Das Areal des Software-Riesen SoftBizTech umfasste knapp vier Quadratkilometer Gelände, das gleich einem Gefängnis mit strengsten Sicherheitsvorkehrungen von der Außenwelt abgeschirmt war. Eine kleine Stadt von fünf bis zwanzigstöckigen Verwaltungsgebäuden, Kantinen, Werkshallen und einer Einkaufsmeile. Wie in einem Ameisenstaat krabbelten die Menschen scheinbar chaotisch und doch einer klaren höheren Ordnung folgend übereinander, untereinander und aneinander vorbei.
Mein Besuch als Korrespondent eines kleinen Alternativmagazins galt aber nicht den mittleren und oberen Regionen des gewaltigen Systems; es sollte ein Trip in die Unterwelt werden, in jenen Bereich, von dem Ortskundige halb witzelnd, halb mit ehrfürchtiger Scheu sagten, wer dort gelandet sei, der müsse jede Hoffnung fahren lassen.
Unter dem Fabrikgelände und den Verwaltungsgebäuden erstreckte sich der Bauch von SoftBizTech mit seinen schwarzen Eingeweiden aus Tunneln, Gängen und Schächten. Auf den hell von Neonlicht bestrahlten, schnurgeraden, teilweise kilometerlangen Boulevards des ersten Untergeschoßes sah man bei Regenwetter die Angestellten wie bewegliche Puppen mit Anzug oder Kostüm und ausdrucksarmer Mimik flanieren, um auf dem kürzesten und trockensten Weg ihre Büros zu erreichen. Schon auf den mittelgroßen Seitenstraßen aber traf man kaum mehr einen der Besucher von der Oberfläche, so als fürchteten diese eine physische oder energetische Verunreinigung.
Die Region der Hoffnungslosen
Schließlich gab es im Schachtsystem Regionen, die mit Ausnahme von eingeweihten Arbeitskräften der untersten Hierarchieebenen niemand, der es irgendwie vermeiden konnte, betrat — scheinbar unentwirrbare Verästelungen von Schächten, Gassen und Gässchen, teilweise dem Blick unzugänglich gemacht durch schwere Stahltüren. Die Luft wehte dort dumpfer aus unsichtbaren Belüftungsrohren, das Neonlicht leuchtete schummriger, und mit jedem Schritt wirbelte man von dem nachlässig gereinigten, aschgrauen Boden ungesunde Wölkchen aus Metall- und Betonstaub auf. Aus zahlreichen Metallkästen an den Wänden quoll ein Gewirr von Kabeln wie aus wimmelnden Schlangennestern. An den niedrig hängenden Decken begleiteten leise surrende Röhren den Gehenden, verzweigten sich oder verschwanden im Nirgendwo.
Den Wänden dieser Gänge schienen Niedergeschlagenheit und Resignation wie faulige Dünste zu entströmen, und obwohl sich mein Verstand an den Gedanken klammerte, dass ich hier nur für kurze Zeit zu Gast und in gut einer Stunde wieder an der freien Luft sein würde, legte sich beim Durchwandern der Gänge unwillkürlich eine Schwärze des Gemüts über mich, so als ob dies das Ende wäre.
Eine seltsame Erscheinung
„Selbst wenn man öfter hierherkommt, kann es einen immer noch verwirren“, bemerkte mein Führer durch die Unterwelt, Herr Kleinschmidt von der HourRent AG für Stundenarbeit, die im Tunnelsystem von SoftBizTech ein kleines Büro unterhielt.
„Jedesmal, wenn man glaubt, sich den Weg eingeprägt zu haben, scheinen sich die Gänge in der Zwischenzeit verändert zu haben. Es ist, als ob Verbindungswege, die vorher dagewesen waren, plötzlich verschwunden und dafür an anderer Stelle neue entstanden wären. Manche sagen auch, das Tunnelsystem würde wie ein lebender Organismus ohne menschliches Zutun wachsen und sich weit über die Grenzen des oberirdischen Areals von SoftBizTech hinaus ausbreiten. Aber das ist natürlich Unsinn, alles geht mit rechten Dingen zu.“
Über das glattrasierte Gesicht von Herrn Kleinschmidt huschte ein professionelles Lächeln, das gefallen wollte, was aber nicht so recht glückte.
