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Die Politik der Verzweiflung

Die Politik der Verzweiflung

Donald Trumps Wahl ist vermutlich nicht die Lösung, aber sie ist ein Symptom dafür, wie groß die Probleme der US-amerikanischen Gesellschaft bereits geworden sind.

Die Verzweiflung ist es, die uns umbringt. Sie fördert das, was Roger Lancaster „vergiftete Solidarität“ nennt — die Vergiftung, die durch die negativen Energien von Angst, Neid, Hass und der Lust an der Gewalt entsteht.

Letztlich ging es bei der (US-Präsidentschafts-)Wahl um Verzweiflung. Verzweiflung über die Zukunft vieler, die sich durch die Deindustrialisierung in Luft aufgelöst hat. Verzweiflung über den Abbau von 30 Millionen Arbeitsplätzen durch Massenentlassungen. Verzweiflung über Sparmaßnahmen und die Umverteilung von Reichtum nach oben, in die Hände raffgieriger Oligarchen. Verzweiflung über eine liberale Klasse, die sich weigert, das Leiden anzuerkennen, das sie im Neoliberalismus verursacht hat, oder neue Maßnahmen in der Art eines New-Deal anzuwenden, die dieses Leiden mildern würden. Verzweiflung über sinnlose, endlose Kriege sowie den Völkermord in Gaza, in denen Generäle und Politiker nie zur Rechenschaft gezogen werden. Verzweiflung über ein demokratisches System, das von mächtigen Konzernen und Oligarchen gekapert wurde.

Diese Verzweiflung lebte sich aus in den Körpern der Entrechteten — durch Opioid- und Alkoholsucht, Glücksspiel, Massenschießereien, Selbstmorde vor allem unter weißen Männern mittleren Alters, krankhafte Fettleibigkeit — und die Hingabe unseres Gefühls- und Geisteslebens an geschmacklose Spektakel und die Verlockungen magischen Denkens, von den absurden Versprechungen der christlichen Rechten bis zum Glauben à la Oprah, dass die Realität niemals ein Hindernis für unsere Wünsche ist. Dies sind die Pathologien einer zutiefst kranken Kultur — Nietzsche nennt es einen aggressiven, entgeistigten Nihilismus.

Donald Trump ist ein Symptom unserer kranken Gesellschaft. Er ist nicht die Ursache. Er ist das, was der Verfall auskotzt. Er äußert eine kindische Sehnsucht, ein allmächtiger Gott zu sein. Diese Sehnsucht kommt bei den US-Amerikanern an, die sich wie menschlicher Abfall behandelt fühlen.

Die Unmöglichkeit jedoch, ein Gott zu sein, so Ernest Becker, führt zu seiner dunklen Alternative — zu zerstören wie ein Gott. Dieses Selbstopfer kommt als nächstes.

Kamala Harris und die Democratic Party mit dem Establishment-Flügel der republikanischen Partei, der sich mit Harris verbündet hat, leben in ihrem eigenen, realitätsfernen Glaubenssystem. Harris, von Parteieliten gesalbt und bar jeder Vorwahlstimme, trompetete stolz ihre Unterstützung durch Dick Cheney heraus, einen Politiker, der sein Amt mit einer Zustimmungsrate von 13 Prozent verließ. Der selbstgefällige, selbstgerechte „moralische“ Kreuzzug gegen Trump schürt die nationale Reality-TV-Show, die den Journalismus und die Politik ersetzt hat. Er (gemeint ist der Kreuzzug, Anmerkung der Übersetzerin) reduziert eine soziale, wirtschaftliche und politische Krise auf die Persönlichkeit Trumps. Er weigert sich, sich den korporativen Kräften, die für unsere gescheiterte Demokratie verantwortlich sind, zu stellen und sie zu benennen.

