„Gehen Sie einfach, Herr Bubendorf. Sehen Sie nur, ihre Töchter weinen. Machen Sie einen Spaziergang an der Aare. Genießen Sie den schönen Tag.“
Nennen wir den Polizisten Herr Berner. Seit er meine Personalien aufgenommen hat, spricht er mich mit Namen an. So wie ich ihn schon seit Beginn der Unterhaltung, sein Name steht auf der Uniform. Wir sind ungefähr im selben Alter, es ist gegenseitige Sympathie spürbar. Beide stehen heute aus demselben Grund auf den Bundesplatz in Bern: Um das Recht zu verteidigen — und doch stehen wir uns gegenüber.
Verschiedene engagierte Menschen hatten angekündigt, dass sie am Samstag um 13.30 Uhr auf dem Bundesplatz in Bern sein werden, um einen Spaziergang zu unternehmen. Meine Frau Bea hatte mich darauf hingewiesen, und wir entschieden sofort, dass wir auch spazieren gehen werden. Endlich eine Möglichkeit nicht nur zu schimpfen und zu schreiben, sondern tatsächlich tätig zu werden. Also fuhr unsere ganze Familie nach Bern. Mutter, Vater, Töchter und Labrador.
Wir treffen eine halbe Stunde früher ein. Ein Händler ist gerade mit dem Abbau seines Marktstands beschäftigt, nur wenige Menschen sind unterwegs. „Lockdown“ — was für ein Unwort — auch hier. Wir drehen eine Runde zum Zytglogge, kaufen den Kindern eine Waffel und genießen die Aussicht beim Hotel Bellevue auf die Aare. Zuviel Zeit kann man in der wunderschönen Bundesstadt gar nicht haben.
Pünktlich erreichen wir wieder den Bundesplatz. Nun sind mehr Menschen hier, auch die Staatsgewalt ist präsent. In den ersten Minuten sind mehr Polizisten als Spaziergänger zu sehen. Ein „Hofnarr“ sitzt still auf seinem Meditationskissen und nippt an einem Bier. „Solidarität — auch mit Julian Assange.“ fordert er. Ja, Assange der unerschrockene Aufklärer, der schon so lange unschuldig eingesperrt ist. Man vergisst beinahe, dass Assange täglich in Einzelhaft zu Tode gefoltert wird. „Corona“ steht über allem — die Krönung, klar.
Jetzt treffen immer mehr Menschen am Bundesplatz ein. Manche davon kenne ich aus den Medien, engagierte Menschen, viele deutlich älter als wir. Einige wenige in unserem Alter. Protest — pardon Spaziergänge — sind bis jetzt offenbar noch nicht Sache der jüngeren Menschen. Meine Töchter wechseln zwischen Staunen und Verunsicherung. Menschen verschiedenster Couleur sind hier. Tendenziell „alternativ“ und doch fühlen wir uns wohl in ihrer Mitte. Jemand stimmt ein schönes, trauriges Lied an. Es herrscht eine fast schon meditativ stille und sehr friedvolle Stimmung.
Und trotzdem liegt auch Spannung in der Luft. Alle wissen — die Konfrontation wird letztlich unvermeidlich sein. Der Widerstand trägt die Konfrontation in sich wie die Wolke den Regen.
Ein Polizist gibt uns 5 Minuten, um den Platz zu verlassen, da die Mindestabstände nicht eingehalten seien. Ich erwidere, dass die Abstände stets gegeben waren, bis genau dem Moment als er sich an mich wandte und mir nun deutlich zu nahe stehe. Etwas irritiert weicht er einen Schritt zurück. Auch die Polizei hat Mühe mit dem „Social Distancing“. Logisch; es geht allen Menschen so.
Nachdem sich die Polizei deeskalierend zurückgezogen hatte, markieren sie plötzlich wieder Präsenz. Ein eindrücklicher Hund wird auf den Platz geführt. Die Botschaft ist klar, der ist nicht hier zum Gassi gehen. Der hat eine andere Aufgabe. Und ein starkes Gebiss. Angst steigt in mir hoch, das Herz schlägt mir bis zum Hals. Showdown.
