Vor fast fünfzig Jahren, anno 1972, hatte ein junger Wissenschaftler, der im Jahre 1942 geborene amerikanische Chemiker Dennis L. Meadows – seinerzeit am Massachussets Institute of Technology (MIT) angestellt – im Auftrag des „Club of Rome“ einen alarmierenden Report veröffentlicht, der in düstere Vorhersagen mündete: Bei Fortführung der bisher betriebenen Wirtschaftsweise, die auf permanentes Wachstum als den allen anderen Zielen übergeordneten „Wert an sich“ ausgerichtet sei, gehe die Menschheit – so prophezeihten Meadows und sein Team – auf einem verwüsteten Heimatplaneten dem sicheren Untergang entgegen.
„Die Grenzen des Wachstums“ hieß dieser Report aus dem Jahr 1972 – aber wer erinnert sich heute noch daran?
Denn der „Wachstumsfetischismus“ hat sich von damals bis heute, allen Warnungen und Mahnungen zum Trotz, ungehindert fort- und durchsetzen können. Vielleicht, so orakelte eine Glosse der „Süddeutschen Zeitung“ schon anno 1992, also exakt 20 Jahre nach dem Erscheinen des Club-of-Rome-Reports, hätten sich Dennis Meadows und sein Team die Enttäuschung ersparen können, wenn sie zu den von ihnen in der Computersimulation untersuchten globalen Trends noch eine weitere Größe berücksichtigt hätten – „die enorme Resistenz des Menschen gegenüber unangenehmen Voraussagen und den bedingungslosen Glauben – zumal demokratischer Politiker – an die technische Lösung, zumal durch Privatwirtschaft“ (1).
Diese pessimistische Anmerkung ist sicher sehr berechtigt. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor neben jener menschlichen „Beratungsresistenz“, der die Abkehr vom Wachstumsdogma sowohl in der Wirtschaftsweise wie im Alltagsleben allem Anschein nach massiv behindert: Eine tief in der menschlichen Seele eingewurzelte Angst vor dem „Weniger“ – also vor jenem „Prinzip Schrumpfung“, das ja der einzig erfolgversprechende Weg heraus aus der sich bereits allenthalben zeigenden ökologischen Systemkrise wäre.
Hauptmotiv für jenen die Biosphäre und damit auch die Menschheit selber gefährdenden Drang nach dem „Immer Mehr“ (und komplementär dazu für die „Angst vor dem Weniger“) ist meines Erachtens der Wunsch nach Macht. Das mag zunächst vielleicht seltsam klingen, denn wir sind es gewohnt, das, was wir „Macht“ nennen, vor allem im Verhältnis der Menschen untereinander zu verorten – ganz im Sinn der nachgerade zum Klassiker geratenen Definition des deutschen Soziologen Max Weber (1864 - 1920), Macht sei die „Chance, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzuführen“ (2) – und zwar, so Weber expressis verbis, gleichgültig, worauf diese Chance konkret beruhen mag...
Aber es gibt, neben dieser unübersehbaren zwischenmenschlichen Dimension der Macht, bei deren Ursachen und Wirkungsweise auch noch andere, weniger spektakuläre und deshalb häufig übersehene Aspekte. So existiert zweifellos auch der Versuch, Macht über das eigene Leben zu erringen. Dieses Bemühen wird, vor allem umgangssprachlich, meist mit dem Begriff Kontrolle bezeichnet, aber dieses Vorgehen ist in meinen Augen nicht sonderlich trennscharf, denn erfolgreiche Kontrolle, worüber auch immer, setzt den Besitz von Macht voraus!
Natürlich wissen und spüren wir alle, dass wir den Wechselfällen des Lebens und insbesondere seinem jederzeit möglichen, unvermeidlichen Ende, also dem Tod, letzten Endes völlig ohnmächtig gegenüberstehen – aber gerade dieses Wissen intensiviert recht oft das Bemühen, sich dieses Lebens, solange wir es eben noch leben, zu bemächtigen: soll heißen, es erfolgreich kontrollieren zu können. Dazu brauchen wir freilich Machtmittel, Machtinstrumente – und die Verfügbarkeit über Dinge gehört essentiell dazu. Hier scheint das in der Medizin obsolete Motto „Viel hilft viel“ tatsächlich zu stimmen, jedenfalls für die subjektive Wahrnehmung der Lebensrealität!
