Der Neoliberalismus stirbt
von Jonathan Cook
In meinem neuesten Essay habe ich behauptet, dass die Macht in unseren Gesellschaften auf Struktur, Ideologie und Narrativen beruht — die das stützen, was wir grob unsere gegenwärtige „neoliberale Ordnung“ nennen, — und nicht auf Individuen. Beachtenswert ist, dass unsere politischen und medialen Klassen, die natürlich tief in diese neoliberale Struktur eingebettet sind, genau das Gegenteil zu verbreiten versuchen: dass Individuen oder ähnlich denkende Gruppen Macht hätten, dass sie — zumindest theoretisch — für den Gebrauch und den Missbrauch dieser Macht zur Verantwortung gezogen werden müssten und dass eine bedeutende Veränderung dadurch herbeigeführt werden könne, dass diese Individuen ausgetauscht werden — und nicht dadurch, dass man grundlegend die Machtstruktur verändert, innerhalb derer sie wirken.
Nicht Individuen, sondern Ideologien
Unsere politischen und medialen Debatten werden also darauf reduziert, wer für Probleme in der Wirtschaft, im Gesundheits- und Bildungssektor oder in der Kriegsführung verantwortlich gemacht werden sollte. Es findet keine Auseinandersetzung darüber statt, ob fehlerhafte Politik in der flüchtigen Verantwortung von Individuen oder politischen Parteien liegt oder ob sie nicht vielleicht Symptom einer gegenwärtigen neoliberalen Malaise ist — Manifestation einer Ideologie, die natürlich bestimmte Ziele wie beispielsweise das Streben nach größtmöglichen Profiten und endlosem wirtschaftlichen Wachstum verfolgt und die anderen Überlegungen gegenüber taub ist, wie zum Beispiel dem Schaden, den sie unserem Leben oder unserem Planeten zufügt.
Die neoliberale Ordnung — unverzichtbar?
Dass man sich auf Individuen konzentriert, hat einen bestimmten Grund. Damit wird sichergestellt, dass die Struktur und die ideologischen Grundlagen unserer Gesellschaften für uns, die Öffentlichkeit, unsichtbar bleiben. Die neoliberale Ordnung wird nicht infrage gestellt — man geht, entgegen aller historischer Beweise, davon aus, dass sie permanent, unveränderlich und unanfechtbar ist.
Diese Irreführung wirkt so tief, dass sogar Versuche, über echte Macht zu sprechen, als verräterisch bezeichnet werden.
Das eben Gesagte und das noch Folgende mögen vielleicht andeuten, dass Macht wie eine Person ist, dass sie Absicht und Willen besitzt, dass sie vielleicht gerne täuscht oder mit Tricks arbeitet. Doch auch das entspricht nicht der Wahrheit.
Dass es mir schwerfällt, genau zu vermitteln, was ich meine, sowie mein Bedürfnis, Metaphern zu nutzen, zeigt die Begrenzungen der Sprache und den notwendigerweise engen ideologischen Horizont, den sie uns zur Verfügung stellt. Eine verständliche Sprache ist nicht dazu geschaffen, Strukturen oder Macht zu beschreiben. Sie ergeht sich lieber in Details, vermenschlicht, spezifiziert und individualisiert — so dass das Denken in größeren, kritischeren Dimensionen fast unmöglich wird.
Die kleine und die große Bühne
Sprache ist auf der Seite derer, die — wie beispielsweise Politiker und Konzernmedien-Journalisten — die Struktur verbergen und Narrative verkaufen, in denen es um die kleine Macht von Individuen geht und nicht um die große Macht von Strukturen und Ideologien. In dem, was heute als Nachrichten bezeichnet wird, bieten die Medien mächtigen Individuen eine große Bühne, auf der sie Wahlkämpfe austragen, Gesetze verabschieden, Unternehmen übernehmen und Kriege beginnen können. Daneben offerieren sie eine kleine Bühne für dieselben Akteure, auf der sie ihre wohlverdiente Strafe bekommen, wenn sie dabei erwischt werden, wie sie Verbrechen begehen, lügen, Affären haben, sich betrinken und sich überhaupt einfach lächerlich machen.