Ein Förderband kreuzte in diesem Augenblick unseren Weg, und zu meiner Überraschung sah ich auf diesem Band drei Männer hintereinander mit regungslosen Mienen sitzen, die Füße angewinkelt, in scheinbarem Widerspruch zur schmuddeligen Umgebung dieser Kellerwelt korrekt mit anthrazitfarbenen Sakkos und bunten Krawatten bekleidet und säuberlich gekämmt. Sie trieben aus dem Dunkel eines endlosen Schachtes langsam auf uns zu — eine beinahe unwirkliche Erscheinung —, zogen an uns vorüber, ohne ihre blicklosen Gesichter umzuwenden, und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Herr Kleinschmidt versicherte mir, dass sich mir die Bedeutung dieser seltsamen Erscheinung bald enthüllen würde.
Im Wartesaal
Ich hatte nicht gedacht, dass wir uns schon so nah am Ziel unserer Wanderung, der Wartezone für Männer, befanden, denn kein Gemurmel von Stimmen kündigte die gewaltige Menschenmenge an, die sich beim Öffnen der knirschenden grauen Stahltür jetzt mit einem Mal meinem Blick eröffnete. Die Wartezone war eine gewaltige, etwa bierzeltgroße unterirdische Halle, die sich weit in die Breite und in die Länge erstreckte. Im Gegensatz zu Zelten oder Turnhallen hing die Betondecke aber kaum mehr als zwei Meter hoch drückend über den Köpfen der Wartenden.
Scheinbar wie ein ungeordneter Haufen herumstehend, erwies sich bei näherem Hinsehen doch, dass die Aufstellung der Wartenden einer bestimmten Ordnung folgte. Sie bildeten eine enge Schlangenlinie, wie sie vor Achterbahnen in einem großen Vergnügungspark üblich ist, nur dass die Anzahl der Menschen, die hier anstanden, mindestens um ein Zwanzigfaches größer war. Das Ende der Schlange am anderen Ende der Halle war für den Hereinkommenden nur mit Mühe erkennbar.
Die Arbeitsuchenden standen völlig stumm, schicksalsergeben und mit versteinerter Miene. Ein unangenehm scharfer Geruch von Schweiß und Urin stieg mir in die Nase.
Genau am anderen Ende des Raumes schien eine weitere Tür angebracht, über der auf einer digitalen Tafel Buchstaben oder Nummern blinkten.
„Es sind keine Wartenummern, sondern die Kurzfassungen von Arbeitsangeboten“, erklärte mir Herr Kleinschmidt. Die Stundenarbeitsstellen werden nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ vergeben. Zwischen den Arbeitssuchenden hat sich allerdings eine Art ungeschriebener Ehrenkodex herausgebildet. Das Vorrecht derer, die vorne in der Schlange stehen, wird in der Regel respektiert. Zu Wettrennen oder gar Kämpfen unter Anwendung körperlicher Gewalt kommt es nur in seltenen Fällen. „Hallo, Herr Dr. Weininger“, sagte Kleinschmidt auf einmal zu einem Mann mittleren Alters, den er in der zweithintersten Windung der Schlange ausfindig machte. „Wie stehen die Geschäfte?“
Unter akademischen Proletariern
„Vier oder fünf Tage“, antwortete Dr. Weininger und schien damit die Anzahl der Tage zu meinen, die vergehen mussten, bevor er in der Schlange ganz vorne angekommen war. Und mit einem bitteren Lächeln fügte er hinzu:
„Existenzielle Absurdität des Daseins. Wir warten und warten auf die erlösende Botschaft von oben. Aber es gibt viel zu viele Wartende und viel zu wenige Botschaften. Sollte uns doch einmal der Ruf der oberen Welt erreichen, ist unser Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer, und schon bald werden wir wieder hinuntergeschickt.“
„Dr. Weininger ist einer unserer treuesten Arbeiter, seit zwei Jahren dabei“, erklärte Kleinschmidt. „Aber manchmal redet er wirres Zeug. Hat seinen Doktor in Philosophie, Romanistik und Kommunikationswissenschaft gemacht. Sie setzen ihn immer mal wieder gern halbtageweise bei den Faxmailings ein. Ich weiß nicht, warum er so weit hinten steht, vielleicht ein gruppendynamischer Konflikt.“ Erst jetzt bemerkte ich in dem neonbeleuchteten Halbdunkel einige noch frische Prellungen und Blutergüsse in Dr. Weiningers Gesicht.
Am anderen Ende der Wartezone schien es in diesem Moment einen Aufruhr zu geben. Ich vernahm Stimmengewirr, Schreien, Schimpfen und das dumpfe Aufschlagen eines Körpers auf dem Betonboden. An der Anzeigentafel blinkte etwas auf. Kleinschmidt griff nach einem Fernglas, offenbar um die Szene besser beobachten zu können.