Dem Wunsch nach Macht und/oder Kontrolle liegen meist tief eingefleischte Ängste zugrunde; es liegt hier offenbar jener überaus wirkmächtige Bewältigungsmechanismus der „Wendung vom Passiven ins Aktive“ vor, den der aus der Schweiz in die USA ausgewanderte Psychoanalytiker Leon Wurmser mehrfach beschrieben hat.
Nun wird der Gegenwartsmensch in unserer Region – ich spreche, wohlgemerkt, vom Leben in einem überaus reichen und sicheren Land wie Deutschland, wohl wissend, dass es sich in anderen Winkeln der Welt völlig anders verhält! – wohl nicht oder jedenfalls nicht erstrangig von der Angst vor Hungersnöten, Naturkatastrophen oder kriegerischen Heimsuchungen gepeinigt; die Bewohner der Wachstums- und Überflussgesellschaft plagen sich weit eher mit dem ab, was Wurmsers israelischer Fachkollege Carlo Strenger als „die Angst vor der Bedeutungslosigkeit“ beschrieben hat (Strenger, Gießen 2016).
Strenger selbst hat das so zusammengefasst: „Das Individuum ist heute mit der gesellschaftlichen Leitidee konfrontiert, alles sei möglich und jedes Ziel erreichbar. Das führt zu einer weit verbreiteten Angst, die eigenen Potenziale nicht voll auszuschöpfen und ein unbedeutendes, erfolgloses Leben zu führen. Die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls wird so erschwert“ (ebenda).
Diese Beschwernis geht einher mit massiven Ängsten, nicht genug zu erleben und das Beste zu versäumen – Gegenmittel sind nicht nur gesteigerter Konsum (zum Beispiel von Designerklamotten oder anderen „angesagten“ Gegenständen), sondern auch die Gier, möglichst viel zu erleben und die mit ihr verbundene permanente Hektik und Unruhe.
Dem Bedürfnis nach einem besseren Leben, welcher Art es auch sei, kann also auch noch die Erlebnisqualität der Gier zur Seite treten – das intensive Bemühen, sich besonders viel an Befriedigung zu verschaffen, was häufig auf früh erlittener Entbehrung beruht, denn (so drücken es Patienten gerne aus) „Ich bekomme ja eh immer am Wenigsten“, „Gerade für mich hat es immer nicht gereicht“ und so weiter und so fort... Es handelt sich somit um das nicht selten zu tief verfestigten Ressentiments führende Gefühl, oft oder gar immer „zu kurz gekommen“ zu sein.
Die Gefahr der Entstehung eines selbstverstärkenden Mechanismus, altmodisch circulus vitiosus genannt, liegt hier ganz offensichtlich nahe: „Ich habe zu wenig bekommen, deshalb brauche gerade ich besonders viel...“
All dem, was wir bisher erörtert haben, tritt nun noch ein neues Problem zur Seite, das der Gier nach Macht, Kontrolle und Bedeutung ihre ganz besondere Qualität verleiht: Alle Bedürfnisse sind irgend einmal befriedigt – mehr als vier Steaks kann ich nicht essen, mehr als einen Liter Wasser pro Viertelstunde wohl kaum trinken, auch dem sexuellen Trieb hat die Natur deutliche Schranken gesetzt – und so weiter und so fort...
Beim Streben nach Macht, Kontrolle und Bedeutung hingegen gibt es für uns Menschen allem Anschein nach kein Gefühl der Sättigung, kein „Jetzt ist es aber genug!“ – von beiden kann man, wenn man leidenschaftlich nach ihnen giert, nie genug bekommen, und aus eben jener Gier erwächst ein mächtiges Motiv, den anderen zu überlisten und zu übervorteilen, nötigenfalls auch mit Gewalt, die dann zwischen Völkern und Staaten leider immer wieder die Gestalt des Krieges annimmt. „Das ist der Teufel in uns – das jeder nie genug hat“, hat Martin Luther gesagt.
Ich spinne diesen Gedankenfaden hier nicht weiter – das tun Sie bitte für sich selbst. Von der Bedeutung des Themas habe ich Sie hoffentlich überzeugen können.