Nützliche Instrumente
Diese nebensächlichen Narrative kaschieren die Tatsache, dass diese Individuen aufgebaut werden, bevor sie je einen Zugang zu Machtpositionen erhalten. Unternehmensleiter, führende Politiker und tonangebende Journalisten erreichen ihre Positionen erst, nachdem sie sich wieder und wieder bewiesen haben — nicht bewusst, aber durch ihre unreflektierte Konformität mit den Machtstrukturen unserer Gesellschaften. Sie werden aufgrund ihrer Leistungen in Prüfungen an der Schule und an der Universität ausgewählt und mittels Trainingsprogrammen und Ausbildungsverträgen weiter selektiert. Sie steigen bis an die Spitze als die talentiertesten Exemplare derer, die der Macht gegenüber blind sind oder sich ihr unterwerfen und die am cleversten, aber völlig unkritisch denken. Jene, die verlässlich ihre Fähigkeiten dort einsetzen, wohin man sie lenkt.
Die Macht der Worte
Ihre großen und kleinen Dramen machen das aus, was wir öffentliches Leben nennen — ob Politik, Weltgeschehen oder Unterhaltung. Wenn man behauptet, dass hier tiefere Prozesse am Werk sind, dass das größte dieser Dramen nicht groß genug ist, um einen Einblick in die Wirkweise der Macht zu bekommen, wird man sofort als paranoid, als Fantast und — das vernichtendste Urteil — als Verschwörungstheoretiker abgetan.
Auch diese Begriffe dienen der Täuschung. Sie sollen alle Gedanken über echte Macht unterbinden. Sie sind Worte, die Angst hervorrufen und uns daran hindern sollen, von der Leinwand zurückzutreten — eine Metapher aus meinem letzten Post. Sie sollen uns dazu zwingen, so nahe stehenzubleiben, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen können.
Ein Paradebeispiel hierfür ist die Geschichte der britischen Labour-Partei — selbst schon, ehe Jeremy Corbyn an ihre Spitze getreten ist. In den 1990er Jahren erfand Tony Blair die Partei als „New Labour“ neu, indem er die Konzepte Sozialismus und Klassenkampf über Bord warf und einen „Dritten Weg“ erfand.
Blairs „New Labour“
Die Idee, die ihm den Zugang zur Macht verschaffte — personifiziert im damaligen Narrativ der Medien in seinem Treffen mit Rupert Murdoch auf der Hayman Island des Moguls — war folgende: New Labour würde einen Mittelweg finden zwischen dem einen und den 99 Prozent. Die Tatsache, dass dieses Treffen ausgerechnet mit Murdoch stattfand, signalisierte etwas Bedeutsames: dass die Machtstruktur einer medialen Runderneuerung bedurfte. Sie musste in neuem Gewand erscheinen.
In Wirklichkeit machte Blair die Labour-Partei dem Machtapparat nutzbar, indem er den Turbo-Neoliberalismus umstylte, den Margaret Thatchers Conservative Party der Reichen entfesselt hatte. Er ließ ihn Sozialdemokratie-kompatibel aussehen. Blair setzte dem aggressiven Streben nach weltzerstörender Macht des Neoliberalismus eine sanftmütigere, freundlichere Maske auf — so, wie es Barack Obama zehn Jahre später in den USA nach den Schrecken der Irak-Invasion tun sollte. Weder Blair noch Obama veränderten den Kern unserer wirtschaftlichen oder politischen Systeme — sie ließen sie aber täuschend attraktiv aussehen, weil sie sie mit Sozialpolitik garnierten.
Maskenspiele
Würde die neoliberale Ordnung enthüllt — würde der Kaiser selbst zulassen, seiner Kleider entledigt zu werden —, würde niemand außer einer kleinen psychopathischen Elite für die Aufrechterhaltung des Neoliberalismus stimmen.
