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Die Ballade von Marianne und Leonard

Die Ballade von Marianne und Leonard

Leonard Cohens bekanntestes Liebeslied beschwört die Erinnerung an eine Dekade im Saronischen Meer.

Wie oft habe ich das auf Hydra an der Theke der epochal-verruchten „Pirate Bar“ erlebt? Mitten im Trubel stürmen bleichhäutige Tagestouristen in das Lokal und wenden sich weitgehend grußlos an Takis oder einen der Kellner. Es ist stets derselbe Text, egal in welcher Sprache:

„Wir suchen das Haus von Leonard Cohen, Spiti, you know. Das muss hier irgendwo sein. Da oben. Auch wegen Marianne, damals. Nein, nein, wir sind keine Stalker, wollen nur ein Foto fürs Insta und, logo, nur von außen. Die Hilfe würde auch an einem angemessenen Tip nicht scheitern ...“

Dann folgt vom Hausherrn eine knappe Geste, stoischer Blick, den Arm erhoben und mit dem Daumen nach hinten zeigend. Mehr gibt es nicht an Auskunft. Das gilt auch für all jene, welche die gleiche Frage an Vangelos Rafalia, den aktuellen Patron einer 450 Jahre alten Hydra-Apotheken-Dynastie richten. Wobei aus dessen Augen den Heerscharen an Pop-Pilgern grimmige Verachtung entgegenschlägt.

Andererseits ist das aber auch kein Wunder:

Speziell in allen großen angelsächsischen Reiseführern wird Hydra bis heute als Cohens Insel angepriesen. Und auch wir jungen wie alten Philhellenen summen seltsam gerührt das „So long, Marianne“, sobald die Sprache auf die Saronische Insel kommt.

Und ja, es ist eine der schönsten und vertonten Liebeserklärungen des letzten Jahrhunderts: „Come over to the window, little darling, I would like to read your palm.“ Die 1970 erschienene „Songs from a room“-Platte gehörte zur Standardausrüstung der 68er-Generation, mit Dylan, St. Pepper, Hendrix, Pink Floyd, Summerhill, Theodorakis, Marcuse, Dutschke, Che, Castro und den Buchrücken der kunterbunten Suhrkamp-Reihe. Cohens sonorer Bass-Bariton bildete den Soundtrack für das Leben von Abermillionen Menschen. Und selbst in Takis Piratenkaschemme hängt an der meist defekten Kasse die vergilbte Rückseite jenes Albums. Man sieht Marianne in einem kargen Zimmer auf einem Stuhl vor einem kleinen Tisch mit einer Schreibmaschine sitzend, herrlich sonnengebräunt, mit strohblonden Strähnen, nur in ein weißes Laken gehüllt und so scheu wie glücklich in eine Kamera lächelnd.

Um das Haus zu erreichen, muss man sich viele schiefe Treppen in die Höhe bewegen — entlang der sogenannten „Donkeyshit Lane“, von der aus, je nachdem, dem Body-Index geschuldet, nach ein paar Minuten rechterhand die winzige Odos Leonardo Cohen-Sackgasse abgeht. Dort steht der Wallfahrer dann vor einer langen eierschalenweißen Mauer mit einer mausgrau lackierten Pforte, hinter der sich ein für die Insel typisches, L-förmiges und zweistöckiges Stadthaus mit kleinem Balkon befindet. Je nach Saison ist dieses weitgehend unscheinbare Anwesen von Blüten geziert oder es gibt Opfergaben in Form von Kieselsteinen, Früchten oder Räucherstäbchen, die in den Koundini gesteckt werden, die gerade auf Hydra symbolisch befrachteten Messingtürklopfer. Sehr selten nur noch, heißt es, kämen Cohens Kinder, Lorca und Adam, hier vorbei. Der Wert des Hauses aktuell? So um die 28 Millionen Euro. Die Verhandlungen der Cohen-Foundation mit dem Inselsenat über ein Museum verliefen bislang eher zäh, aber, nun ja, wer weiß ...

Von hier oben blickt man über das Hufeisennest eines der schönsten Naturhafen aller Meere, den schwankenden Silberglanz des Golfs, hinüber nach Ermioni, Porto Heli und die endlosen Hügelwelten des Peloponnes. Und wer ein wenig verhaftet ist in heiteren Zeiten unserer Lebensspanne, fragt: Wie kam es zu dieser Ballade von Mary und Lenny, die sich ja fast zeitgleich ereignete mit der von John und Yoko in Londons Abbey Road?

