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Die Flower-Power-Revolution

Die Flower-Power-Revolution

Vor knapp 60 Jahren feierten Hippies ihren „Summer of Love“, der auch eine Revolte gegen Krieg und Konsumismus war — leider ist von diesem „Spirit“ heute nicht mehr viel übrig.

San Francisco im August 1965. Die ersten Vertreter der Love-Generation finden sich aus allen Teilen Nordamerikas ein und begründen den ewigen Sommer des Lebens. In kürzester Zeit explodiert ein Mix aus Musik und Protest, Poesie und Rausch, Farbe und Fantasie. Junge Frauen und Männer schmücken sich mit Pfauenfedern, Stirnbändern, goldgelben Batiktüchern, befransten Wildlederminis und indischen Umhängen. Sie riechen nach Weihrauch, Patchouli und Kiff, manche trommeln auf Bongos ein, andere tanzen in furchterregender Ekstase.

Unmengen von Einberufungsbefehlen werden in Lagerfeuern verbrannt, derweil Beat-Poet Allen Ginsberg in seinem Pyjama LSD-selig schräge Buddha-Mantras zum Besten gibt. Er erfand nebenbei den Begriff „Flower Power“, welcher von Scott McKenzie umgehend zur Hymne der Bewegung wurde: „Be sure to wear some flowers in your hair“. Zwei Dekaden später machten die deutschen Grünen eine leuchtende Sonnenblume zu ihrem Logo und sollten im weiteren Verlauf dafür sorgen, dass diese in ihr ukrainisches Kernland zurückkehrt.

Die sogenannten Diggers verteilten kostenlos Suppen, Orwell- und Hesse-Bücher sowie halluzinogene Truthahnsandwiches. Timothy Leary veranstaltete rund um die Uhr seine legendären Pressekonferenzen und rief dabei eine spirituelle Revolution aus, „Tune in, drop out“, und so fort. Sandalenträger und andere Missionare prophezeiten ein goldenes „Aquarius & Let The Sunshine In“-Zeitalter, die Hells Angels verteilten Betelnüsse an überforderte Polizisten, und an jeder Ecke gab es Lesungen, Straßentheater, Happenings.

Warum ereignete sich nun ausgerechnet an der Westküste Amerikas ab 1965 dieses Beben, dessen Wellen mit zunehmender Wucht nach und nach auf Europas Metropolen zurasten? Eine Rolle dabei spielte das 1962 in Big Sur — etwa 50 Kilometer südlich von San Francisco gelegen — gegründete Eselen-Institut, eine Kult- und Kraftstätte mit heißen Schwefelthermen in brachialer Küstenlandschaft. Dieses ambitionierte New-Age-Zentrum widmete sich der Erforschung des menschlichen Potenzials, jedweder Ich- und Gotteserfahrung, bot eine bemerkenswerte Therapievielfalt, Workshops, Yoga, Zen, tantrischen Eros, Urschrei, und bediente vorzüglich den typisch kalifornisch-egozentrischen „Free your mind“-Kult.

Und auch die am apokalyptischen Andreasgraben angesiedelten Beatniks muss man zu den Vätern des „Summer of Love“ zählen. Man denke nur an Jack Kerouacs „On the road“, an all die hedonistischen Kreuz-und-quer-Experimente zwischen ihm, Ginsberg oder Burroughs, den rabiaten Konsum von Drogen aller Art und das manifeste Sympathiebekenntnis zu Schwarzen, Outlaws und sonstigen Randgruppen.

Dieses Amerika war geprägt von einem Defizit an Abenteuer und seelischer Tiefe. Man hatte zwei Kriege gewonnen, gab sich stolz, eitel, reich und kaufte Produkte, deren plumpe Bewerbung man sich rund um die Uhr in den Fernsehapparaten betrachten konnte.