Das entscheidende Problem, und daher vermutlich auch die Ursache des so häufig fehlenden Mutes zum neuen Denken und Handeln, ist – so will es an dieser Stelle unserer Betrachtungen scheinen – zu einem großen Teil (und in meinen Augen sogar überwiegend) psychischer Art.
„Wir wissen zwar, daß nach den Gleichungen der Ökologie der stoffliche und energetische Grundumsatz unserer Gesellschaft um den Faktor 5 bis 10 zu hoch ist“, schrieb Reinhard Loske, der Projektleiter für die im November 1995 der Öffentlichkeit vorgestellten Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ des Wuppertal–Instituts für Klima, Umwelt und Energie, bereits 1994, „wir wissen aber nicht, wie die Menschen für eine derartige Reduktion gewonnen werden können“ (3).
An solchen Studien ist kein Mangel – das Wuppertal-Institut hat seiner Arbeit von 1995 im Jahr 2007 den über 650 Seiten starken Report „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ folgen lassen, und Dennis Meadows hat ein Jahr zuvor ein 30-Jahre-später-Update des Berichts von 1972 veröffentlicht. All diese Arbeiten sind wertvoll und wichtig, aber letzten Endes gilt doch, was eine der interessantesten Figuren der Ökologie-Bewegung, Günter Altner, „eigentlich“ promovierter Theologe und erst später zur Umweltbewegung gestoßen, festgehalten hat: Solche Studien, so Altner, „haben die Öffentlichkeit vorübergehend gewiss aufgeschreckt.
Aber wir haben uns daran schon wieder gewöhnt, weil wir uns an dem tiefer liegenden Reflektionsprozess vorbeidrücken. Wir haben hier nicht nur ein ökonomisches, auch nicht nur ein oberflächen-ökologisches, sondern ein tiefen-ökologisches Grundproblem, das uns nach der Überlebensweisheit im Bewussten und Unbewussten der menschlichen Gesellschaft fragen lässt“ (4).
Auf das, was Günter Altner die „tiefenökologische Dimension“ genannt hat, komme ich am Ende meines Vortrages noch einmal zurück – schlicht und einfach deshalb, weil ich Altner rundweg zustimme und wie er dieses Thema für überaus wichtig halte.
Zunächst aber sei festgehalten: Entscheidend für die „wahre Katastrophe“, die (um Walter Benjamin zu zitieren) darin besteht, „dass alles weitergeht“, ist letzten Endes die unser expansives, rücksichtsloses Verhalten begründende Diskrepanz zwischen Wissen und Tun. Denn trotz aller Kenntnisse und gegen jede Einsicht offenbart sich im praktischen Verhalten der Gegenwartsmenschen ja immer wieder jene schon von dem berühmten US–Psychologen Leon Festinger (1919 - 1989) beschriebene „kognitive Dissonanz“ (5) – diese ist sozusagen die (kognitive) „Input“-Dimension dessen, was dann – als „Output“ – zum „Sozialen Dilemma“ wird: einem paradoxen Verhalten, bei dem die handelnden Personen ihren Mitmenschen Regeln vorzuschreiben versucht, von denen sie sich selber aber qua „Ausnahmegenehmigung“ gleich wieder dispensieren: „Ich bin für Luftreinhaltung und Drosselung des Individualverkehrs“ / „Ich selber brauche mein Auto aber unbedingt, um zum Arbeitsplatz zu gelangen“ – – „Natürlich müssen die Atomwaffen abgeschafft werden“ / „Solange die anderen nicht abrüsten, muss ich meine Atomwaffen selbstverständlich modernisieren.“
Dieser Dispens wird meist aus eigennützlichen Motiven erteilt, aber eben deshalb gerne ideologisch verbrämt. Denn „die offensichtliche Heterogenität und Vielschichtigkeit des Umweltverhaltens eröffnet dem Einzelnen beziehungsweise verschiedenen sozialen Gruppen die Möglichkeit, im sozialen Vergleichsprozess jeweils diejenigen umweltrelevanten Verhaltensbereiche zu akzentuieren, in denen man selbst „positiv hervortritt“.