So muss sich also der Machtapparat stetig selbst neu erfinden. Es ist wie mit dem geheimnisvollen Nimbus der X-Men-Filme, wo eine stetige Veränderung der äußeren Erscheinung uns in einem falschen Gefühl der Sicherheit wiegen soll. Das Ziel des Machtapparates ist es, stets so auszusehen, als sei er etwas Neues, etwas Innovatives. Weil die Machtstruktur sich nicht verändern möchte, braucht sie Frontmänner und -frauen, die eine Veränderung personifizieren können, die in Wahrheit völlig hohl ist.
Wie Blair uns gezeigt hat, kann der Machtapparat diesen Trick vollführen, indem er dasselbe Produkt — den Neoliberalismus — in eine schönere Ideologie verpackt. Oder er kann — wie kürzlich in den USA geschehen — noch niederträchtiger vorgehen, indem er eine Prise Identitätspolitik beigibt. Ein farbiger Präsidentschaftskandidat (Obama) bietet Hoffnung, während eine weibliche Kandidatin (Hillary Clinton) sich selbst als mütterliche Retterin darstellen kann.
Ehrlicher Proll versus heuchelnde Madonna
Mithilfe eines solchen Modells werden Wahlen ein illusorischer Wettkampf zwischen durchsichtigen und weniger durchsichtigen Wiederholungen neoliberaler Macht. Indem er die 99 Prozent enttäuschte, machte Obama diese Strategie so kläglich zunichte, dass große Teile der Wähler sich von seiner vorgesehenen Nachfolgerin Hillary Clinton abwandten. Die Wähler durchschauten das Rollenspiel. Sie zogen — wenngleich widerstrebend — Clintons geheuchelt anteilnehmender Politik die ehrliche Vulgarität nackter Macht vor, die Trump repräsentiert.
Instabile Politik
Und wenn er sich auch noch so sehr ins Zeug legt — der Neoliberalismus verliert bei einem großen Teil der US-amerikanischen und der britischen Wählerschaft zunehmend an Ansehen. Sein Bemühen um Verschleierung ist ermattet, seine Strategie erschöpft. Nun geht es ums Ganze, und deswegen macht die Politik gerade einen so instabilen Eindruck. Kandidaten verschiedener Couleur, die einen Aufstand versprechen, gewinnen an Einfluss.
Neoliberale Macht ist unverkennbar, weil sie absolute Macht anstrebt. Und dieses Ziel kann sie nur durch globale Herrschaft erreichen. Globalisierung — also die Welt als Spielzeug zum Ausplündern für eine winzige Eliten, ist dafür sowohl Mittel als auch Zweck. Aufständler sind daher jene, welche den Trend zur Globalisierung rückgängig machen wollen — oder dies zumindest behaupten. Es gibt sie im linken wie auch im rechten Spektrum.
Im Zweifelsfalle zieht der Neoliberalismus typischerweise einen Aufrührer aus dem rechten Lager einem solchen von links vor. Ein Trump kann der Macht auch nützlich dienen, weil er sich den Anschein eines Rebellen gibt und zugleich wenig unternimmt, um die Strukturen tatsächlich zu verändern.
Dennoch ist Trump aus zwei Gründen ein potenzielles Problem für die neoliberale Ordnung.
Ist Trump gefährlich?
Erstens macht er im Gegensatz zu Obama oder Clinton ganz klar deutlich, was wirklich für den Machtapparat auf dem Spiel steht — nämlich Vermögensmaximierung um jeden Preis — und riskiert somit die Demaskierung der Täuschung. Und zweitens stellt er für die Globalisierung der Machtstruktur einen Schritt zurück dar.
Der Neoliberalismus hat den Kapitalismus aus seiner aus dem 19. Jahrhundert stammenden Abhängigkeit von Nationalstaaten herausgezerrt — hinein in eine Ideologie des 21. Jahrhunderts, die eine globale Reichweite fordert. Trump und andere nativistische Führer wünschen sich eine Rückkehr zu einer angeblichen goldenen Ära eines staatsgetragenen Kapitalismus — eines Kapitalismus, der lieber die eigenen Kinder ausbeutet, wenn man auf diese Weise Kinder aus fernen Ländern davon abhalten kann, vor unseren Küsten zu stehen.