Außerhalb Griechenlands wurde Hydra zum ersten Mal so richtig durch Henry Millers Buch „Der Koloss von Maroussi“ bekannt.

Im Frühherbst des Jahres 1939 verbrachte dieser mit dem wahren Koloss namens Georgos Katsimbalis und dem britischen Romanschreiber Lawrence Durrell zusammen ein paar Tage auf der Insel — als Gast des griechischen Malers Ghika. Nirgendwo und nirgendwann; nicht einmal in der Pariser Villa Seurat war Miller glücklicher als auf „diesem kargen Stück Fels, welcher aus dem Meer ragt wie ein riesiger Laib versteinertes Brot“. Glaubt man der Gilde der New-Ager sorgt vor allem das quarzhaltige Gestein in Hydras Höchstlagen dafür, wie eine Art magische Antenne mit dem restlichen Universum zu kommunizieren. Was an normalen Eseln komplett vorbeigeht, scheint Miller tief ins Herz getroffen zu haben. Denn er notierte noch auf dem Schiff Richtung USA:

"Hydra ist ein ganz besonderer Stein, der von einem Freund Gottes als Pause in die Partitur der Schöpfung eingetragen wurde. Es ist eine jener göttlichen Pausen, die es dem Musiker auf Erden erlauben, eine Melodie in eine völlig neue Richtung zu tragen. An diesem Punkt kann man seinen Kompass auf die Müllhalde werfen. Und als ich diesen Felsen berührte, hatte ich jeden Sinn für die irdische Richtung verloren.“

Ein paar Jahre später muss dieser spezielle Touch auch den kanadischen Sinngeher berührt haben.

Rein kontemplativ war und ist Hydra ein Wunderwerk, ein beseelendes Ensemble aus Kapitänsvillen, Windmühlen, kubistischem Orient, Meer, Licht, Reflektionen und einer dem Kitsch anhaftenden Ahnung, eines bebenden Tages die Kulisse abzuschütteln und einer neuen Inszenierung Platz zu machen — wie beim Herkules-Mythos bereits, vor langer, langer Zeit.

Um 1950 herum wurde das 40-Zimmer-Chateau der Ghikas aus des 18. Jahrhundert im Stil der spanischen Missionen zum Treffpunkt einer elitär-kosmopolitischen Clique aus Adel, Geld, Mode und Kunst. Es wurden Filme mit der Loren und der Mercouri gedreht, die Vogue produzierte Fashionstrecken, und hinter der Hand tuschelten die Insulaner über Séancen und orgiastische Symposien der inner- wie außerirdischen Invasoren.

1958 trafen Marianne, 23, und ihr vier Jahre älterer Mann Axel Jensen auf der Insel ein. Der Sohn wohlhabender Eltern galt im hohen Norden nach einem Debutroman als norwegischer Kerouac. Sie modelte und träumte von einer Karriere als Schauspielerin. Im März 1960 wurde ihr Sohn Axel jr. geboren. Punktgenau hatte sich der Schürzenjäger in eine amerikanische Malerin verliebt. Um Ungemach zu vermeiden, bestieg das neue Paar Jensens Segelyacht und suchte über Poros und Piräus fürs Erste das Weite.

Leonard Cohen war 1959 von Montreal aus nach London gereist, um dank eines Uni-Stipendiums den noch unausgereiften Romanentwurf zur Vollendung zu bringen. Es ist nicht so, dass der damals 24-jährige Gypsy-Boy auf diese 1.000 Dollar angewiesen worden wäre. Die Cohens gehörten zur talmudischen Aristokratie Montreals und verzeichneten führende Rabbiner, einflussreiche Politiker und durchaus grenzwertig agierende Businessleute im engeren Zirkel. So ist es nicht allzu verwunderlich, dass der offenbar herumirrende Jungautor auf einer Londoner Party auf Jacob Rothschild traf, der ihm dringlichst dazu riet, seine Mutter Barbara, gerade frisch von seinem Vater Victor geschieden, auf Hydra aufzusuchen und dort wegen einer Schreibklause anzufragen. Sie lebe dort seit kurzem mit Nikos Ghika zusammen, und alles Weitere ergäbe sich automatisch, denn diese Insel hielte alles bereit, was einem sinnsuchenden Bohemian zugutekommen wird.

