschen. Denn Ginsberg und wir alle, ob Juden oder nicht, sprechen für uns „selbst und basta“. Wichtig ist und bleibt: „Wir sind im Geiste schon verbunden.“ Hier also noch einmal mit und auch im Nachdruck der Text von Oliver Ginsberg:

An die Unterzeichnenden des Offenen Briefes,

als Nachkomme einer jüdischen Familie, die unter dem Faschismus bis auf eine Person ausgelöscht wurde, melde ich hiermit meinen schärfsten Protest an gegenüber ihrer Anmaßung, für Jüdinnen und Juden in diesem Land sprechen zu wollen. Noch leben Menschen in diesem Land, die selbst oder deren Eltern und Großeltern Opfer der Shoah wurden. Diese haben eine eigene Stimme und benötigen ihre bevormundende, geschichtsvergessene und eurozentristische Fürsprache nicht.

Im Übrigen hat auch der Staat Israel nicht das Recht, für uns zu sprechen. Dieser Staat ist selbst das Ergebnis einer Kolonialisierungsideologie, die in ihrem völkisch-chauvinistischen Gepräge den rassistischen Kolonialisierungs- und Missionierungsbemühungen früherer Jahrhunderte in nichts nachsteht.

Wenn ihnen angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die israelischen Streitkräfte schon zum wiederholten Mal an der palästinensischen Zivilbevölkerung verübt haben, angesichts des seit Jahrzehnten andauernden, illegalen und gewaltsamen Siedlerkolonialismus, angesichts der tausendfachen Schikanen, Verhaftungen und Folterungen in israelischen Gefängnissen nichts anderes einfällt als eine apologetische Bestätigung israelischer Selbstverteidigungsdoktrin, die nichts anderes ist als eine Legitimierung von Massenmord, dann wäre es besser, ganz zu schweigen. Hören Sie auf, in moralischer Überheblichkeit zu schwelgen. Sie haben nichts, rein gar nichts aus der Geschichte der Shoah gelernt.

Wer Israel jetzt noch unterstützt, setzt sich nicht für Jüdinnen und Juden und deren Nachkommen ein, sondern für ein militaristisch-koloniales Staatsprojekt, welches kein Existenzrecht für sich beanspruchen kann. Es sind Menschen, die ein Existenzrecht und Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit haben. Staaten, welche dieses Recht systematisch und mit derartiger Grausamkeit mit Füßen treten, haben jedes Existenzrecht verwirkt, auch wenn sie sich ein fassadendemokratisches Mäntelchen umhängen.

Was am 7. Oktober tatsächlich geschehen ist, wird vielleicht die Zukunft zeigen. Was wir bereits jetzt wissen ist, dass die weit verbreiteten Narrative von geköpften Babys und Vergewaltigungen durch nichts belegt sind und dass viele Israelis im „friendly fire“ ihrer eigenen Armee ums Leben kamen. Ein großer Teil der Getöteten auf israelischer Seite waren laut Ha’aretz Soldaten und Polizeikräfte.

Es ist richtig, religiösen und nationalen Fanatismus und den Tod von Zivilisten zu verurteilen. Das gilt jedoch für beide Seiten und schon wegen des Umfangs noch viel mehr für die zionistische. Sie jedoch ziehen es vor, einer bequemen Staatsräson zu folgen, der zufolge die palästinensische Bevölkerung kein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzungs- und Vertreibungspolitik hat, Israel aber jedes noch so grauenhafte Kriegsverbrechen begehen darf und ungeschoren davonkommt.

Hören Sie endlich einmal den Jüdinnen und Juden zu, die sich konsequent auf die Seite der palästinensischen Seite gestellt haben. Folgen Sie Abigail Martin, Miko Peled, Norman Finkelstein, Gabor Maté, Noam Chomsky und anderen, welche zu der Minderheit derjenigen gehören, welche diesen Konflikt in seinen wahren historischen und moralischen Kontext stellen. Und bitte, bitte verschonen Sie uns mit Ihren jämmerlichen Krokodilstränen. Wir werden nicht von Kritik an Israel bedroht, sondern von einem Mangel an Empathie politischer Entscheidungsträger in Deutschland selbst, welche — indem sie ihre völlige Kritiklosigkeit an Israel äußern — diejenigen verhöhnen, die am meisten unter Faschismus und Rassismus gelitten haben.

Solange von Ihnen keine Besinnung und kein Bedauern bezüglich Ihrer einseitigen und inakzeptablen Stellungnahme wahrzunehmen ist, werde ich die Unterschriftenliste nunmehr als literarischen Leitfaden verwenden, zu Autorinnen und Autoren, deren Werke keinen wesentlichen kulturellen Beitrag mehr versprechen.

Mit entsetzten Grüßen
Oliver Ginsberg

Offener Brief von Oliver Ginsberg.


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