Die neoliberale Ordnung zieht einen Trump einem Bernie Sanders vor, weil nativistische Aufrührer so viel leichter zu zähmen sind. Einem Trump kann gestattet werden, auf seiner Twitter-Bühne umher zu stolzieren, während die globale Machtstruktur jeden versprochenen Schritt, der sie selbst gefährden könnte, aufhält und untergräbt. Dem Kandidaten Trump war Israel egal und er wollte die USA aus Syrien raus haben. Der Präsident Trump wurde zu Israels größtem Cheerleader und hat US-Raketen auf Syrien abgefeuert.
Faustische Pakte
Die gegenwärtige Machtstruktur hat viel größere Angst vor einem Aufstand von links, wie er von Jeremy Corbyn in Großbritannien repräsentiert wird. Er und seine Anhänger versuchen das Arrangement mit der Macht rückgängig zu machen, das von Blair vorgenommen wurde. Und deswegen wird er gerade unablässig aus jeder Richtung angegriffen, von seinen politischen Opponenten, von seinen angeblichen politischen Verbündeten — einschließlich des Großteils seiner Fraktion — und vor allem von den Staats- und Konzernmedien inklusive fingiert links-liberaler Elemente wie dem Guardian und der BBC.
Die letzten drei Jahre der Angriffe gegen Corbyn zeigen, wie Macht sich selbst offenbart und ihr wahres Gesicht zeigt, wenn ihr die Felle davonschwimmen. Es ist der Griff nach dem letzten Strohhalm. Ein Blair oder ein Obama kommen an die Macht, haben auf dem Weg und hinter den Kulissen aber schon so viele Kompromisse gemacht, dass ihre ursprüngliche Politik so gut wie keinen Biss mehr hat. Sie haben als Bedingung dafür, an die Macht zu kommen, Faustische Pakte geschlossen. Dies wird mal als Pragmatisms oder Mäßigung beschrieben, mal als Realismus. Verrat würde es besser treffen.
Marionette Obama
Diese Verhaltensweise wird auch nicht aufgegeben, wenn die Betreffenden ein hohes Amt erklimmen. Obama machte in dem Glauben, er habe Spielraum zum Taktieren im Mittleren Osten, eine Reihe früher Fehler — er hielt in Kairo eine Ansprache über einen „Neubeginn“ in der Region. Kurze Zeit später half er dabei, den ägyptischen Arabischen Frühling zu ersticken, der in der Nähe — am Tahrir-Platz — ausgebrochen war. Das schon lange von Washington finanziell unterstützte ägyptische Militär durfte die Macht wieder übernehmen.
Im Jahr 2009 erhielt Obama den Friedensnobelpreis für seine internationale Diplomatie — bevor er Zeit hatte, überhaupt irgendetwas zu tun. Und dennoch intensivierte er den Krieg gegen den Terror, beaufsichtigte die schnelle Ausweitung einer Strategie außergerichtlicher Ermordungen durch Drohnen und stand der Erweiterung der irakischen Regime-Change-Operation in Libyen und Syrien vor.
Und er drohte Israel Strafen für dessen illegale Siedlungspolitik an — einem Kriegsverbrechen, das sich nun schon über fünf Jahrzehnte hinzieht und bisher durch die internationale Gemeinschaft ungestraft blieb. In der Praxis jedoch erlaubte sein Nichtstun Israel, seine Siedlungen so fest zu etablieren, dass nun eine Annexion von Teilen der Westbank bevorsteht.
Der Neoliberalismus ist nun so fest verwurzelt, so raubgierig, dass selbst ein moderater Sozialist wie Corbyn als große Bedrohung angesehen wird. Und im Gegensatz zu Blair, Obama oder Trump ist Corbyn so viel schwieriger zu zähmen, weil er eine Graswurzelbewegung hinter sich hat, der er sich letztendlich zu verantworten hat.
Der „verrückt-linke“ Kandidat
In den USA hat der neoliberale Flügel der Demokratischen Partei den links-aufständischen Kandidaten Bernie Sanders daran gehindert, für die Präsidentschaft zu kandidieren, indem man das System so manipulierte, dass er es gar nicht erst auf den Stimmzettel geschafft hat. In Großbritannien umging Corbyn diese Abwehr per Zufall. Er geriet als der symbolische „verrückt-linke“ Kandidat ins Rennen um den Parteivorsitz — von der Labour-Bürokratie zugelassen —, um damit die Inklusivität und Fairness der Wahl zu beweisen. Man hatte nie erwartet, dass er gewinnen würde.