Niemand drückte den Frust angesichts von Leere, Langeweile und Lähmung besser aus als James Dean. Das kann doch nicht alles sein — sagte seine Miene, es muss doch irgendwo noch etwas geben, wofür sich das Leben lohnt. Autos, Straßen, Züge, Bahnhöfe und Kreuzungen wurden für die Jugendlichen zu rettenden Metaphern auf der Suche nach Sinn und Erlösung. Zum noch eher leisen Drama gesellte sich im März 1965 der amerikanisch-vietnamesische Alptraum.

Die neue Generation inszenierte sich als das exakte Gegenteil des militärischen Monsters, und während der Folgejahre bildeten sich ihre Ideale heraus: Pazifismus, Kommune, Selbstverwaltung, Solidarität, Konsumverzicht, Naturschutz, abgerundet durch John Lennons „All You Need Is Love“-Ballade, welche im Juni 1967 von der BBC für eine halbe Milliarde Menschen in 31 Länder ausgestrahlt wurde. Ringo Starr meinte später:

„Es war eine fabelhafte Zeit: Frieden und Liebe, Menschen, die Blumen in Waffen stecken.“

In Kalifornien kündigte Abbie Hoffman, Ober-Hippie der ersten Stunde, im Frühjahr 1967 ein Freikonzert mit unter anderem Jefferson Airplane, Janis Joplin und den Grateful Dead an. Anfang April hatten sich bereits gut 150.000 Blumenkinder zwischen Haight-Ashbury und der Bay Area sesshaft gemacht. Am 4. April 1967 flog Paul McCartney mit Frank Sinatras Lear-Jet ein, um sich ein Bild von der Flower-Power-Revolution zu machen. Er hatte ein paar Songs der noch geheimen „Sergeant Pepper“-LP im Gepäck, die Wochen später zur Hymne der Bewegung werden sollte.

Kurz darauf tauchte George Harrison auf, dessen Inspektion zum Horrortrip wurde. Fassungslos rettete er sich vor einer Masse pickliger Teenager und aufdringlicher, nickelbebrillter Drogendealer zurück zum Flieger nach London. Sein Resümee: „It’s all too much.“ Die lokale Polizei hatte noch keine gesetzliche Handhabe gefunden, um gegen diese Freak-Armee vorzugehen. Bei einer der ersten Razzien ging ihr ausgerechnet der russische Ballettstar Rudolf Nurejew ins Netz, was sich mitten im Kalten Krieg als kein guter Fang erwies.

Vom 16. bis 18. Juni 1967 fand im nahen Monterey das erste Rockfestival der Weltgeschichte statt — mit 32 Superbands und vor 250.000 Zuschauern. Es war grandios organisiert, kostenlos, blieb ohne nennenswerte Negativvorfälle, wurde auf allen Ebenen der Inbegriff des Zeitgeists und endete mit dem furiosen Auftritt von Jimi Hendrix, der bei „Wild Thing“ plötzlich seine Fender-Gitarre anzündete und sie dann wie vom Teufel besessen an den Boxen zu Kleinholz schlug. Für Menschen, die beide Freikonzerte aufgesucht hatten, war der Woodstock-Event 1969 eher ein müder Abklatsch.

Wenige Tage später veranstaltete Ed Sanders, der intellektuelle Pate dieser Jahre, die „Erste Jahreshauptversammlung verrückter Songschreiber“. Im Peace Eye Bookstore wurden 15 Poesietalente vorstellig und es kam dabei — gerade weil die Kandidaten den Dichterwettbewerb viel zu ernst nahmen — zu unfassbar komischen Auftritten und hysterischem Anarcho-Unsinn. Sanders bezeichnete jenen Abend als die Geburtsstunde der avantgardistischen Performance-Dichtkunst des 20. Jahrhunderts.