Am 16. April 1960 kam Cohen mit dem Boot von Piräus auf Hydra an. Ein Esel trug ihn vom Hafenkai aus Richtung Kamini direkt vor die Tore des seltsamen Forts. Da die vermeintlichen Gastgeber vor kurzem nach Paris abgereist waren, reagierte die Haushälterin auf das energische Klopfen. Als sie seine Empfehlung aus dem Hause Rothschild zur Kenntnis nahm, spuckte sie vor dem fremden Gast aus: „Wir brauchen nicht noch mehr Juden auf unserer schönen Insel.“ In einem späteren Interview bekannte Cohen, dass er in diesem Moment das Anwesen verflucht habe. Ein Jahr danach sollte es tatsächlich bis auf die Grundfeste abfackeln. Die Ghikas kehrten nie wieder auf die Insel zurück, und bis heute erhält man auf Hydra zu diesem Thema, wenn überhaupt, nur sehr ausweichende Angaben.

Cohen fand eine erste Bleibe bei dem australischen Schriftstellerpaar Charmian Clift und George Johnston. Bei ihnen erfuhr er eine Art Hydra-Initiation: Morgenbad im Meer, sieben Stunden hochdiszipliniertes Klappern an der Schreibmaschine, Abendbad im Meer, danach Bars, Kneipen, Privatpartys, Kater und Morgenbad. Dieser Zyklus wurde ornamentiert durch die lokalen Größen: Fischer, Witwen, Krämer, Popen, Dorfdeppen, Kapitäne, Eselstreiber, Boutiquenbesitzerinnen, Goldschmiede, Tavernenwirte. Das Abenteuer wurde verschönert von der uferlosen hellenischen Gastfreundschaft, gegenseitiger Neugier, Spottpreisen und der ägäischen Illusion grenzenloser Freiheit.

Eines Morgens stand ein blondes Mädchen oder, wie er meinte, die „schönste Frau der Welt“ in dem kleinen Markt am Hafen und packte etwas geistesabwesend Wasserflaschen und Milch in den Korb.

Cohen lud sie spontan ein, sich in die Runde seiner Kumpels in die Bar nebenan zu setzen. Das war in dem Sinne nicht nötig, denn natürlich kannte man sich. Jeder kennt auf Hydra jeden und oft besser als sich selbst.

Dem Anfang ihrer weltberühmten Liebe wohnte nur bedingt ein Zauber bei. Axel Sr. hatte auf seiner erotischen Flucht bereits in Athen einen schweren Autounfall, und Marianne fühlte sich verpflichtet, ihm dort im Hospital beizustehen. Cohen kümmerte sich derweil hingebungsvoll um den vier Monate alten Sohn. Ein wenig später musste sie aus steuerlichen Gründen abrupt nach Oslo, und als der mysteriöse Charmeur tatsächlich sein Versprechen hielt, die Kleinfamilie von Athen aus mit dem Auto vor dem heimatlichen Iglo abzuliefern, hatte er ihr Herz gewonnen.

Apropos Herz: Die meisten Menschen erinnern sich bei Leonard Cohen am ehesten an die zwei Lieder über Suzanne und Marianne. Umnebelt von der Beatles-Heiterkeit, dem Wutgetöse der Stones, dem psychedelischen Westcoast-Rock und dem Poetenschnösel Dylan hörte man immer wieder aus einem tiefen Brunnen seine Grabesstimme zum Klimpern einfacher Akkorde. Auf magische Art begleiten seine Lieder und Gedichte über alle Kontinente hinweg Abermillionen von Menschen, selbst wenn sie nicht direkt von Liebesverlust und Depression heimgesucht sind. Cohen brachte die Poesie in den Pop, die Liebe in den Hass, den Hass in die Liebe, die Fragen in die Antworten, und die meisten seiner fein und würdevoll geschliffenen Sendungen sind voller Rätsel, Mahnung und Hingabe. Man kam und kommt an Leonard Cohen nicht vorbei, und die zeitlos-hypnotische Wirkung hielt an bis zu seinem letzten Konzert im Dezember 2013, mit der finalen Zugabe „Save the last dance for me“.