Als er dann als Vorsitzender eingeführt war, hatte die Machtstruktur zwei Möglichkeiten: ihn zu zähmen wie Blair — oder ihn zu zerstören, bevor er eine Chance hatte, ein hohes Amt zu erreichen. Für all jene mit kurzem Gedächtnis: Es ist lohnenswert, sich daran zu erinnern, wie diese beiden Möglichkeiten in Corbyns ersten Monaten erwogen wurden.
Militärputsch
Einerseits wurde er in den Medien wegen seiner abgetragenen Kleidung verhöhnt, weil er unpatriotisch und sexistisch sei und weil er die nationale Sicherheit bedrohe. Dies war die Kampagne, die zu seiner Zähmung führen sollte. Andererseits veröffentlichte die Murdoch-eigene Times, das Hausblatt der neoliberalen Elite, die Warnung eines anonymen Generals, dass das britische Militär Corbyn niemals gestatten würde, Premierminister zu werden. Es gäbe einen Militärputsch, bevor er auch nur in die Nähe der Downing Street Nr. 10 gelange.
Wir wirkungslos diese Machtstrukturen nun sind, zeigt sich darin, dass all dies keinen Einfluss auf Corbyns Erfolg bei der Öffentlichkeit hatte. Einem wahrhaft aufständischen Kandidaten kann durch Angriffe der Machtelite nicht geschadet werden. Deswegen ist er ja da, wo er ist.
Also versuchten jene unter seinen eigenen Unterhausabgeordneten, die der Machtstruktur angehören, einen zweiten Führungsmachtkampf zu starten, um ihn loszuwerden. Als sich eine neue Welle von Mitgliedern registrieren ließ, um die Reihen seiner Unterstützer zu verstärken und Labour damit zur größten Partei Europas machte, verweigerten Labour-Bürokraten so vielen wie möglich das Wahlrecht — in der Hoffnung, Corbyn auf diese Weise zum Verlierer werden zu lassen. Sie scheiterten erneut. Er gewann mit einer noch größeren Mehrheit.
Neusprech
Nun musste die neoliberale Ordnung ihr höchstes Ass ausspielen. Sie beschuldigte Corbyn, einen lebenslangen Antirassismus-Aktivisten, des Antisemitismus — weil er die palästinensische Sache unterstützte, weil er palästinensische Rechte der brutalen israelischen Besatzung vorzog. Um diese Anschuldigung glaubhaft zu machen, mussten Begriffe umdefiniert werden:
„Antisemitismus“ bedeutet nicht mehr einfach einen Hass auf Juden, sondern beinhaltet nun auch Kritik an Israel. Und „Zionist“ bezieht sich nun nicht mehr auf eine politische Bewegung, die die Rechte der Juden über die der palästinensischen Bevölkerung stellt, sondern steht nun angeblich für einen ominösen Code für alle Juden. Corbyns eigene Partei wurde unter erbarmungslosem Druck dazu gezwungen, diese bösartigen Begriffsumdeutungen zu akzeptieren.
Wie Antisemitismus als Waffe missbraucht wird — nicht um Juden, sondern um die neoliberale Ordnung zu schützen —, wurde diese Woche sehr offenkundig: Corbyn kritisierte die Finanzelite dafür, den Westen vor zehn Jahren an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht zu haben und sie würde dies bald nochmals tun, wenn keine strikten Regulierungen eingeführt würden.
Nützliche Idioten wie Stephen Pollard, Herausgeber des rechten Jewish Chronicle, sahen hier eine Chance, die Antisemitismus-Ente nochmals aufzuwärmen und beschuldigte Corbyn, insgeheim „Juden“ gemeint zu haben, als er von Bankern sprach. Diese Logik dient dem Zweck, die neoliberale Elite unantastbar zu machen, sie in einen Schutzmantel zu hüllen – im Vertrauen auf das Antisemitismus-Tabu.