Dann aber ging es Schlag auf Schlag. Am 16. September 1967 gab die Polizei von San Francisco bekannt, dass die Invasion der Freaks vorbei sei, und begann mit den Aufräumarbeiten. Am 6. Oktober besiegelte die Fraktion um Allen Ginsberg das Ende des Love-&-Peace-Traums. Vor den Kameras der TV-Sender trug man einen Holzsarg mit der Aufschrift „Summer of Love“ durch die Straßen, sang Hare-Krishna-Verse und ein mehrdeutiges „God Bless America“, zündete dann die Holzkiste an und verkündete:

„Der Spaß ist vorbei, der Hip ist zu Ende, die Hippies sind tot, die Zeit des freien Menschen ist gekommen!“

In atemberaubender Geschwindigkeit wandelte sich Flower-Power zum Blumenbeet des Bösen. Überall Speed, Kokain, Heroin, bewaffnete Dealer, FBI-Spitzel, CIA-Operationen, Razzien, Suizide, Morde. Angetrieben von einer uferlosen „High and Higher“-Dynamik begann die Revolution ihre Kinder aufzufressen.

Das Orange der Rainbow-Family verschmolz mit dem der Napalm-Orgien im fernen Südostasien. Jim Morrison schilderte das Scheitern ziemlich drastisch in seinen Songs „When The Music‘s Over“ und „The End“. Bevor der Rest der Welt überhaupt mitbekam, was Sache ist, war sie bereits im Kern geschmolzen. Über dem winterlichen San Francisco zu Beginn des Jahres 1968 lag ein Klagetuch und jemand sang leise: „Where Have All The Flowers Gone?“

Noch über viele Jahre hinweg erschienen Zehntausende von LPs, deren musikalische Qualität und Originalität bis heute unerreicht bleibt. Von heute aus betrachtet, erscheint diese Ära wie Gottes Füllhorn. Nicht umsonst werden diese Scheiben ständig neu gemischt und in edlen Kollektionen vermarktet. Insofern die Bandmitglieder die Exzesse überlebt haben, touren sie heute wieder quer durch die Welt. Man braucht nur im Sommer 2024 eine Konzertvorschau ansehen: Stones, Dylan, Clapton, Young, Winwood, McCartney, Van Morrison.

Denken wir auch an die Plattencover, diesen psychedelischen Irrsinn, mit ein bisschen Beardsley und Dalí angereichert, mysteriöse Traumbilder und kosmischer Spuk, oft versehen mit opulenten Booklets. Von hier aus ging es über Konzertplakate und Siebdrucke zur Posterkunst: Pop-Ikone Che Guevara in rotbesternter Baskenmütze oder Frank Zappa, nackt und grinsend auf der Kloschüssel. In seiner New Yorker „Factory“ produzierte Andy Warhol serienweise Tomatensuppendosen, Marilyn-Porträts und später die Leck-mich-Zunge der Stones. In den Galerien Manhattans wirbelten provokant-profane Pop-Art-Comics von Robert Rauschenberg den Kunstmarkt durcheinander.

Der Summer of Love schuf einen völlig neuen Kunstbegriff. Alles war direkt, schrill, frisch, und dieser demokratische Befreiungsakt schuf das Credo: Alles ist Kunst, jeder ist Künstler, Kunstkritik ist abgeschafft.

Joseph Beuys trieb diese Dekonstruktion mit akademischer Selbstironie auf die Spitze, und in Österreich sorgten die dionysischen Orgien von Otto Muehl und Hermann Nitsch für reichlich Protest von Staat und Kirche. Genau jener erweiterte Kunstbegriff war die Seele der Gegenkultur — ob Musik, Malerei, Film, Literatur, Theater, Werbung oder Mode. In diesem Sinne ging es auch in der restlichen Gesellschaft für einige Zeit relativ heiter zu, unberechenbar, wild, surreal und mutig.

Doch mit jedem Jahr drehten sich die Winde weiter. Musikkonzerne ließen die Bands nach ihrer Pfeife tanzen, der Mainstream bediente sich an den kreativen Ergüssen, Agenten nahmen Dichter und Studiobosse die Regisseure an die immer kürzere Leine, und nach und gerann der große Strom zu ein paar mickrigen Pissrinnen.