„'2 Mann für eine Müllentsorgungsaktion, Abteilung VII/275' steht auf der Tafel. Schmuddelige Angelegenheit! Meistens müssen sie die benutzten Kaffeefilter aus Bergen von Papiermüll rausklauben. Da ist offenbar einer nervös geworden und wollte sich den Arbeitsauftrag schnappen, obwohl er noch nicht an der Reihe war. Sie sind manchmal wie die Tiere“, schloss Kleinschmidt mit einem verächtlichen Zug um den Mundwinkel und packte das Fernglas wieder in seine Aktentasche. „Kommen Sie mit mir raus auf den Gang. Sie können mir auf dem Rückweg Ihre Fragen stellen. Hier haben wir keine Ruhe.“*
„Sozial ist, was Arbeit schafft“
„Stundenarbeit ist ein attraktives Angebot für Firmen, die aus betriebsbedingten Gründen nicht in der Lage sind, einen Mitarbeiter über mehrere Tage oder gar Wochen einzustellen und sich somit ohne Kenntnis des tatsächlichen Arbeitsanfalls vorzeitig festzulegen“, erklärte mir Herr Kleinschmidt, als sich die Tür wieder hinter uns geschlossen hatte. „Der Stundenarbeiter wird nur angeheuert, wenn er wirklich gebraucht wird und nur so lange er gebraucht wird. Dies können ein paar Tage, aber auch nur Stunden sein. Es ist auch schon vorgekommen, dass jemand zum Kopieren von Unterlagen angefordert wurde und nach nur zehn Minuten wieder zurückgeschickt wurde.“
Kleinschmidt unterbrach sich, wohl weil ich einen bestürzten Ausdruck auf meinem Gesicht nicht ganz hatte unterdrücken können.
„Das mag Ihnen hart vorkommen, aber die Zeit der knappen Kassen ist nun einmal keine Zeit für neue Maximalforderungen. Es ist uns gelungen, die Schwelle für Einstellungen so weit abzusenken, dass es für Firmen wieder zumutbar geworden ist, mit Arbeitnehmern in Berührung zu kommen.“
„Was erwidern Sie, wenn Ihnen Kritiker soziale Kälte vorhalten?“, warf ich vorsichtig ein.
„Was heißt denn sozial?“, gab Kleinschmidt gereizt zurück. „Sozial ist, was Arbeit schafft, und wir von HourRent vermitteln Arbeitsverhältnisse, die auf andere Weise gar nicht erst hätten entstehen können. Es gibt nun einmal Situationen, in denen eine Arbeitskraft nur für einen zeitlich begrenzten Auftrag gebraucht werden. Ein Regal abstauben — eine Stunde; eine Faxaktion — eine halbe Stunde; Kaffee holen — 15 Minuten; einen Mülleimer auslehren — 5 Minuten ... Soll sich die Firma deshalb jedes Mal vertraglich verpflichten, einen Mann wochenlang durchzufüttern?“
Die Arbeiter-Waschanlage
„Und wie funktioniert das ganze System organisatorisch?“
„Wenn an der Oberfläche jemand für einen Stundenjob gebraucht wird, telefoniert der zuständige Abteilungsleiter kurz mit HourRent. Wir rufen das Arbeitsangebot dann im Wartesaal aus, und wem es gelingt, den Job zu ergattern, geht erst mal durch die Umziehkabine und die Stundenarbeiter-Waschanlage. Das ist ein Laufband, auf dem er nackt durch ein System von Wasser- und Seifendüsen und Heißluft-Föhnanlagen geschleust wird. Auf der anderen Seite bekommt er dann die HourRent-Uniform ausgehändigt, den anthrazitfarbenen Anzug mit der grün-gelb gestreiften Krawatte und dem Button mit dem HourRent-Maskottchen — Sie wissen schon, das lächelnde HourRentier mit dem dynamisch nach oben gereckten Daumen. Durch ein System von Laufbändern und Lastenaufzügen, die normalerweise dem Gütertransport auf dem Firmengelände dienen, wird der Stundenarbeiter dann direkt in die betreffende Abteilung transportiert. Er wird dort unverzüglich vom zuständigen Einweiser über seine Aufgabe gebrieft, und wenn er sie ordentlich erledigt hat, kann er auf einem dafür vorgesehenen Formular hinterher seine Minuten aufschreiben.“
„Aber können die von solchen unregelmäßig tröpfelnden Kurzjobs überhaupt leben?“, warf ich ein.
