Man kann und muss Deutschland — und mithin der Regierung Angela Merkel — vorwerfen, dass der unilaterale Aufbruchs Deutschland in den eurasischen Osten in diesen Jahren ein Fehler war. In unserem Buch „Endspiel Europa“, geschrieben mit Hauke Ritz 2022, argumentieren wir, dass Deutschland seinen Aufbruch nach Eurasien zu einer gesamteuropäischen Strategie hätte machen müssen, anstatt innerhalb Westeuropas auf einen nationalen Vorteil durch seine guten Beziehungen zu Moskau, preiswertes Gas oder auf bevorzugte (Wirtschafts-)Beziehungen zu China bedacht zu sein — Merkel wurde von Xi Jinping in Peking stets als „Vertreterin Europas“ empfangen, hat selbst aber konsequent vergessen, Europa mitzudenken, was politisch Spannungen zu Polen, aber auch Frankreich und Italien zur Folge hatte. Dies alles kann im Rahmen dieses Vorworts leider nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.
Dennoch: Mackinders britischer Alptraum, nämlich dass das Ingenieur-Land Deutschland mit den rohstoffreichen Ländern Eurasiens eine fruchtbare Kooperation beginnen könnte, Europa sich also das Herzland erschließt, London beziehungsweise sein verlängerter politischer Arm, Washington, dauerhaft von den Früchten dieser Kooperation ausgeschlossen bliebe und sich das globale Kräfteverhältnis dauerhaft zu Lasten der USA in Richtung Eurasien verschöbe, lag zu Beginn der letzten Dekade in der Luft.
War das vielleicht der Grund, eine verstaubte britische Theorie, in den USA modernisiert und aufgefrischt von Brzeziński, endlich zur politischen Anwendung zu bringen, bevor es — von Washington aus gesehen — zu spät sein würde? Und könnte man dann vermuten, dass der Euro-Maidan von 2014, von dem die heutige (kritische) historische Forschung relativ zweifelsfrei sagt, dass er US-amerikanisch gesteuert und instrumentalisiert wurde, als Ausgangspunkt für die Verwirklichung von Mackinders Theorie genommen wurde, nachdem der erste Anlauf einer ukrainischen Farbrevolution unter der (korrupten) Julia Timoschenko und Wiktor Juschtschenko 2004 fehlgeschlagen war?
Denn der durch den Maidan ausgelöste Bürgerkrieg und schließlich Krieg in der Ukraine, im Westen heute einseitig erzählt als „völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg“, ist eigentlich nichts anderes als die Apotheose der Mackinder-Theorie, betrieben und von langer Hand vorbereitet durch die USA, nämlich das Herausschälen der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich und damit der gewaltsame Zugriff auf den eurasischen Bauch von seinem westlichsten Zipfel (Krim) aus.
Die Ukraine ist gleichsam das westliche Einfallstor ins Herzland. Ein wiederholter amerikanischer Versuch im Übrigen, ins eurasische Herzland vorzudringen, wie Hauke Ritz in einem Artikel von 2013 über Die Rückkehr der Geopolitik beschreibt, in dem für die Jahrzehnte davor auch der Krieg in Vietnam oder der amerikanische Einmarsch in Afghanistan als von Mackinder beeinflusst beschrieben werden.
Herausschälen ist als Begriff hier nicht zufällig gesetzt. Er bezieht sich nämlich auf die „Orangentheorie“, eine Theorie aus der Zeit noch vor dem Ersten Weltkrieg, die auch schon die Ukraine im Visier hatte. Auch dort war bereits von „Herausschälen“ die Rede:
„Es ist nicht neu, dass in der Ukraine Geopolitik betrieben wird. Schon in deutschen Kriegszieldenkschriften aus dem Ersten Weltkrieg findet sich die sogenannte Orangentheorie: Man müsse das russische Imperium entlang seiner Nationalitäten auseinanderpflücken wie eine Apfelsine (…).“
Man könnte sogar vermuten, dass die Symbolfarbe Orange, die für die Farbenrevolution in der Ukraine 2004 verwendet wurde, damit in Zusammenhang steht.
In seinem Buch Macht und Ohnmacht von 2004 greift der amerikanische Autor Robert Kagan, eine der intellektuellen Führungspersonen der sogenannten „Neocons«, die ab dem Jahr 2000 ihre Agenda für ein „neues amerikanisches Zeitalter“ („Project for a new American Century“, PNAC) über den Globus ausrollten, den Mars-Venus Gegensatz von Männern und Frauen auf und appliziert das ursprüngliche Buch, das ein amüsantes Schlaglicht auf Beziehungsprobleme wirft, auf die transatlantischen Beziehungen. Die USA, so Kagan, seien vom Mars — militärisch, aggressiv, männlich. Europa sei von der Venus — Softpower, diplomatisch, weiblich. Kagan macht dies als Strukturprinzip der transatlantischen Beziehungen aus und argumentiert, dass sich die USA und Europa deswegen, höflich formuliert, nicht „verstünden“, etwas böser oder zynischer formuliert: dass Europa unter amerikanischer Kuratel stehe.
Es ist von jeher tabuisiert, das zu schreiben, in Deutschland mehr als anderswo in Europa, aber es stimmt. In diesem Zusammenhang ist das Detail nicht unerheblich, dass jener unschöne Satz „Fuck the EU“ während der Maidan-Auseinandersetzungen auf Victoria Nuland zurückgeht, Ehefrau von Robert Kagan und damals US Secretary of State for Europe, die laut einem abgehörten Telefonat mit diesen Worten die vermeintlichen Zauderlichkeiten der EU mit Blick auf die Sanktionen für ukrainische Politiker kritisierte.
Egal, welches Bild man verwenden möchte, ob „Orangentheorie“ (saftig), oder weiblicher Schoß (feucht), die Ukraine ist ganz offenbar Gegenstand der US-amerikanischen Begierde. Genau deswegen haben meine eingangs formulierten feministischen Betrachtungen durchaus ihre Berechtigung: Die Vergewaltigung („Fuck the EU“) Europas durch die USA erfolgt spätestens seit dem Maidan 2014: Der Krieg in der Ukraine und mithin das Abschneiden Europas von Eurasien ist Ausdruck eben dieser Vergewaltigung. Man könnte auch sagen, die Orange wurde ausgepresst. Eine Orange kann sich nicht wehren. Aber jede Frau weiß, dass es als Reaktion auf Vergewaltigung nur eine Lösung gibt: Emanzipation!
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