Ob sich Bob Dylan über das Steve Jobs-Zitat gefreut hat, ist eher fraglich. Der angehende IT-Revolutionär sagte nämlich:

„Allein wie Dylan Worte aneinanderfügte, so eine tiefe Bedeutung in so wenigen Worten, das ist genauso, wie einen sehr guten Computer mit ganz wenigen Teilen zu konstruieren.“

Ganz am Anfang des Digitalumsturzes mochte man den sogenannten Garagenbastlern noch über den Weg trauen. Gerade Apple nutzte für seine „Think Different“-Kampagne typische Hippie-Ikonen wie Lennon, Ghandi und Dalai Lama. Auch Google, Yahoo oder Lykos gaben sich locker und lässig, fast ein wenig infantil, und verkündeten ein demokratisches und preiswertes Internet mit globalem 24-Stunden-Zugang für jedermann — ohne Hierarchie, Zensur und Ausgrenzung und mit freier Rede, datengeschützten Non-Profit-Suchmaschinen und astreiner Ethik. Zur Bekräftigung promotete man Hybridautos, Biosupermärkte und die hauseigene Work-&-Life-Balance-Kultur und kämpfte mit Greenpeace gegen Tropenholzmafia, Walfang, Atomkraft und Erdölindustrie. Doch bald erschien hinter der Fassade der korrekten Haltung das Elend eines systemischen Etikettenschwindels.

Auch als sich Bill Clinton und später David Cameron dazu entschieden, Fleetwood Macs „Don’t stop!“ für ihren Regierungssoundtrack zu nutzen, meldete sich ein Unbehagen in der Gegenkultur. Man spürte, dass der Peace Train irgendwo nahe der Crossroads entgleist sein musste. Das Trio Clinton, Fischer und Blair, also Männer, die man als idealistische Vertreter der Hippie-Generation halluzinierte, zerstäubte zur Jahrtausendwende die letzten Illusionen zum Thema humansozialistischer Utopie. Erwin Chargaff notierte um diese Zeit:

„Marx hat dem Menschen die Maske mit der Haut abgerissen. Ob diese ihm jemals nachwachsen wird?“

Sowohl die meisten ergrauten 68er wie auch ein Großteil der aufmüpfigen Counterculture von heute scheinen sich — ganz in Orwells Sinn — ohne Kompass in der Begriffsverwirrung verirrt zu haben: Frieden ist Krieg, Freiheit ist Tod, Liebe ist Hass. Und ihre Demos und Aufmärsche finden stets den Beifall weltumspannender Hedgefonds, Pharmagiganten und dem militärischen Komplex.

Wer sich dagegen, etwa auf YouTube, auf die Suche nach Fritz Teufel oder Muhammad Ali begibt, entdeckt dort die wahren Eigenschaften eines Idols jener Zeit: Humor, Anarchie, Güte, Geduld, Offenheit, Mitgefühl, jede Menge Coolness und Anstand.

P.S.

Die BILD vom 19. August 2024 titelt: „2.000 Hippies besetzen den Harz!“

Die „Rainbow Family“ ist eine weltweite Gruppierung friedvoller Naturliebhaber, die 1972 in den USA entstanden ist. Und einmal jährlich gibt es ein „Gathering“. Dazu Sara:

„Wir Rainbows leben im Einklang mit der Natur. Wir kommen aus 62 Nationen und sind ohne Anführer. Beruf, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe, das spielt hier alles keine Rolle.“

Doch schon einen Tag später, noch vor Beginn der rituellen Vollmondfeier, beendete eine Hundertschaft der Polizei nebst Feuerwehr und Drohnenführer den Spuk der Freaks. Grund: Massive Verstöße gegen das Rauchverbot und die Parkordnung.


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