Er erlaubt es den Politikern der Democratic Party, ihre Basis fröhlich zu ignorieren — 77 Prozent der Democrats und 62 Prozent der Unabhängigen unterstützen ein Waffenembargo gegen Israel. Das offene Einverständnis mit korporativer Unterdrückung und die Weigerung, die Wünsche und Bedürfnisse der Wählerschaft ernst zu nehmen, kastrieren die Presse sowie Trump-Kritiker. Diese Konzernmarionetten setzen sich ausschließlich für ihren eigenen Aufstieg ein. Die Lügen, die sie arbeitenden Männern und Frauen erzählen — vor allem mit Programmen wie dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA —, verursachen weitaus größeren Schaden als jede einzelne der von Trump geäußerten Lügen.

Oswald Spengler sagte in „The Decline of the West“ („Der Untergang des Abendlandes“) voraus, dass eine Klasse von „monetären Schurken“ — Menschen wie Trump — die traditionellen Eliten ersetzt, wenn westliche Demokratien verkalken und sterben. Demokratie würde dann zur Mogelpackung. Dann würde auch der Hass geschürt und den Massen eingeimpft, um sie dazu zu bringen, sich gegenseitig zu zerfleischen.

Der amerikanische Traum wurde zum amerikanischen Albtraum. Die sozialen Bindungen, darunter auch die Arbeitsplätze, die US-Amerikanern ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Stabilität, von Bedeutung und Hoffnung gaben, sind zerbrochen.

Die Stagnation in Millionen von Leben, die Erkenntnis, dass es für ihre Kinder nicht besser sein wird, das räuberische Wesen unserer Institutionen, einschließlich des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie der Gefängnisse, haben neben der Verzweiflung auch zu Gefühlen von Machtlosigkeit und Demütigung geführt sowie Einsamkeit, Frustration, Wut und ein Gefühl der Wertlosigkeit erzeugt.

„Wenn das Leben nicht lebenswert ist, wird alles zu einem Vorwand, sich seiner zu entledigen“, schreibt Émile Durkheim. „Neben dem individuellen gibt es auch ein kollektives Bewusstsein, das Nationen zur Traurigkeit neigen lässt. (…) Die Individuen sind nämlich zu sehr in das Leben der Gesellschaft eingebunden, als dass sie von deren Leiden nicht beeinflusst würden. Das Leiden der Gesellschaft wird unweigerlich zu ihrem Leiden.“

Heruntergekommene Gesellschaften, deren Bevölkerung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Macht beraubt wurde, suchen instinktiv nach Sektenführern.

Ich habe dies während des Zusammenbruchs des ehemaligen Jugoslawiens beobachtet. Der Sektenführer verspricht eine Rückkehr zu einem mythischen goldenen Zeitalter und schwört, wie Trump, die in dämonisierten Gruppen und Individuen verkörperten Kräfte zu vernichten, die für ihr Leid verantwortlich gemacht werden. Je abscheulicher die Sektenführer werden, je mehr sie das Gesetz und gesellschaftliche Konventionen missachten, desto beliebter werden sie. Sektenführer sind den Normen einer etablierten Gesellschaft gegenüber immun. Darin besteht ihre Anziehung. Sektenführer streben nach der totalen Macht. Diejenigen, die ihnen folgen, verleihen ihnen diese Macht in der verzweifelten Hoffnung, dass die Sektenführer sie retten werden.

Alle Sekten sind Persönlichkeitskulte. Sektenführer sind Narzissten. Sie verlangen unterwürfiges Katzbuckeln und absoluten Gehorsam. Sie tolerieren keine Kritik. Sie sind zutiefst verunsichert — eine Eigenschaft, die sie durch schwülstige Großartigkeit zu vertuschen versuchen. Sie sind unmoralisch und verüben emotionalen und körperlichen Missbrauch. Sie sehen die sie umgebenden Menschen als Objekte, die sie zu ihrer eigenen Ermächtigung, zu ihrem Vergnügen und oft sadistischen Unterhaltung manipulieren können. Diejenigen außerhalb der Sekte werden als Kräfte des Bösen gebrandmarkt, was einen epischen Kampf auslöst, dessen natürlicher Ausdruck die Gewalt ist.

