Der Aufruf „Dialog statt Eskalation“ wurde unterzeichnet von der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Bündnis 90/die Grünen), dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU), Horst Teltschik (CDU), Günter Verheugen (SPD) und Helmut Schäfer (FDP). Sie alle spielten in den 1990er Jahren, als die Bundesregierung noch ein einigermaßen entspanntes Verhältnis zu Russland hatte, eine Rolle in der bundesdeutschen Politik. Warum kein Politiker, keine Politikerin der Partei der Linken unter dem Aufruf steht, ob von den Linken überhaupt Jemand angesprochen wurde, ist nicht bekannt.
Keine Alternative zur Partnerschaft mit Russland
In der Wortmeldung heißt es, zu einer gleichberechtigten Partnerschaft mit Russland „gibt es keine vernünftige Alternative“. Ein „Zusammenbruch der westlich-russischen Beziehungen und der Abbruch fast aller Gesprächsforen drohen auch noch den Rest an globaler Stabilität zu gefährden“. Worauf es jetzt in erster Linie ankomme, sei „die Überwindung der Sprachlosigkeit. Über alle Konflikte und Streitpunkte mit Russland muss offen geredet werden, ohne Vorbedingungen, Vorverurteilungen und Drohungen.“
Der Journalist Stefan Niggemeier hat mit Antje Vollmer, einer der Initiatoren des Aufrufs „Dialog statt Eskalation“, gesprochen. Am 13. April berichtete Niggemeier dann im Portal „Über Medien“, wie schwierig es war, für den Aufruf einen Platz in einem großen deutschen Medium zu finden.
Der Aufruf sollte – so Niggemeier - ursprünglich in der „Süddeutschen Zeitung“ erscheinen. „Doch die lehnte eine Veröffentlichung in ihrer Gastbeitragsrubrik ,Außenansicht‘ ab. Auch bei der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ war das Interesse offenbar gering. Kurzfristig finde sich dafür kein Platz im Blatt, hieß es am vergangenen Freitag, ob die Autoren sich nicht lieber einen anderen Publikationsort suchen wollten. Mit ein paar Tagen Verzögerung erschien der Aufruf schließlich am gestrigen Donnerstag dann doch noch in der FAZ-Gast-Rubrik ,Fremde Federn‘.“
Zwei Tage nach der Meinungsäußerung von Stefan Niggemeier fasste das Mitglied der SZ-Chefredaktion Heribert Prantl Mut und schrieb für die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung einen sehr wohlwollenden Artikel über den Aufruf „Dialog statt Eskalation“. „Die Mahner haben ohne Zweifel und ohne jede Einschränkung recht“ heißt es in dem Text von Prantl, und an anderer Stelle: „Es ist unendlich viel schiefgelaufen, seitdem Putin am 25. September 2001 seine Rede im Bundestag hielt, in der er ein langfristiges und umfassendes Kooperationsangebot machte.“
Doch zurück zur Initiatorin Antje Vollmer. Dass sie einen Aufruf für eine Entspannungspolitik mit Russland initiiert, ist nicht das erste Mal. Im Dezember 2014 erschien in „Zeit Online“ der von 60 bekannten Persönlichkeiten unterzeichnete Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ In dem Aufruf heißt es, „wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas.“ Der Aufruf wurde bei „Zeit Online“ über tausend Mal kommentiert.
Auch der Aufruf vom Dezember 2014 sollte eigentlich in der „Süddeutschen Zeitung“ erscheinen, doch damals wie heute lehnte der Außenpolitikchef der SZ, Stefan Kornelius, die Veröffentlichung in der Print-Ausgabe der SZ ab. Das hatte offenbar inhaltliche Gründe. Zu dem Aufruf „Wieder Krieg in Europa?“ veröffentlicht die SZ dann am 10. Dezember 2014 einen äußerst abwertenden Artikel. Darin heißt es: „Die Geschichte von der Umzingelung Russlands und vom gefährlichen Heranrücken der Nato erzählt Wladimir Putin bevorzugt seinen westlichen Gesprächspartnern.“ Der Aufruf „Wieder Krieg in Europa?“ zeige, „dass diese Saat hierzulande auf fruchtbaren Boden fällt.“ Die Russen hätten keine Angst, aber sie möchten „anderen Angst machen können.“ Putin fürchte weniger die NATO „als das eigene Volk“. 2012 hätten „Hunderttausende Russen gegen gefälschte Wahlen protestiert“. Warum so übertreiben? Bei der größten Demo gegen Wahlfälschungen im Dezember 2011 demonstrierten nicht mehr als 60.000 Menschen.
Sechs Tage später kam der Gegen-Aufruf von den Maidan-Freunden
Die deutschen Freunde der durch einen Putsch an die Macht gekommen Post-Maidan-Regierung beeilten sich im Dezember 2014 einen Gegen-Aufruf zu verfassen. Bereits sechs Tage später, am 11. Dezember 2014, erschien im „Tagesspiegel“ die von über 100 „Osteuropa-Experten“ unterzeichnete Erwiderung. Die „Süddeutsche Zeitung“ war vom „Gegen-Aufruf“ äußerst angetan. Es gab keine einzige kritische Anmerkung.
Initiator des Gegen-Aufrufs war Andreas Umland, Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew. Zu den Unterzeichnern gehörten unter anderen Sabine Adler (Deutschlandradio), Klaus-Helge Donath (taz) und mehrere führende Politiker der Partei Bündnis 90/Die Grünen.