Leonard Cohen wird vor allem wegen der beiden S&M-Hymnen vorwiegend als der ewig Liebende gedeutet, als Prototyp der Hippieära, als Mann des Friedens, der erotischen Freuden, der Verehrung der Frau, der materiellen Gleichgültigkeit und der spirituellen Hinwendung. Viele Jahre später erst erfuhr man, dass der zu diesem Zeitpunkt auf Hydra vermutete Minnesänger bei der Invasion der US-Armee in der kubanischen Schweinebucht am 17. und 18. April 1961 gleich zwei Mal innerhalb kürzester Zeit als kanadisch-amerikanischer Agent verhaftet wurde und sich in letzter Sekunde in einen Flieger nach Miami retten konnte. Er erklärte später:

„Ich bin in meinem Leben tatsächlich in einige Revolutionen hineingestolpert. Da scheint eine unsichtbare Hand die Regie zu führen. Auch verspüre ich eine gewisse Faszination für Gewalt und ein Spannungsfeld, zu töten oder getötet zu werden.“

Als er am 20. April 1967 Griechenland für lange Zeit verließ, übernahm ein paar Stunden später die Junta die Regierungsgeschäfte. Wenig später, 1973 beim Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs, bänkelte er wie einst Marlene Dietrich als Schlagersänger in den IDF-Schützengräben, und auch beim Sturz von Haile Selassie hatte er eine Suite in Sichtweite gebucht. Gut.

Zurück in den Mai 1961: Wenn man der Legende vertraut, traf er mit der Erbschaft einer Großmutter in Höhe von 1.500 US-Dollar auf Hydra ein und erwarb sich das eingangs erwähnte Häuschen mit löchrigem Dach und defekten Fenstern. Trinkwasser musste man vom Dorfbrunnen holen und zum Kochen benötigte man Holz. Am Ende seines Lebens meinte Cohen:

„Griechenland ist ein guter Ort, um den Mond anzusehen. Du kannst im Mondlicht ein Gesicht so sehen, wie es war, als du jung warst. Und dann gab es ja Licht dank der Kerzen und Öllampen und diesen Flämmchen, die auf Korken im Olivenöl trieben. Ich habe nichts aus meinem alten Leben vergessen.“

Telegramme gingen in diesem Sommer nach Norwegen, und wenig später traf Marianne mit ihrem Sohn ein. Es begannen fünf goldene Jahre für das Trio, die sie im Rückblick so beschreibt:

„Wir waren in der Sonne, wir spielten, tranken, diskutierten. Es wurde geschrieben, geliebt, und ich habe fünf Jahre lang keine Schuhe getragen.“

Cohen hatte bei seinen früheren Gastgebern, die es zusammen in ihrer Hydrazeit auf 14 Romane gebracht hatten, Maß genommen und unterwarf sich einer fast mönchischen Disziplin. Nicht ganz im Sinne eines idealemanzipatorischen Ablaufs übernahm Marianne die Einkäufe, das Kochen für die häufigen Gelage auf der Terrasse und kümmerte sich zusammen mit Kiria Sophia um den Abwasch und das Beschaffen von Brennholz. Daneben redete sie ihm die ständig wiederkehrenden depressiven Anwandlungen aus und kaufte ihm zur nervlichen Sedierung eine Gitarre. Gelegentlich lieferte Nochgatte Axel cholerische Eifersuchtsszenen in der Eingangstür. Auch war Cohen wenig begeistert, dass Marianne in ihren Umarmungen wie Träumen Axels Name ausflüsterte. Im Jahre 1962 wurde die Ehe dann geschieden und es kehrte Ruhe ein. Es war sogar so ruhig, dass die beiden eines Morgens aus dem Fenster ihres Schlafzimmers blickten und neu gespannte Leitungen bemerkten — ob Strom oder Telefon, da streiten sich die Coheneologen bis heute.

