Kerstin Chavent: Liebe Lydia Petrovsky, bei Ihnen wird für das Leben gelernt. So gibt es an der Freien Schule Rheinklang beispielsweise das Unterrichtsfach „Glück“. Was versuchen Sie, den jungen Menschen zu vermitteln?
Das tiefe, wahre, weit tragende Glück(sgefühl) oder anders ausgedrückt, das seelische Wohlbefinden, entsteht nicht durch die äußeren und materiellen Umstände, sondern es kommt von innen und bedarf eines immer wieder neuen, ehrlichen, wahrhaftigen und mutigen „Ja“ im Umgang mit sich selber, seinen Mitmenschen, seiner Umwelt und den Bedingungen, die wir uns größtenteils selber ausgesucht und geschaffen haben. Daran können wir wachsen, uns entwickeln und zu einem friedlichen, zufriedenen und glücklichen Leben beitragen. Und so gehen wir in jede Unterrichtsstunde „Glück“ offen und neugierig ins Gespräch mit den Schülern und Schülerinnen.
Wie verbinden Sie individuelles, selbstbestimmtes Lernen und das Voranschreiten als Gruppe?
Durch den täglichen gemeinsamen Morgen-und Abschlusskreis der gesamten Schule sind die Schüler und Schülerinnen im Kontakt. Ohnehin ist durch die Kleinheit der Schule und der jeweiligen altersübergreifenden Schulgruppen — Unterstufe, Mittelstufe, Oberstufe — eine familiäre Atmosphäre, die die sozial-emotionale Grundlage bildet. Irgendwie fühlt sich jeder für den anderen mitverantwortlich, hilft, unterstützt, baut, fängt auf und ist automatisch ein Teil des Ganzen. In gemeinsamen, regelmäßigen Schüler-Lehrer-Konferenzen finden demokratische Prozesse und ein inspirativer Austausch zwischen Schülern und dem Team der Schule statt.
Sie integrieren auch junge Menschen mit schwierigem Hintergrund. Eltern, die das Schulgeld nicht bezahlen können, werden von Ihnen unterstützt. Wie finanzieren Sie dieses Engagement?
Die Schule ist zum Teil finanziert über staatliche Zuschüsse und durch Elterngelder. Wegen fehlender Finanzen wird kein Kind abgelehnt. Es bedarf eines guten finanziellen Managements — und hin und wieder auch eines kleinen Opfers. Ich arbeite als Vorstand und Geschäftsführerin ehrenamtlich und zahle mir kein Gehalt, weil ich es wichtiger finde, die Lehrkräfte gut zu bezahlen und alle nötigen Kosten ohne Probleme finanzieren zu können. Es ist meine Passion! Wenn die finanzielle Situation es irgendwann mal erlaubt, wird meine Arbeit auch finanziell entlohnt. Ich gehe natürlich noch einer anderen, bezahlten Arbeit nach.
Die eigentliche, aus meiner Sicht viel wertvollere Entlohnung ist die Metamorphose, die ich oft erleben darf: ein verstörtes, ängstliches Kind kommt zu uns und entwickelt sich zu einem selbstbewussten, reflektierten und starken Menschen, der sich wieder etwas (zu)traut.
Ein Beispiel, eine wahre Geschichte — diese Energie müssen sie mal erlebt haben: Ein Kind hat Schlimmstes erlebt, kommt gebrochen zu uns — wir, unser Team und auch die anderen Schüler — diese wunderbare Verbindung — arbeiten mit ihm. Und zwei Jahre später steht genau dieses Kind beim Tag der offenen Tür vor vielen Gästen und singt mehrere Lieder so stark und selbstbewusst, dass es mir auch jetzt noch, nach einiger Zeit, die Tränen in die Augen treibt! Und das ist eben mit Geld nicht zu kompensieren. Das gibt unserem Team immer wieder die Kraft, weiterzumachen.
Für ein solches Projekt braucht man Platz. An welche Grenzen stoßen Sie?