Weiterhin können bestimmte Verhaltensweisen, die nicht umweltfreundlich sind, leicht entschuldigt werden beziehungsweise durch den Verweis auf andere Bereiche in ihrer Bedeutung subjektiv herabgestuft werden“ schreiben die Soziologen Andreas Dieckmann und Peter Preisendörfer anno 1992, also genau 20 Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“ bei der Auswertung der von ihnen in einer umfänglichen Studie erhobenen empirischen Befunde (6).
Die beiden Autoren zitieren auch eindrucksvolle Beispiele für ihre These: „Die Älteren werden auf die Beschwerlichkeit des Transportes von Flaschen zum Container verweisen und dafür betonen, daß sie immerhin auf den Kauf von Getränken in Dosen verzichten. Die Erwerbstätigen werden mehr oder weniger begründet argumentieren, daß sie ihr Auto für den Weg zur Arbeit brauchen, und wenn man schon ein Auto hat, fährt man damit eben auch in Urlaub. Angesichts ihrer Präferenz für das Auto dürfen die Angehörigen höherer sozialer Schichten immerhin für sich verbuchen, daß sie die hauptsächliche Kundschaft in Bio- und Ökoläden sind...“ (7).
Dieckmann und Preisendörfer betonen, dass umweltschädigendes Verhalten sich überwiegend in solchen Situationen durchsetzt, in denen es nicht Kosten verursacht, sondern Kosten spart; aus dieser Erkenntnis heraus plädieren auch sie für stärkere materielle Anreize beziehungsweise Verteuerungen, wo doch die Reichweite von Appellen an Einsicht und Vernunft eher begrenzt zu sein scheint – ein starkes Argument für ein Modell der progressiven Verteuerung.
Übrigens haben Dieckmann und Preisendörfer in ihrer Untersuchung deutlich machen können – und damit wären wir bei der herausragenden Bedeutung des Verkehrssektors! – dass gerade der Automobilgebrauch jenes Problemfeld darstellt, bei dem Einsicht und Handeln besonders weit auseinanderklaffen. Und noch ein anderer Befund ist von nicht geringem Interesse: Diese Kluft ist bei uns Männern sehr viel weiter als bei Frauen (was nicht unerwartet kommt – schon 1991 hatte ein Meinungsforschungsinstitut die Haltung der Deutschen zur Einführung von „autofreien Wochenenden“ erfragt: Es ergab sich eine Mehrheit der Männer dagegen, aber eine Mehrheit der Frauen dafür!).
Nun aber – und das Thema der Geschlechterunterschiede gibt einen schönen Anlass dafür – abschließend noch einmal zurück zur oben erwähnten „tiefenökologischen“ Dimension.
An dieser Stelle soll deshalb auch nicht unerwähnt bleiben, dass seit einigen Jahren gerade Autorinnen immer wieder darauf hingewiesen haben, dass eine subtile Übereinstimmung zwischen nachhaltiger Wirtschaftsweise und weiblichen Verhaltensdispositionen bestehen könnte. Die „Vorherrschaft der engen Kosten- und Nutzenberechnung“, die „weltumspannende Monokultur“ – so Joan Davis und Gabriela Kocsis – respektiert „weder den weiblichen Instinkt für das Lebensnotwendige noch kennt sie die weibliche Art des Maßhaltens, welche jede Subsistenz-Wirtschaft kennzeichnen: zwei weibliche Merkmale, welche einer Werthaltung und Arbeitsweise zugrunde liegen, die das Leben schützen und schonen und somit eine der Voraussetzungen für eine nachhaltige Wirtschaftsweise sind“ (8).
Wofür ich plädiere, ist eine neue Ethik – und das ist nicht sonderlich originell. Wichtig allerdings ist, dass es sich bei dem, was wir brauchen, nicht um die auf Immanuel Kant fußende vernunftbegründete Verstandesethik handelt – mein Vorbild ist Albert Schweitzer und seine „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“. Schlüsselbegriff dieser in Gefühlen (vorrangig dem der Ehrfurcht) gründenden Tugendethik muss der Begriff des Maßes – und mithin auch die Parteinahme gegen jedes Übermaß – sein. Das Bemühen um das rechte Maß kristallisiert sich vor allem in zwei Grundhaltungen heraus, die schon in der Antike erörtert worden sind – Gelassenheit und Besonnenheit.