Ich hatte meinen Freunden versprochen, dass ich gehen werde, sobald die Polizei dazu auffordert. Jetzt ist es so weit, über Megafon gibt der säuberlich frisierte Beamte bekannt, dass man die Situation als „Versammlung taxiere“, was aktuell nicht erlaubt sei. Die Versammlung sei aufzulösen, ansonsten werde die Polizei den Platz räumen. Nun lichtet sich die Menge, viele ziehen sich an den Rand des Bundesplatzes zurück. Frau, Töchter und Hund verlassen den Platz. Besser so. Die Polizei zieht ein Absperrband, rückt damit vor. Weitere Spaziergänger weichen zurück. Am Schluss stehen nur noch ein weiterer Spaziergänger und ich auf dem Platz. Eine Frau verharrt auf ihrem Sitzkissen. Das Absperrband nun vor mir, fragt mich Herr Berner, der Polizist, was ich zu tun gedenke.
„Ich kann nicht gehen, Herr Berner. Ich kann nicht.“ Ob ich mich normal verhalten werde, wenn er nun meine Personalien aufnimmt. Natürlich. Er hebt das Absperrband, seine Kollegen gehen damit an mir vorbei. Identitätskarte, Aufnahme der Personalien. Ich hätte ein Vergehen im Sinne des Strafgesetzes begangen, erklärt Herr Berner. Er nennt den Artikel, ich bin zu aufgewühlt, ihn mir zu merken. Aber zum Glück gegen außen ruhig. Meine Töchter weinen einige Meter entfernt, meine Frau ist mit der Situation überfordert. Wir alle.
Die Einladung den Sonntag an der Aare zu verbringen lehne ich ab. Herr Berner probiert weiter; „gehen sie doch, sonst haben wir hier ein Gerangel, wir müssen sie auf die Wache mitnehmen und 24 Stunden festhalten“. „Dann ist es so“, sage ich zu ihm, bitte meine Frau Bea zu mir, gebe ihr die Autoschlüssel und einen Kuss. Sie verlässt den Platz mit den Kindern und macht sich auf den Weg nach Hause. Gut so.
Luther drohte der Tod im Feuer, als er sagte: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“. Er hätte anders gekonnt, doch er konnte nicht anders. Niemals würde ich mich mit einem Menschen seines Mutes vergleichen, doch heute verstehe ich zum ersten Mal dieses Paradoxon. Mein Versprechen sofort zu gehen, sobald die Polizei auftaucht, ich kann es nicht einlösen. Ich habe es nicht in mir.
„Wir werden nicht rangeln“, sage ich zu Herrn Berner. „Wenn es soweit ist, dann machen wir das anständig.“ Er versteht — von mir wird es keine Drohungen geben, keine Gewalt.
Hier findet die wahrscheinlich schwierigste Situation statt, die es für Ordnungskräfte geben kann — gewaltloser Widerstand. Ich spüre die Machtlosigkeit des Polizisten und die Kraft, die von der friedlichen Gegenwehr ausgeht.
Und sie obsiegt. Nach kurzer Zeit teilt die Polizei mit, dass der Chef anders entschieden habe — und verlässt den Bundesplatz. Was für eine Erleichterung. Die Menschen am Rand des Platzes jubeln und klatschen, ich erhalte einen High Five, viele Daumen zeigen zum Himmel. Als der letzte Polizist den Platz verlassen hat, springe ich davon, freue mich, juble. Weil das Recht gesiegt hat. Weil ich standhaft blieb. Weil ich meine Angst überwand und zu mir stand. Ich weiß, nächsten Samstag werde ich wieder hier sein.
Aber jetzt renne ich zum Parkhaus Casino, meine Familie sieht mich am Bellevue entgegenlaufen. Meine Töchter drehen sich um und rasen auf mich zu, rennen, wie ich sie noch nie habe rennen sehen.
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