Verkehrte Welt
Fast die gesamte parlamentarische politische Klasse und die gesamte Konzernmedien-Klasse, einschließlich der bekanntesten Journalisten der links-liberalen Medien, sind einhellig zu einem grotesken Urteil über Corbyn gekommen. Wie auch immer die Beweise vor ihren und unseren Augen aussehen mögen — er wird nun glattweg als Antisemit bezeichnet. Oben ist nun unten und Tag ist jetzt Nacht.
Bei dieser Strategie wird mit hohen Einsätzen gespielt und sie ist aus zweierlei Gründen gefährlich.
Erstens riskiert sie, genau das Problem zu schaffen, vor dem sie angeblich schützt. Indem sie ununterbrochen wegen Corbyns angeblichem Antisemitismus „Wolf!“ ruft, ohne konkrete Beweise dafür zu haben, und indem sie eine unbegründete Anschuldigung des Antisemitismus zum Maßstab für Corbyns Amtskompetenz macht — und nicht seine erklärte Politik —, klingen die Argumente der echten Antisemiten allmählich plausibler.
Kollateralschäden
Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung könnten die schon lange bestehenden Vorstellungen der antisemitischen Rechten über jüdische Geheimverbindungen, die die Medien kontrollieren und hinter den Kulissen die Strippen ziehen, bei einer zunehmend desillusionierten und frustrierten Öffentlichkeit verfangen. Dass die neoliberale Ordnung den Antisemitismus als Waffe benutzt, um ihre eigene Macht zu schützen, birgt das Risiko, dass Juden zu einem Kollateralschaden werden. Sie würden zu einem weiteren kleinen oder auch größeren Drama in dem zunehmend verzweifelten Versuch, ein Narrativ zu erschaffen, das die Aufmerksamkeit von den echten Machtstrukturen ablenkt.
Zweitens wird der Versuch, ein Narrativ über Corbyns Antisemitismus aus dem Nichts zusammenzubasteln, wahrscheinlich immer mehr Menschen dazu bringen, einen Schritt von der Leinwand weg zu tun, so dass all die unverständlichen Pixel leichter als eindeutiger Beweis erkannt werden können.
Die schiere Absurdität der Behauptungen sowie die Tatsache, dass sie von einer politischen und medialen Klasse ernst genommen werden, die wegen ihrer Ergebenheit gegenüber der neoliberalen Ordnung ausgewählt wurde, beschleunigt den Prozess, mit dem diese Meinungsmacher sich selbst diskreditieren. Ihre Autorität schwindet von Tag zu Tag und in der Folge schmilzt auch ihr Nutzen für die Machtstruktur schnell dahin.
Hier befinden wir uns nun — in den letzten Zügen eines kaputten Systems, dessen Glaubwürdigkeit an einem seidenen Faden hängt. Früher oder später wird dieser reißen, und das System wird in den Abgrund stürzen. Und wir werden uns wundern, wie wir seinen Täuschungen je auf den Leim gehen konnten.
Bis dahin müssen wir uns der dringenden Aufgabe verschreiben, unseren Geist zu befreien und das giftige geistige und emotionale Training, dem wir unterworfen waren, rückgängig zu machen.
Wir müssen all jene, die an der Durchsetzung der korrupten Orthodoxie arbeiten, kritisieren und lächerlich machen und unseren Weg in eine Zukunft neu planen, die die menschliche Spezies vor der drohenden Auslöschung rettet.
Jonathan Cook, der seit 2001 in Israel lebt, ist Journalist und Schriftsteller. Er hat bereits drei Bücher über Israel veröffentlicht und erhielt den Martha Gellhorn Special Prize für Journalismus. Hier die Begründung der Juroren: „Jonathan Cooks Arbeit über Palästina und Israel, vor allem seine Entschlüsselung der offiziellen Propaganda und seine herausragende Analyse von Ereignissen, die im Mainstream oft verschleiert dargestellt werden, machten ihn zu einem der zuverlässigen Sprecher der Wahrheit im Mittleren Osten.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Time to Wake Up: the Neoliberale Order is Dying". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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