Gelassenheit ist der Gegenpol jener gewaltschwangeren Selbstüberhebung, die die Griechen „Hybris“ genannt hatten und die eine offensichtlich unabschaffbare Entartungsmöglichkeit unserer vom reflektierenden Denken dominierten Lebensstrategie darstellt:
„Die Gelassenheit besteht in der Fähigkeit, den Grenzen der eigenen Möglichkeiten frei zuzustimmen, ohne sich als schöpferisch handelnde Person aufzugeben...
Wie beim personalen Handeln geht es um eine Haltung, die zwischen Aktivität und Passivität steht. Eine Zivilisationsform, die dieses Prinzip anerkennt, verzichtet weder auf Wissenschaft noch auf eine rationale Organisation der Wirtschaft. Denn deren Zusammenspiel erhöht die Chancen des Menschen, seine Lebensbedingungen autonom zu gestalten. Die Gelassenheit kritisiert also nicht nur die moderne Hybris; sie wendet sich ebenso gegen neue Tendenzen zu einer Re-Mythisierung der Natur...
Die Gelassenheit besteht vor allem in der Bereitschaft, die Natur in ihrer Eigenart anzuerkennen; im Verhältnis zur Natur ist der Mensch autonom, aber nicht souverän. Die Frage, wie die Anerkennung im Einzelnen geschieht, kann nur der biologische Sachverstand beantworten; weder die Philosophie noch die Moral ist hier zuständig. Allerdings operiert der Sachverstand nicht allein; er ist auf eine normative Vorgabe verpflichtet“ (9).
Der Gelassenheit tritt als zweite Haltung – oder warum eigentlich nicht: Tugend? – ergänzend die Besonnenheit zur Seite. Galt jene als Antidot zur Hybris, den Wahn des Immer-Mächtiger-Sein-Wollens, so ist die Besonnenheit der Widerpart dessen, was die Griechen „Pleonexia“ nannten: Den Drang, stets mehr und mehr erwerben, sich verschaffen und besitzen, also haben zu müssen. Die Besonnenheit, als mäßigendes Moment, zielt genau in die andere Richtung – ganz im Sinne des hier von mir begründeten Schrumpfungsprinzipes.
Eine solche Naturauffassung mitsamt der von ihr rehabilitierten Tugendethik „haben zunächst nicht das Gewicht, das wir seit Kant von jeder Moralphilosophie erwarten. Mit Aristoteles beginnen wir – unterhalb einer Sollensethik – mit einer Könnensethik. In dem Können geht es allerdings nicht um die Kompetenzen, die die technische und ökonomische Zivilisation bis zur Perfektion ausbildet.
Statt einzelne Aspekte zu isolieren und dann zu maximieren, geht es um deren Integration zu einem gelungenen Ganzen; die Ethik wird wieder zu einer Theorie der Lebenskunst. Deren erstes Element besteht im neuen Selbstbild des Menschen, der Gelassenheit, und deren zweites Element heißt Besonnenheit. Und in beiden Fällen kommt es auf die globale Perspektive an“ (10).
Es dürfte aus alledem hinreichend deutlich geworden sein, dass das Prinzip „Schrumpfung“ – so wie ich es verstehe und in seiner Realisierung für unabdingbar halte – weit über den traditionellen Gehalt der „Volkswirtschaftslehre“ hinausreicht und im Grunde nichts Geringeres als die (selbstredend nie abschließend erreichbare) „Wiedereinhausung“, die En-Oikesis des Menschen in seiner Mitwelt zum Ziele hat.
Entscheidend für diese hier gewiss mit grobem Pinselstrich skizzierte Ethik des Maßes, der Demut vor der Natur und der Ehrfurcht vor dem Leben. die alle „bremsenden“ und bewahrenden Haltungen nach Kräften fördert, ist letzten Endes wohl ein Gefühlskomplex, den ich – obschon agnostischer Skeptiker und bisweilen Spötter – dem tiefsten Grunde nach nur als religiös bezeichnen kann. „Allein die religiöse Begründung eines Eigenrechts der Natur verläßt den Rahmen des Anthropozentrischen und könnte auch eine unbedingte Gebotenheit einer Umkehr in unserem Verhältnis zur und Umgang mit Natur bedeuten“ (11).