Wir werden diejenigen, die ihre eigene Handlungsmacht an einen Sektenführer abgegeben haben und an magisches Denken glauben, nicht durch rationale Argumente überzeugen. Wir werden sie nicht in die Unterwerfung zwingen. Wir werden weder für sie noch für uns in der Unterstützung der Democratic Party das Seelenheil finden. Ganze Bereiche der US-amerikanischen Gesellschaft sind jetzt auf Selbstaufopferung aus. Sie verachten diese Welt und das, was diese ihnen angetan hat. Ihr persönliches und politisches Verhalten ist mutwillig selbstmörderisch. Sie streben danach, zu zerstören, selbst wenn die Zerstörung zu Gewalt und Tod führt. Sie werden nicht länger aufrechtgehalten von der tröstlichen Illusion des menschlichen Fortschritts und verlieren damit das einzige Gegenmittel zum Nihilismus.

Papst Johannes Paul II gab 1981 eine Enzyklika mit dem Titel „Laborem exercens“ , „Durch Arbeit“, heraus. Er griff die dem Kapitalismus zugrundeliegende Idee an, dass Arbeit lediglich der Austausch von Geld gegen Arbeit sei. Er schrieb, dass Arbeit nicht auf die Kommerzialisierung der Menschen durch Löhne reduziert werden solle. Arbeiter seien keine unpersönlichen Instrumente, die wie leblose Objekte manipuliert werden könnten, um Gewinne zu erzielen. Arbeit sei ein wesentliches Element menschlicher Würde und Selbstverwirklichung. Sie gebe uns ein Gefühl von Selbstbestimmung und Identität. Sie erlaube uns, eine Beziehung mit der Gesellschaft aufzubauen, in der wir das Gefühl hätten, zu sozialer Harmonie und sozialem Zusammenhalt beizutragen — eine Beziehung, in der wir eine Bestimmung hätten.

Der Papst verurteilte Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, unangemessene Löhne, Automatisierung und mangelnde Arbeitsplatzsicherheit als Verletzungen der Menschenwürde. Diese Bedingungen, schrieb er, seien Kräfte, die das Selbstwertgefühl, persönliche Zufriedenheit, Verantwortlichkeit und Kreativität außer Kraft setzten. Er warnte, dass die Verherrlichung von Maschinen den Menschen auf den Status von Sklaven reduziere. Er forderte Vollbeschäftigung, einen Mindestlohn, der eine Familie ernähren könne, das Recht eines Elternteils, bei den Kindern zu Hause zu bleiben sowie Arbeit und einen Existenz sichernden Lohn für Behinderte. Für starke Familien sprach er sich für eine allgemeine Krankenversicherung, Renten, Unfallversicherung und Arbeitszeiten mit Freizeit und Urlaub aus. Er schrieb, dass alle Arbeiter das Recht haben sollten, Gewerkschaften zu bilden, die Streiks ermöglichten.

Wir müssen unsere Energie in die Organisation von Massenbewegungen investieren, um den Konzernstaat durch dauerhafte Akte zivilen Ungehorsams zu stürzen. Dazu gehört auch die mächtigste Waffen, die wir besitzen: der Streik.

Indem wir unsere Wut auf den korporativen Staat richten, benennen wir die wahren Ursprünge von Macht und Missbrauch. Wir enthüllen die Absurdität, unseren Untergang dämonisierten Gruppen wie illegalen Arbeitern, Muslimen oder Schwarzen zuzuschreiben. Wir geben den Menschen eine Alternative zu einer den Konzernen verpflichteten Democratic Party, die nicht saniert werden kann. Wir ermöglichen die Wiederherstellung einer offenen Gesellschaft, die dem Gemeinwohl und nicht den Konzernprofiten dient. Wir müssen nichts Geringeres fordern als Vollbeschäftigung, ein garantiertes Mindesteinkommen, eine allgemeine Krankenversicherung, kostenlose Bildung auf allen Ebenen, einen starken Umweltschutz und ein Ende von Militarismus und Imperialismus. Wir müssen die Möglichkeit eines Lebens in Würde, Sinnhaftigkeit und Selbstwertgefühl schaffen. Tun wir das nicht, führt dies zu einem christianisierten Faschismus und schließlich, durch den sich beschleunigenden Ökozid, zu unserer Auslöschung.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The Politics of Cultural Despair“ auf dem Substack von Chris Hedges. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.


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