Der empfindsame Poet spürte das Nahen der technologischen Apokalypse und komponierte viele Jahre später aus den Notizen und Noten das legendäre „Bird on the wire“ mit der nachhaltigen Zeile: „I have tried in my way to be free.“

Hatte sich die Sonne hinter den Bergen des Peloponnes verzogen, schwärmten die bunten Vögel der Künstlerkolonie aus ihren Häusern, trafen sich bei „Katsikas“, direkt am Kirchturm, in Bill’s Bar oder versammelten sich rund um den dicken Baumstamm vor der rustikalen „Douskas“-Taverne. Man kennt die Szenerie aus unzähligen Schwarzweiß-Fotos, die seit einem halben Jahrhundert durch alle Gazetten der Welt schwirren. Denn Mitte 1961 tauchte plötzlich ein Team des LIFE-Magazins auf der Insel auf, um ein ausführliches Portrait dieser außergewöhnlichen, angelsächsischen Truppe zu machen. Fotograf James Burke schuf in wenigen Tagen über 1.500 Fotos, die bis heute den visuellen Grundstock jener Dekade darstellen. Oft sieht man dabei Marianne, Cohen und den kleinen Axel in glückseliger Urlaubs- und Partystimmung und einer Szenerie unbeschwerter Fröhlichkeit, ganz im Hemingway'schen Sinne von „Hydra — ein Fest fürs Leben.“

Wiewohl die Reportage als solche nie publiziert wurde, drehten sich auf der kleinen Insel endgültig die Winde. Man sah die Tochter von Aldous Huxley, Pariser Kunstsammler, Galeristen aus London, durchgeknallten Hochadel, die Entourage von Pink Floyd, Jagger und Faithful, der herrlich dubiose Alexis Mardas erschien mit sämtlichen Beatles nebst Yoko, der nicht minder dubiose Zirkel von George Lialios ließ mondäne Partys steigen, und der Einsatz von Kalifornischem LSD verwandelte Hydra zwischen 1962 und 1970 zu einer 24/7-Magical Mystery Tour. Niemand wusste mehr, ob er es mit echten Künstlern, edlen Wilden, stinkreichen Erben, New Age-Gurus, Edelprostituierten, Rockstars, Junkies, Geheimdienstlern, Immobilien-Tycoons, Reeder-Milliardären, desertierten Fremdenlegionäre oder parfümiertem Strandgut zu tun hatte. Hydra, als H.Y.D.R.A, wurde so gelesen: „Hope You Don’t Remember Anything.“

Inmitten dieses Tollhauses schaffte es Cohen, zwei Romane und drei Gedichtbände zu verfassen. Einer davon, erotischerweise betitelt „Flowers for Hitler“, war Marianne gewidmet. Keines der Bücher geriet auflagenmäßig in die Nähe eines Erfolgs. Er sah spätestens Ende 1965, wie das schleichende Jet-Set-Gift die eigene Clique bedrohte, den Spirit aus Kreativität und Sinnlichkeit zerstörte, und wüste Affären, sadistische Tendenzen, billiger Gossip, Überdosen und Suizide überhandnahmen. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass sich der zeitlebens fragile und verletzliche Cohen aus dem Zentrum der ägäischen Stürme heraushalten konnte. Was ihn damals und auch bis an das Ende seiner Tage rettete, war die auf Hydra erlernte Schreibdisziplin:

„Religion, Weisheitslehren, Frauen, Drogen, Tourneen rund um die Welt, Geld, Ruhm — nichts davon erfüllt, befreit oder erlöst mich. Das einzige von Wert ist es, weiße Blätter zu beschriften.“

Das erinnert mich an einen Satz von Takis, dem Piratenbarchef:

„Wenn man einmal Hydra erlebt hat, kann man danach nirgendwo sonst leben, Hydra eingeschlossen.“

Im frühen Sommer 1967 befand sich Cohen in einem völlig neuen Leben. Er verschwindet im Universum des Chelsea Hotels, zusammen mit Dylan, Janis Joplin, Patti Smith und Charles Bukowski und jeder Menge Models und Dealern.

Er erscheint als cool grinsender Stammgast in Andy Warhols Factory mit den Velvet Underground und schmachtet deren deutsche Ikone Niko Päffgen an. In den Bleeker-Street-Studios von Columbia-Records trifft er sich mit Paul Simon, Joni Mitchell, Phil Spector, Barbara Streisand und dem jungen Bruce Springsteen. Kokain und Heroin verwandeln die Love&Peace-Generation zu kalten Kriegern. Der damals 34-jährige Shooting Star darf in rascher Folge drei Alben auf den Markt werfen, und die Reihenfolge ist durchaus bemerkenswert: „Songs of Leonard Cohen“, „Songs from a Room“ „Songs of Love and Hate“. In „So long, Marianne“ beschreibt er in bemerkenswerter Ehrlichkeit und zärtlicher Zuneigung die Notwendigkeit, dem insularen Hydra-Wahn entkommen zu müssen, um danach ungestört seiner Bestimmung zu folgen. Manche Kritiker, die sich seine Widmungen wie Marianne, Bird on the wire, Tonight will be fine, Hey, that's no way to say goodbye öfters anhörten, waren der Ansicht, dass man bei der Auslieferung des Schallguts gleich am besten auch ein paar Rasierklingen zufügen müsste.