Der Gegen-Aufruf begann mit einer eitlen Selbstdarstellung. Die meisten Unterzeichner des Aufrufes „Wieder Krieg in Europa?“ hätten „nur geringe Expertise zum postsowjetischen Raum, wenig relevante Rechercheerfahrung und offenbar keine Spezialkenntnisse zur Ukraine,“ schrieben die über 100 „Osteuropa-Experten“. Man habe sich selbst – im Gegensatz zu den Unterzeichnern dieses Aufrufs – gründlich mit der Ukraine auseinandergesetzt und sei zu dem Schluss gekommen, „es gibt in diesem Krieg einen eindeutigen Aggressor, und es gibt ein klar identifizierbares Opfer“.
Weiter heißt es, „ob es um die Sprachensituation oder Minderheitenpolitik, den Rechtsextremismus oder politischen Umbruch in der Ukraine geht, Fehlinformationen und tendenziöse Interpretationen zur Ukraine“ hätten sich „infolge oberflächlicher Recherchen in den Köpfen vieler festgesetzt“.
Alle Befürchtungen über die Post-Maidan-Regierung bewahrheiteten sich
Die Großspurigkeit mit der die Unterzeichner des Gegen-Aufrufs über den Aufruf „Wieder Krieg in Europa?“ herzogen, ist vielen Unterzeichnern des Gegen-Aufrufs inzwischen wohl vergangen. Zumindest hört man von ihnen keine Jubelgesänge mehr über den Maidan und die „proeuropäische“ Kiewer Regierung. Man liest in großen deutschen Zeitungen auch kaum noch etwas über den Lebensalltag der Menschen in der Ukraine, ganz zu schweigen von Berichten über die Situation in den international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk und auf der Krim.
Das hat einen Grund. Leider wurden alle Befürchtungen, welche die Kritiker der Post-Maidan-Regierung 2014 vorbrachten, Realität. In Kiew herrscht heute ein Regime, welches die eigene Bevölkerung in der Ost-Ukraine bombardiert und faschistischen Gruppen freie Hand lässt bei Überfällen und Morden an Oppositionellen und kritischen Journalisten. Von den „europäischen Werten“ ist die Ukraine heute weiter entfernt als während der Zeit des Präsidenten Viktor Janukowitsch. Millionen müssen sich in Russland und der EU Arbeit suchen, weil man in der Ukraine heute im Monat nur um die 150 Euro verdient.
Besonders krass ist die Situation nach der Verabschiedung eines neuen Gesetzes zum Sprachen-Unterricht an den Schulen. Danach soll in zwei Jahren ab der fünften Klasse nur noch auf Ukrainisch unterrichtet werden. Die Kinder und Jugendlichen der nationalen Minderheiten, von den Ungarn, den Moldauern bis zu den Russen und anderen Minderheiten, müssen ab 2020 dann auf den Unterricht in ihrer Sprache verzichten.
Das neue Gesetz zum Sprachunterricht nannte sogar der taz-Korrespondent in Kiew „nationalistisch“. In einer Reportage beschrieb der Korrespondent allerdings nur die Situation an einer Schule in einem Gebiet mit starkem ungarischen Bevölkerungsanteil. Über die zahlenmäßig viel stärkere russische Minderheit in der Ukraine verlor der Kiew-Korrespondent der taz kein Wort.
Reicht das Schwelgen in Erinnerungen an die 1970er Jahre?
Was ist nun der Grund, dass der Aufruf „Dialog statt Eskalation“ vom 12. April 2018 im Gegensatz zum Aufruf „Wieder Krieg in Europa?“ vom Dezember 2014 in der Öffentlichkeit wenig Beachtung fand? Der Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass versäumt wurde, die einseitige Pro-Kiew - und Anti-Russland-Berichterstattung in den deutschen Medien an konkreten Beispielen aufzudecken. Damit hätten die prominenten Unterzeichner ganz sicher Diskussionen ausgelöst und öffentliche Beachtung gefunden. Nur an die Friedenssehnsucht der Deutschen zu appellieren und in Erinnerungen an die „schöne alte Zeit“ der Entspannungspolitik unter Willy Brandt und Helmut Schmidt zu schwelgen, reicht nicht.
Außerdem stellt sich die Frage, warum es unter dem Aufruf keine Unterzeichner aus der Partei Die Linke, sowie aus außerparlamentarischen linken und friedenspolitischen Organisationen und Internet-Portalen gibt. Haben nicht die zahlreichen 2014 entstandenen Internet-Portale sowie diverse Buch- und Film-Autoren eine zentrale Rolle bei der Aufklärung über die grassierende Russophobie gespielt?
Wäre es nicht besser gewesen, man hätte eine Debatte über einen neuen Aufruf zur Entspannungs-Politik organisiert? Vielleicht hätte man dann unterschiedliche Spektren der Friedensbewegung und der an Entspannung mit Russland interessierten Menschen unter einem gemeinsamen Aufruf vereinen können.
Sarah Wagenknecht und Peter Ramsauer an einem Tisch
Ein interessanter Schritt in diese Richtung war meiner Meinung nach am 1. März die Veranstaltung der Partei Die Linke zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee in Stalingrad. Teilnehmer der Veranstaltung „Deutschland, Russland und die Zukunft“ waren nicht nur die Fraktions-Chefs der Linken Sarah Wagenknecht und Dietmar Bartsch sondern auch der Bürgermeister von Wolgograd, des früheren Stalingrad, Andrej Kosolapow, der Publizist Alexander Rahr und der Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Peter Ramsauer (CSU).
Für eine Entspannung mit Russland war diese Veranstaltung ein nachahmenswerter Schritt. Das Handelsblatt berichtete ganz ohne Häme. Das Blatt zitierte Peter Ramsauer mit den Worten:
„Um Russland kommen wir gar nicht drum herum, da diskutiere ich gern mit.“
Quellen und Anmerkungen:
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