„Natürlich kann ein Arbeitnehmer von einem 10-Minuten-Einsatz nicht leben, aber 100 solche Minieinsätze pro Monat bringen ihn schon in die Nähe der Existenzfähigkeit, und wer schnell und geschickt ist, kann sogar 200 oder mehr Einsätze monatlich akquirieren — wenigstens theoretisch“, ergänzte Kleinschmidt mit einem ironischen Lächeln, „denn die Situation ist durch das stetig anwachsende Heer der Stundenarbeiter natürlich nicht leichter geworden.“
Luisas Spielzimmer
Ich hatte genug erfahren und sehnte mich danach, ans Licht zurückzukehren. Als ich mich zum Gehen wandte, sah ich für einen Augenblick einen Schatten wie von einem kleinen, flinken Tier über meinen Weg gleiten und in eine der Nischen unter den Versorgungsröhren weghuschen. Als sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte ich — zusammengekauert in einer Ecke — ein etwa siebenjähriges Mädchen erkennen, das mich mit großen angstvollen Augen unter ihrem zerzausten halblangen, dunkelbraunen Haar ansah. Sie schien daran gewöhnt zu sein, dass von Fremden nichts Gutes zu erwarten sei.
Noch ehe ich die Kleine ansprechen konnte, stürzte Dr. Weininger an mir vorbei auf sie zu, packte sie grob am Arm und fuhr sie an: „Luisa, ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht über die Gänge laufen. Bleib in deinem Spielzimmer, bis ich dir sage, du sollst rauskommen.“ Luisa verschluckte ihre Tränen, ließ sich wie eine Verhaftete am Arm führen und in einen engen lichtlosen Heizungsraum stoßen. Auf dessen staubbedecktem Boden spielten bereits drei andere Kinder mit Plastikfiguren, die wohl Monster oder Zombies darstellen sollten. Auch diese Kinder zuckten bei meinem Erscheinen merklich zusammen und drückten sich schutzsuchend aneinander.
Unsere kleinsten Arbeitnehmer
„Glauben Sie, dass dies der richtige Aufenthaltsort für ein Kind in diesem Alter ist, Herr Dr. Weininger?“, sagte ich vorwurfsvoll. Dr. Weininger redete nun flehentlich und beinahe demütig auf mich ein: „Bitte schreiben Sie nichts darüber, Herr Journalist! Die Luisa müsste doch in ihrem Alter schon längst in der Schule sein. Aber wir können’s uns halt nicht leisten, dass das Kind nicht mitarbeitet.“ Auf weiteres Befragen erzählte mir Dr. Weiniger, dass die HourRent-Agentur unter der Hand auch Jobs an Kinder vermittelte. Diese konnte man mit knapp der Hälfte des Lohnes abspeisen, den man für einen Erwachsenen aufwenden müsste. Manchmal wären im Tunnelsystem von SoftBizTec Schächte und Nischen zu reinigen, die für erwachsene Körper zu breit wären, und da setze man mit Vorliebe Kinder ein.
„Es ist gut, wenn sich die Kleine rechtzeitig an die Atmosphäre hier gewöhnt“, warf nun Herr Kleinschmidt ein, der hinter mir geblieben war.
„Sie wird in ihrem Leben wohl nicht viel anderes zu sehen bekommen. Selbst wenn sie eine Schule besuchen würde, was die finanzielle Situation von Familie Weiniger ja ohnehin nicht zulässt, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sie in 10 bis 15 Jahren einen traditionellen Zeitarbeitsvertrag oder gar einen Festanstellungsvertrag bekommt, denkbar gering. Wenn es schon für ihren Vater kaum eine Chance gibt, sein Leben anderswo als in diesen Tunneln zu beschließen, um wie viel unwahrscheinlicher ist dies dann für die nachfolgende Generation, die mit ungleich engeren finanziellen Rahmenbedingungen und einer weit ungünstigeren Arbeitsmarktsituation wird fertig werden müssen.“
„Wer soll das bezahlen?“
Kleinschmidt erklärte mir, dass die meisten Familien hier in den Tunneln mittlerweile hoch verschuldet seien, da das Geld, das die Stundenarbeit abwarf, bei Weitem nicht genüge, um die explodierenden Mietpreise und die anderen steigenden Lebenshaltungskosten zu decken. „In guten Zeiten können Vater, Mutter und Tochter Weiniger knapp die Hälfte ihrer laufenden Kosten decken, der Rest wird über Kredite finanziert, deren Rückzahlung natürlich eine zusätzliche beträchtliche finanzielle Belastung darstellt.“
Kleinschmidt erklärte mir, dass die mit SoftBizTec organisatorisch eng verknüpfte SoftBizBank in den Tunneln eine kleine provisorische Filiale für Sofortkredite eröffnet habe, die den notleidenden Stundenarbeitern mit Kleinkrediten zu maßvollen Zinssätzen über die Runden half.
