Die Gesellschaft befindet sich auf dem Weg in die Egomanie, zu dieser Einschätzung kommt zumindest Heike Leitschuh in ihrem neuen, im Westend Verlag erschienenen Buch „Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Egotrip.“
Sie stützt diese These mit Beobachtungen menschlichen Verhaltens in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Raums. Sei es in der Bahn, in der Menschen den Schaffner nicht einmal mehr freundlich grüßen oder auf ihrem Handy laut Musik abspielen, sei es im Krankenhaus, dessen Notfallambulanz zunehmend Menschen mit unbedeutenden Beschwerden überbeanspruchen, oder sei es im Straßenverkehr, in dem Autofahrer sich nicht nur rücksichtslos verhalten, sondern bei einem Unfall auch gerne einmal aussteigen, um Fotos und Videos von den Opfern machen zu können, die sie dann später ins Netz stellen. Dabei bedrängen sie nicht selten die professionellen Helfer und behindern sie in ihrer Arbeit, greifen sie sogar tätlich an, wenn diese sie beiseiteschieben wollen.
Überall scheint die Einstellung vorzuherrschen, alle anderen müssten sich den eigenen Bedürfnissen unterordnen. Verstärkt wird dieser Effekt durch die sozialen Medien, in denen die Selbstdarstellung zu einer Kunst erhoben wird. Hier tritt der Egoist im Menschen erst richtig zutage, kreiert eine Blase, die sich einzig um die eigene Person dreht, und blendet dabei die Bedürfnisse anderer Menschen vollkommen aus. Hier präsentiert sich jeder so, wie er gerne wäre, anstatt sich zu zeigen wie er ist. Der Umgang mit Fehlern und Schwächen, eigener sowie anderer, wird so verlernt. Das Netz, so Heike Leitschuh überspitzt, macht einsam und asozial.
Den Trend zur Selbstdarstellung unterstützen auch die Medien, die in einschlägigen Sendungen wie „Germanys Next Topmodel“ Menschen eine Bühne geben, die versuchen, aus ihrer Selbstdarstellung Kapital zu schlagen. Dabei beweist stets mindestens einen Gewinner, dass es möglich ist, auf diese Weise sein Ziel zu erreichen.
Als Ursache für den zunehmenden Egoismus macht Heike Leitschuh die neoliberale Ideologie aus. Diese betreibt unter dem Mantra der Selbstoptimierung und der Eigenverantwortung seit 30 Jahren einen schonungslosen Abbau sozialer Sicherungen, wirft dabei die Menschen auf ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte zurück und schwächt gleichzeitig jede Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine rein wirtschaftliche Ideologie frisst sich auf diese Weise tief in die Menschen hinein.
Denn wenn die Menschen zunehmend sich selbst überlassen werden – von ständiger Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bedroht – um ihre Existenz kämpfen müssen, dann nehmen ihre Kapazitäten ab, zusätzlich noch Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen. In einer neoliberalen Gesellschaft ist jeder sich selbst der Nächste. Dies führt zu einer Vereinzelung, in der die Menschen verlernen, miteinander umzugehen, da sie sich ausschließlich mit ihrem eigenen Leben befassen. Solchermaßen gehetzt und ständig unter Zeitdruck werden die Menschen unachtsam gegenüber ihrer Umwelt und verlernen ihre Empathie.
Der neoliberale Kapitalismus ist zudem der Profiteur der Fokussierung auf das Ich. Er benötigt den Egoismus, denn nur so folgen die Menschen zuverlässig den schnell wechselnden Moden. Dazu redet er ihnen ein, dass ihnen immer etwas zum Glück fehle, und bietet dieses Etwas in Form neuer Kleidung oder eines neuen Smartphones als Identifikationsmerkmal an.
Doch Heike Leitschuh unterteilt nicht so einfach in schwarz und weiß. Sie stellt nicht die hemmungslos egoistischen Arschlöcher auf die eine und die guten, edelmütigen Samariter auf die andere Seite. Vielmehr geht der Riss durch jeden Einzelnen von uns, und so zeigt sich jeder einmal von seiner egoistischen, ein anderes Mal von seiner altruistischen Seite. Tatsächlich sieht sie jedoch, dass die Tendenz zum Egoismus zunimmt.