Dies hat nun nichts mit „Frömmelei“ zu schaffen, und auch die Vorstellung eines „höchsten Wesens“ ist für ein solches außer-vernünftiges Gefühl des Eingebundenseins in Zusammenhänge, die es zu bewahren gilt, entbehrend oder jedenfalls nicht zwingend. Deshalb, so stellte der leider schon früh verstorbene Philosoph Reinhard Löw (1949 - 1994) zutreffend fest, „müssen jetzt diejenigen, die in der westlichen Zivilisation und ihren halbversandeten Religionen lieber ohne Glauben und Kirchen auskommen, nicht schon die Zugbrücken hochgehen lassen.
Die Anerkennung einer religiösen transzendentalen Dimension bedeutet nicht automatisch, daß ein personaler Gott Gesetze erlassen hat; es bedeutet nur, daß für denjenigen, dem Freundschaft, Liebe, Verantwortung, Solidarität authentische Dimensionen von zu realisierender Wirklichkeit darstellen, das Faktum ihres Gebotenseins nicht aus der Welt von Chemie und Physik, von Geschichte und Gesellschaft begründet werden kann, sich also nicht in Immanenz erschöpft“ (12).
„Religio“ heißt ja ursprünglich nichts anderes als „Bindung“ beziehungsweise Rück-Bindung, und es geht auch um nichts anderes als das schlichte und doch still verpflichtende Gefühl, eingebunden zu sein in ein größeres Ganzes, das nicht nur „geschaut“, sondern auch geschützt werden will. Diesem „Außer mir“ Eigenwert und Eigenrecht zuzugestehen – das ist mehr als eine Frage „kluger Gründe“, auch wenn über die Konsequenzen einer solchen Wertentscheidung selbstverständlich rational diskutiert werden kann, soll und muss.
Zu den wesentlichsten Konsequenzen einer von uns Menschen treuhänderisch gestalteten Partnerschaft mit unserer Mitwelt gehörte dann auch der Ausgang aus unserer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Denn Mündigkeit erweist sich allermeist an der Art des Umgangs mit Partnern. Obendrein wäre sie in diesem Fall auch ein guter Schutz vor dem selbstverschuldeten Untergang.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Süddeutsche Zeitung, 21. August 1992
(2) M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft [1922], Tübingen 1972, S. 38
(3) R. Loske: Die Suche nach dem rechten Maß, in: Politische Ökologie, Heft 39, 1994
(4) G. Altner: Was uns die „Wuppertaler“ hatten sagen wollen, in: Jahrbuch Ökologie 2010, Stuttgart 2009, S. 38
(5) L. Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz [1957], Bern 1978
(6) A. Dieckmann und P. Preisendörfer: Persönliches Umweltverhalten - Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2/1992, S. 239
(7) Ebenda
(8) J. Davis und G. Kocsis: Kann Ökonomie weiblich sein? in: Politische Ökologie, Sonderheft 6/1994, S. 33
(9) O. Höffe: Die Ethik der Natur, in: Scheidewege1989/90, S. 65
(10) Ebenda, S. 69f.
(11) R. Löw: Philosophische Begründung des Naturschutzes, in: Scheidewege1988/89, S. 163
(12) R. Löw: Brauchen wir eine neue Ethik? In: UNIVERSITAS 3/1990, S. 295f.
Dr. med. Till Bastian, geboren 1949 in München, studierte in Mainz Medizin und promovierte 1979. Er engagierte sich in der Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ und erarbeitete Studien über den Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung und Kriegsgefahr. Nach dem Freitod seines Vaters, des Grünen-Politikers Gert Bastian, und dessen Lebensgefährtin Petra Kelly schrieb er das Buch „Die Finsternis der Herzen“. Es folgten weitere Bücher mit psychologischen Themen, darunter zuletzt „Seelenleben: Eine Bedienungsanleitung für unsere Psyche“ sowie „Die Seele als System: Wie wir wurden, was wir sind“. Zudem ist er Autor von historisch-medizinischen Sachbüchern und Kriminalromanen. Till Bastian lebt und arbeitet im Allgäu als Arzt und Psychotherapeut in der Fachklinik Wollmarshöhe.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.