„Mehr als 800.000 Euro Schulden bei der Bank!“, ergänzte Dr. Weininger, offenbar weil er hoffte, diese für ihn selbst beschämende Enthüllung seiner finanziellen Misere würde mich davon abhalten, ihn wegen Begünstigung illegaler Kinderarbeit bei den Behörden anzuzeigen.
„800.000 Euro!“, rief ich entsetzt, „aber wer um Himmels willen soll das jemals zurückzahlen?“
Die verpfändeten Kinder
„Sie!“, sagte Dr. Weininger mit einem Ausdruck müder Resignation und deutete auf Luisa, deren kleiner gekrümmter Körper unter dem Fingerzeig ihres Vaters unwillkürlich zusammenzuckte. Sie drückte dabei schutzsuchend einen verstaubten und abgewetzten Teddybären noch fester an sich.
„Ja, aber sie kann doch nichts dafür!“, sagte ich mit einem Anflug von Mitgefühl und sah zu Luisa hinüber.
„Na und, ich etwa?“, brummte Dr. Weininger unwillig und kurz angebunden, so als sei ihm das Thema unangenehm.
„Ihr Leben ist praktisch zur Gänze für den Schuldenabbau verpfändet“, fügte Herr Kleinschmidt eifrig hinzu.
„Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, dass darin der eigentliche Zweck ihrer Existenz liegt: Sie wurde geboren, um ihren eigenen Zahlungsverpflichtungen und denen ihrer Eltern und Großeltern nachzukommen, ohne auch nur die geringste Aussicht zu haben, jemals die volle Schuldenfreiheit zu erreichen — vergleichbar vielleicht der Existenz von Schweinen, die von Geburt an einzig und allein dem Zweck dienen, für andere Wesen Nahrung zu sein.“
„Hol mich hier raus!“
Als ich mich zum Gehen wandte, lief Luisa zu meiner Überraschung auf mich zu und packte meinen rechten Arm, wie jemand ein Seil umklammern würde, das ihn vor dem Sturz in den Abgrund zu retten verspricht. Es war, als ob sie mich bitten wollte: „Geh nicht fort!“ Für einen flüchtigen Moment strich meine Linke unwillkürlich über ihren zerzausten Haarschopf und drückte ihr Köpfchen mit einer beschützenden Geste sanft an mich.
„Luisa, kommst du her!“ kommandierte Weininger gereizt und riss das widerstrebende Mädchen von mir weg.
Für einen Augenblick hatte ich den Impuls, sie einfach auf den Arm zu nehmen und zu entführen — hinauf in die Lichtwelt. Aber abgesehen davon, dass dies illegale Kindesentführung gewesen wäre — was hätte ich ihr mit meinem 30-qm-Appartement, das wegen Mietrückständen schon von Wohnungsräumung bedroht war, und meinen spärlich tröpfelnden Journalisten-Honoraren schon bieten können? Und wie viel Licht war „oben“ wirklich noch? Hatte ich mich nicht — wie viele meiner Generation — längst sterilisieren lassen, weil ich genau wusste, dass ich nie einem Kind ein Heim und Geborgenheit würde bieten können? Ich sträubte mich dagegen, der Schuld noch ein weiteres Kind zu schenken. Und doch machte jeder, der wie ich die Unfruchtbarkeit wählte, die Last für diejenigen, die das Unglück hatten, schon geboren zu sein, noch größer.
Die Schuld, der grausame Gott
Als Journalist ist es meine Aufgabe, die Wirklichkeit sachlich oder ironisch zu kommentieren, nicht sie zu verändern. Ich musste Luisa verlassen, sie verraten, so wie sie von allen verraten worden war, denen sie jemals versucht hatte, zu vertrauen.
Es kam mir vor, als opferten wir unsere Kinder — wie Abraham seinen Sohn Isaak — bereitwillig auf Befehl dieses grausamen Gottes, der Schuld, und kein rettender Engel hielte im letzten Moment unseren Arm mit dem Dolch zurück.
„Verzeih mir!“, sagte ich in meinen Gedanken zu Luisa, als ich mich mit einem letzten Blick in ihre traurigen, hungrigen Augen von ihr abwandte. Aber warum in aller Welt sollte sie mir eigentlich verzeihen? Wenn die Kinder der Dunkelheit je aus den Tunneln zu uns heraufsteigen sollten, um ihr Recht auf Leben von uns einzufordern — womit, frage ich, hätten wir denn verdient, dass sie uns verzeihen?

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