Schlechte Vorbilder
Eine Ursache dafür liegt auch in den schlechten Vorbildern in Sport, Politik und Wirtschaft. Sei es der Fußballer, der sich bei jedem Tor, das er erzielt, selbst inszeniert, so als habe er es ganz alleine und nicht mithilfe seiner Mannschaft geschossen und dafür Millionengehälter kassiert, der Manager, der hohe Boni bekommt, obwohl er viele Angestellte entlassen hat, oder der Politiker, der nach seiner Zeit als Minister in den Aufsichtsrat eines Unternehmens wechselt.
Sie alle scheinen nur ein Motto zu verfolgen, und dies auch nach außen zu kommunizieren: Nur wer sich um sich selbst kümmert, der kann es zu etwas bringen. Wie diese Menschen sich ihren Status und ihren Wohlstand erfolgreich sichern, verwundert es dann auch kaum, dass ein großer Teil der Gesellschaft versucht, es diesen „Vorbildern“ gleich zu tun, und nur auf sich selbst schaut, anstatt sich um seine Mitmenschen zu kümmern.
Diese Tendenz wird durch die neoliberale Ideologie der letzten Jahrzehnte verstärkt. Diese verändert auch die Wahrnehmung der Menschen von der Welt. Sie tendieren dazu, alles durch die Brille einer Kosten-Nutzen-Gleichung zu betrachten, und ihr Handeln danach auszurichten, was weniger Kosten erfordert, aber ihnen einen größeren Nutzen bringt. Mitmenschlichkeit und Höflichkeit bringen dabei keinerlei Nutzen und sind daher auch keine Kosten und keine Mühen wert.
Auch Politiker, die keine Visionen mehr haben, macht die Autorin für den Trend zum Egoismus verantwortlich. Denn auf diese Weise gelingt es den Politikern nicht, den gesellschaftlichen Zusammenhalt über eine gemeinsame Vision herzustellen, die den Einzelnen über den Tellerrand seines eigenen Lebens blicken lässt. Tatsächlich attestiert der von ihr zitierte Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz der Gesellschaft einen Mangel an Orientierung sowie Moral. Ursache sei das rücksichtslose Profitstreben des Kapitalismus.
Traumatisierte Kinder
Eine Gefahr sieht die Autorin auch im Verhalten von Eltern. Sie attestiert ihnen ein zunehmendes Anspruchsdenken, sie sähen Lehrer und Erzieher oftmals als Feinde, die ihre Selbstbestätigung gefährden. Viele Eltern holen sich ihre Selbstbestätigung über die Leistungen ihrer Kinder. Diese sollen Abitur machen, mehrere Fremdsprachen sprechen und verschiedene Musikinstrumente spielen können. Erhalten die Kinder schlechte Noten oder eine Rüge vom Lehrer, so beschädige dies auch das Ego der Eltern.
Doch die Anspruchshaltung – auch gegenüber ihren Kindern – ist Ausdruck des Wunsches, den eigenen Kindern im Neoliberalismus optimale Startbedingungen zu verschaffen. Gleichzeitig moniert die Autorin, dass viele Eltern sich zunehmend nicht mehr für ihre Kinder interessieren. Das könne entweder daran liegen, weil sie selbst mit ihrem Leben vollkommen überfordert sind, oder ihre To-do-Listen im Wege der Selbstoptimierung so überfüllt sind, dass für ihre Kinder keine Zeit mehr bleibt.
Das führt bei den Kindern zu Verwahrlosung und einer Vielzahl von Traumen, welche diese mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung kompensieren. Auf diese Weise ist der Egoismus der nächsten Generation schon programmiert.
Es liegt an uns
Doch die Autorin bleibt, wenn auch verhalten, optimistisch. Gerade in der jungen Generation, der sogenannten Generation Y, sieht sie viele Menschen, die sich engagieren, weil sie sich nicht mehr mit den Gegebenheiten abfinden mögen. Es sind gerade die jungen Menschen, die alternative Lebensentwürfe und Formen des Zusammenlebens ausprobieren und die weniger an materiellen Dingen interessiert sind. Noch, so sagt sie, sind es zu wenige, um einen wirklichen Wandel im Bewusstsein der Menschen herbeizuführen. Doch sie unterstreicht auch, dass Veränderungen immer von Minderheiten gestaltet werden.