Ein paar Monate verbrachte Marianne in New Yorks Clinton Street in der Nähe ihrer großen Liebe, pleite, vernachlässigt und vergessen. Die beiden versuchten es noch linkisch und tumb in Montreal, doch sie waren sich fremd geworden. 1972 wurde Cohen, zeitlebens nie verheiratet, mit einer anderen Frau zum ersten Mal Vater. Im selben Jahr kehrte Marianne nach Norwegen zurück und heiratete wenig später einen anderen Mann. Kurz vor seinem Tod erinnerte sich Cohen:

„Marianne und das Kind. Diese unfassbaren Tage der Freundlichkeit. All das lebt in meiner Erinnerung und kommt in Form von Tränen zum Vorschein. Ich bete, dass uns eine liebende Erinnerung für immer verbindet. Das nämlich sind meine kostbarsten Schätze, die ich damals eintauschte für ein Weiterlernen in der Welt.“

Leonard Cohen sah man im Winter 1980 wieder für längere Zeit auf der Insel. Ein bekannter Freund zeigte sich entsetzt. Der Flower-Power-Prophet war dusterer Stimmung, abgemagert, stets in Schwarz gekleidet, mit Sonnenbrille — und in der Gesellschaft von Kriminellen und üblen Trinkern. Die Gespräche standen unter dem Motto „Lennon out, Reagan in“, und Field Commander Cohen schwärmte in höchsten Tönen vom eben neu gewählten Präsidenten, der Macht der Neuen Ökonomie und des Neuen Militärs, einem messianischen Zeitalter und dem Krieg der Sterne. Ganz Hydra war froh, als er im Januar 1981 die Fähre bestieg.

Weitaus heiterer zeigte er sich im Juni 1988, als er anlässlich seines Konzerts auf dem Athener Lycabettus mit einem Kamerateam vorbeischaute und betont bescheiden eine Art Homestory über sich ergehen ließ. Im Herbst 1999 kam er ohne jedwedes Aufsehen, um sich die Bananenstauden seines Gartens zu betrachten.

Axel Jensen erhielt 1962 nach einer Prügelei mit Polizisten ein lebenslanges Hydra-Verbot. Er verfasste weiterhin wertgeschätzte und erfolgreiche Bücher. Hochdepressive Episoden führten allerdings zu einer fragwürdigen Freundschaft mit dem bewusstseinsfrenetischen Psychiater RD Laing. Axel Jr. erlebte nach Hydra eine wenig angenehme Odyssee durch diverse Schulen in verschiedenen Ländern, der Schweiz, den USA und im britischen Summerhill. Als er im Alter von 15 Jahren mit seinem Vater eine klärende Indienreise unternahm, gab ihm dieser in heiliger Lagerfeuerstimmung eine Probedosis LSD. Das Experiment misslang, und den Rest seines Lebens verbrachte der Bub in verschiedenen Zweigen der norwegischen Psychiatrie. Sein Vater erkrankte seinerseits im letzten Kapitel seines Lebens an der neurodefektiven ALS-Krankheit, bei deren mühseliger Behandlung auch Leonard Cohen finanzielle Hilfe leistete. Jensen Sr. starb 2003 an seinem 71. Geburtstag.

Als Marianne am 28. Juli 2016 erlöst wurde, flüsterte ihr der alte Kumpel Cohen einen Brief ins Jenseits hinaus:

„Du kannst einfach deine Hand ausstrecken, und ich denke, du wirst mich erreichen. Aber jetzt wünsche ich dir eine gute Reise. Goodbye, meine liebe Freundin. In unendlicher Liebe, ich sehe dich ganz bald.“

100 Tage später sollte er zu seinem Wort stehen.


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