„Geldgier und herrischer Sinn, der keine Grenzen mehr kennt“ (1) — dies waren für Solon die beiden Kernursachen für die gesellschaftlichen Verfallserscheinungen seiner Zeit, einer Zeit, die der unsrigen zweieinhalbtausend Jahre vorausgeht und die zugleich mit unserer Gegenwart grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen einer wachsenden Entgrenzung von Macht teilt.
Die entscheidende Triebfeder destruktiver gesellschaftlicher Entwicklungen fand Solon, wie bereits viele Denker und Dichter vor ihm — und ungezählte nach ihm —, in dem parasitären Mehrhabenwollen der Reichen und Mächtigen. Denn Macht strebt nach mehr Macht und Besitz nach mehr Besitz. Ist die Begierde nach Macht und Besitz erst geweckt, wird sie zu einem unersättlichen Mehrhabenwollen auf Kosten anderer. Sie wird zu einer parasitären Begierde, die sich von allen gesellschaftlichen Begrenzungen freizumachen sucht und dadurch den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu zerstören droht.
Diese Einsichten in die Fundamentaldynamiken bei der Organisation einer Gesellschaft sind so alt wie die Zivilisationsgeschichte selbst. Solon ging jedoch über diese Einsicht hinaus und sah die Wurzeln destruktiver Entwicklung in der Unfähigkeit einer Gesellschaft, geeignete gesellschaftliche Schutzinstrumente gegen ein parasitäres Mehrhabenwollen kleiner Gruppen zu entwickeln.
Wird nämlich das Streben nach Macht und Besitz nicht in robuster Weise gesellschaftlich begrenzt und eingehegt, droht es unabwendbar eine Gesellschaft zu zersetzen. Mit der kollektiven Bewusstwerdung, dass die Menschen selbst für die Geschicke ihrer Gesellschaft verantwortlich sind, wurden die Bürger auch der Verpflichtung gewahr, der Hybris eines parasitären Mehrhabenwollens entschlossen entgegenzutreten, wenn sie der Nemesis eines zivilisatorischen Abgrunds entgehen wollen. Diese Einsicht stand am Beginn des systematischen politischen Denkens. Und diese Einsicht stand am Beginn gezielter Bemühungen um eine Zivilisierung von Macht.
Solons Einschätzung spiegelte eine Einsicht wider, die mit der Beschaffenheit des Menschen selbst zu tun hat und mit den in ihr wurzelnden Grunddynamiken einer jeden Gesellschaft. Schon frühesten Gesellschaften war bewusst, dass sie sich selbst zerstören würden, wenn ihre Ordnung auf einem Recht und auf der Macht des Stärkeren gründete.
Eine derartige Gesellschaft wird seit jeher als dystopischer Gegenpol einer wohlgeordneten Gesellschaft angesehen. Als Schreckensvision fand sie ihren kulturellen Niederschlag in vielfältigen Allegorien, Parabeln und nicht zuletzt in Sprichwörtern, wie „Die großen Fische fressen die kleinen“. Eine allegorische Darstellung einer Welt, in der die Großen die Kleinen verschlingen und der Stärkere auf Kosten des Schwächeren lebt, lieferte 1556 Pieter Brueghel der Ältere (circa 1525 bis 1569) in einer Zeichnung, die dieses Sprichwort als Titel trägt.
Die Zivilisierung von Macht besteht stets darin, dem Recht des Stärkeren die Anerkennung zu entziehen und es durch ein Recht der Gleichen zu ersetzen — ein Gedankengang, der schließlich in der zivilisatorischen Leitidee der Demokratie seinen Höhepunkt fand.
Diese Leitidee wird aus naheliegenden Gründen seit ihren Anfängen von denjenigen, die über großen Reichtum und große Macht verfügen (oder darüber verfügen wollen), als ihr ärgster und gefährlichster Feind angesehen. Daran hat sich auch in der Gegenwart nichts geändert, auch wenn sich heute diese Feindschaft mit der Maske eines Demokratiepathos zu verhüllen sucht.
Das Recht des Stärkeren ist und bleibt das, wenn auch zumeist unausgesprochene, Leitregulativ derjenigen, die für sich große Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen suchen. Es tritt jedoch heute nicht mehr mit seinem wahren Gesicht roher Macht auf, sondern verbirgt sich hinter dem Unterfangen, das Recht selbst, das gerade zum Schutz der Schwächeren vor den Stärkeren entwickelt wurde, für Machtzwecke zu usurpieren und das Bewusstsein der Machtunterworfenen in einer Weise zu manipulieren, dass sie, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, ein Recht des Stärkeren dulden oder ihm sogar ihre Zustimmung geben.
Indem die Macht direkt auf eine Eroberung des Bewusstseins, mithin auf ideologische Macht zielt, kann das Recht des Stärkeren eine sehr viel größere zerstörerische Kraft entfalten als die im Tierreich herrschende naturgesetzliche Gewaltordnung.
Im allegorischen Bild der „Ordnung der Fische“ entstünde die gewaltigste gesellschaftliche Zerstörungskraft, „wenn die Haifische Menschen wären“, wie Bertolt Brecht in seiner Keuner-Parabel mit ebendiesem Titel vor Augen führt. Denn wenn die Haifische Menschen wären, wären sie befähigt, ideologische Macht auszuüben und die kleinen Fische dazu zu bringen, bereitwillig in die gierigen Mäuler der Haifische zu schwimmen. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie den ein wenig größeren Fischlein Posten geben, wie Lehrer, Offizier oder Ingenieur im Käfigbau, damit sie für Ordnung unter den Fischlein sorgen. Wenn die Macht des Stärkeren es versteht, zusätzlich ideologische Macht über die Schwächeren zu erlangen, kann sie eine in der Natur nie erreichte Wirksamkeit gewinnen, mit allen destruktiven Folgen unbegrenzter Macht.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Solon W 4,4, übersetzt und herausgegeben von Preime (1945, S. 15); siehe auch Fränkel (1962, S. 256).