Zudem stellt sie fest, dass es letztlich uns überlassen bleibt, ob wir die Welt den Egoisten überlassen. Es sei notwendig, diesen entschlossen eine alternative Lebensweise entgegenzusetzen, und sie damit zu mehr Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sowie zu Empathie und Mitmenschlichkeit zu inspirieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die richtige Kindererziehung.
Auf diese Weise soll die Zivilgesellschaft Signale an die Politik senden, damit diese einen Kurs in Richtung Gemeinschaft, Empathie und Mitmenschlichkeit einschlägt. Doch die Autorin sieht auch die Notwendigkeit einer tief greifenden, gesellschaftlichen Veränderung.
So ist es gerade der ausufernde Kapitalismus, der den Egoismus benötigt und stärkt. Zugleich zerstört er unsere gesamte Lebensgrundlage, und so kann die Lösung nur lauten, dass wir uns nicht nur einfach beschränken, sondern eine ganze andere Art des Zusammenlebens und Wirtschaftens finden. Es ist notwendig, eine Gesellschaft zu errichten, die nicht den maximalen Profit in den Vordergrund stellt, sondern das Miteinander sowie die Nachhaltigkeit. Diese Neuausrichtung ist jedoch in den Menschen angelegt und daher nicht unmöglich. Denn eigentlich sind die Menschen von Natur aus kooperativ, sonst wäre sie schon lange ausgestorben. Das menschliche Gehirn ist auf Kooperation und Zusammenhalt ausgerichtet. Doch die moderne Gesellschaft hält viele Menschen davon ab, dieses Potenzial auszuleben.
Das Buch von Heike Leitschuh ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist geprägt von ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, angereichert mit denen anderer Menschen, untermauert von Zahlen und Fakten. Was als die Schwäche dieses Buches erscheint, kann jedoch zugleich seine Stärke sein. Denn anhand ihrer anschaulichen Schilderungen von Alltagssituationen, die vermutlich jeder so ähnlich schon erlebt hat, verdeutlicht sie ihre These und verbindet ihre Beispiele miteinander, indem sie die Vorfälle auf eine gemeinsame Ursache zurückführt.
Leider verliert die Autorin sich an einigen Stellen in Details, bei denen die Frage aufkommt, ob sie überhaupt noch etwas mit dem eigentlichen Thema Egoismus zu tun haben. So macht sie diesen auch für die zunehmende Gewalt – in öffentlichen Ämtern, in Krankenhäusern oder im Sport – verantwortlich. Bei genauerer Betrachtung der Gewalt gegen Schiedsrichter im Fußball ist die Zahl der Fälle marginal. Ob hierin nicht eher die zunehmende strukturelle Gewalt des Neoliberalismus ihren Ausdruck findet, danach fragt sie nicht.
Weiterhin neigt sie dazu, teilweise ganze Passagen mehrfach zu wiederholen, ohne sie jedoch in einen neuen Kontext zu stellen. Einen Erkenntnisgewinn hat der Leser dabei nicht.
Sehr auf politische Korrektheit bedacht verwendet sie außerdem abwechselnd die maskuline und die feminine Form. Dies macht das Lesen nicht nur anstrengend, es führt an einigen Stellen auch zu einiger Verwirrung und erschwert das Verständnis. So entsteht alles in Allem der Eindruck, die Autorin habe ihr Werk zu wenig durchdacht.
Trotz aller Kritik kann man jedoch festhalten, dass Heike Leitschuh ein guter Überblick über die zahlreichen Facetten des zunehmenden Egoismus in der Gesellschaft gelungen ist. Damit macht sie auf die Folgen aufmerksam, die der Neoliberalismus auf jeden Einzelnen von uns hat und die Gefahr, welche sich daraus für das gesellschaftliche Zusammenleben ergibt. Ihre Schlussfolgerung: Ein gesellschaftlicher Wandel ist dringend notwendig, allein schon um des gesellschaftlichen Klimas Willen.
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