An räumliche Grenzen! Leider ist in der Geschichte der Schule eine gewisse Raumturbulenz zu sehen. Bislang konnten wir immer nur Räume mieten. Wir waren nicht in der Lage, ein eigenes Schulgebäude käuflich zu erwerben, waren also auf Mietverträge angewiesen. Immer wieder musste die Schule umziehen, ob aus Gründen des Eigenbedarfs oder weil der Platz über die Entwicklung hin nicht ausreichte. Die Stadt Radolfzell unterstützte uns seit mehreren Jahren in dem Bereich und stellte uns Räume zur Miete zur Verfügung.
Nun sind wir wieder an dem Punkt angekommen, wo der vorhandene Platz nicht reicht, da eine solch große Nachfrage vorhanden ist. Ohnehin war auch der jetzige Platz nicht ausreichend, so mussten wir externe Räume mieten. Die sind zwar fußläufig in circa zwei Minuten zu erreichen und auch sehr schön, aber es bringt immer wieder eine gewisse Unruhe mit sich. Wir haben keinen Platz für Fachräume wie Labor, Bibliothek und so weiter. Und diese Unruhe brauchen gerade unsere Kinder nicht. Wir brauchen einen Raum, einen Ort der Freude, des Wohlfühlens und des Glücks, lernen zu dürfen. Die derzeitige Immobiliensituation ist prekär! Wir brauchen hier Unterstützer!
Am 31. März 2020 organisiert der Kindheitsforscher Michael Hüter in Radolfzell einen Workshop mit anschließendem Vortrag und Podiumsdiskussion unter dem Titel: „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“. Sein Buch „Kindheit 6.7: Ein Manifest“, das von dem Hirnforscher Gerald Hüther sehr gelobt wird, zeigt Möglichkeiten für die Veränderungen auf, die wir in unserem Schulwesen dringend brauchen. Was liegt Ihnen bei dem Übergang von einem alten zu einem neuen System besonders am Herzen?
Ein Übergang zu einem neuen System ist dringend erforderlich, und zwar ganz zeitnah! Die Frage ist, ob es insgesamt gewünscht ist. Was Kinder aus meiner Sicht brauchen, ist mehr Flexibilität, Kreativität, Offenheit, Individualität, Bewegung im Stundenplan.
Es ist doch paradox, dass ein Bildungsplan für alle Kinder gelten soll. Jedes Kind ist anders, hat unterschiedliche Bedürfnisse — hier wäre Flexibilität für die Schulen angebracht.
Das Ziel sollte von allen sein, dass es Lehrkräften gelingt, die Kinder für das Lernen zu begeistern, Neugierde zu schaffen und eine Identifikation mit ihrer Schule, mit ihrem Lernstoff zu schaffen. Zuerst aber müssen die Lehrkräfte begeistert von ihrem Job sein …
Wofür möchten Sie die Rubikon-Leser sensibilisieren und inspirieren?
Das sie ihren Kindern die Zeit geben, die sie eben brauchen. Ohne Leistungsdruck. Dass sie Vertrauen in ihre Kinder haben und sich vom gesellschaftlichen Druck nicht irritieren lassen. Sie mögen ihre Kinder mit ihren eigenen Kinderaugen beobachten und ihnen geben, was sie selbst gerne gehabt hätten oder tatsächlich auch hatten: Freiraum, Liebe und Vertrauen in sich! Für dieses Projekt suchen wir Investoren, Sponsoren und Unterstützer, die ein neues kindgerechtes und nachhaltiges Schulgebäude mit ermöglichen.
Danke, liebe Lydia Petrovsky. Wir wünschen Ihnen, dass sich möglichst viele Menschen für Ihr Projekt interessieren und Ihr Engagement unterstützen.
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Quellen und Anmerkungen:
Weitere Informationen über die Freie Schule Rheinklang sowie den Workshop und Vortrag mit Michael Hüter „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ finden Sie hier.
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