Teil 1: Vom Opportunismus zur Virenheimsuchung
I.
Es war im Frühjahr 2020. Die Fachanwältin für Medizinrecht Beate Bahner scheiterte mit ihrer Klage gegen die Grundrechtseinschränkungen. Im Gesprächskreis, an dem ich mich beteiligte, ein linker Gesprächskreis seinem Selbstverständnis nach, brach daraufhin Jubel aus. Einer rechten, sozialdarwinistischen Freiheitsideologie sei der Riegel vorgeschoben worden. Etwas später verteidigte ein ausgewiesen linker Kritiker des Neoliberalismus sein Schweigen während langer Coronawochen mit dem Hinweis darauf, dass im Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen der neoliberale Freiheitsbegriff anzutreffen sei.
Sucht dieser Text nach dem Kern des zivilisatorischen Super-GAUs, so spielt das Versagen der Linken dabei eine prominente Rolle. Ob die Linke versagt hat oder ob die Rede vom Versagen letztlich auf einer Projektion oder gar einer Schimäre beruht und die Linke bezogen darauf, was wirklich in ihr angelegt war und ist, gar nicht versagt hat oder, je nach Optik, gar nicht anders konnte und versagen musste, dem wird ebenso nachgegangen — nicht historisch, das mögen andere erledigen, sondern in einem essayistischen Gedankengang. Die gedankliche Hauptlinie vollzieht sich allein im Lauftext. Die Anmerkungen weiten da und dort aus, belegen Ausgeführtes beispielhaft, veranschaulichen und konkretisieren.
Die Frage nach dem Versagen der Linken ist deshalb keine Frage am Rande, weil der Zusammenbruch der Zivilisation, an dessen Rand sich dieses Versagen abspielt, sich womöglich als Ende der Menschheit oder des Homo sapiens erweisen wird und weil eine Linke, ideal gedacht und real gegeben — beides indes ist bereits ein Knackpunkt, der das Linkssein wesentlich betrifft —, dieses Ende der Menschheit im besten Fall hätte verhindern können.
Womöglich führt die Reflexion zu Erkenntnissen, die am Ende zwar nicht „etwas Linkes“ rettet — das ist auch nicht beabsichtigt und angesichts der Lage wohl obsolet —, aber immerhin dem Ende noch einen Grund nachschiebt. So viel und so wenig hätte die Menschheit vielleicht verdient, und etwas Pathos darf sein, solange es nicht in Kitsch ausartet. Dass ein Ende der Menschheit mit Figuren wie Blair, Schröder und Fischer, erst recht aber mit dem gegenwärtigen Personal von Linken, SPD und Grünen — außerhalb Deutschlands steht es kaum besser — nicht aufzuhalten ist beziehungsweise gewesen wäre, das mag schnell einleuchten. Danach wird es komplexer.
Für den Fortgang der Lektüre setzen wir also ein „linkes Etwas“ voraus, man mag es als Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich, vielleicht sogar als Solidarität unter gleichberechtigten autonomen Subjekten fassen und den Weg dahin als Emanzipation. Warum nicht Liberté, Égalité, Fraternité: Kann man sich gut merken. Liberté, wohlverstanden, wäre dabei — an erster Stelle.
II.
Es gibt ein linkes Versagen, über das sich viele Menschen, die sich als links bezeichnen oder lange Jahre als links bezeichnet haben, einig sind. Es ist das Versagen, das in Figuren wie Blair, Schröder, Fischer manifest geworden ist, sich über das Jahr 2020 fortsetzt und in Deutschland auf das gesamte Führungspersonal „linker Parteien“ beziehungsweise Parteien, aber auch Gewerkschaften und Verbände, die sich selbst in diesem Sinne definieren oder ehemals so definiert haben, zutrifft.
Dieses Versagen begann im vorigen Jahrhundert ― die historischen Linien führen weiter noch zurück ― und zwar im größeren Stil. Genau genommen war es kein Versagen, würde ein Versagen doch bedeuten, etwas anzupeilen, das aufgrund bestimmter Schwächen nicht erreicht werden kann. Vielmehr erkannten Menschen, die in linken Parteien aktiv waren und die es nach Macht — neoliberal als „Verantwortung“ bezeichnet — verlangte, dass sie von linken Parolen abrücken mussten, um eben dieser Macht, nach der sie strebten, näher zu kommen. Mehr noch, sie stellten fest, dass sie über den vom Kapital tolerierten Mechanismus der Parlamentswahl nur dann eine Chance haben, wenn sie ihre Programme und Parolen nach diesem ausrichten.
Diese Einsicht wiederum war vonseiten der Macht vorgespurt, erkannten die Strategen des Kapitals doch bereits in den 1950ern (1), dass sie mit links angeschriebenen Figuren aus dem Politbetrieb ihre Ziele besser erreichen konnten als mit Konservativen oder Liberalen. Zumindest für die radikale Phase der Zerschlagung der als Zwischenlösung notwendigen sozialen Marktwirtschaft und ihrem zarten Hauch von Demokratie als Epiphänomen waren die linken Vertreter essenziell, wollte man das störungsfrei über die Bühne bringen.
Auch für den Vollzug der letzten Etappen hin zum digitalisierten IT-Sklaven erweist sich linkes Hirtenpersonal als effizient.
Von daher fanden und finden sich zwei Seiten, die je von der anderen profitieren: die Strategen des Techno-Kapitals in langfristiger, systemischer Hinsicht und die linken Karrieristen zu ihrem persönlichen Vorteil. Insofern war es kein Versagen, hatten die Blairs und Schröders und Fischers doch auch nicht vor, kapitalkritische Politik zu betreiben.
Das unterscheidet von einer Usurpation, die erst in dem Augenblick stattfindet, da exekutive Macht gegeben ist; eine Usurpation, die ebenso bedenklich ist, aber in der Sache nachvollziehbarer, insofern man sie einer versuchten, sich jedoch als unmöglich erweisenden Umsetzung des „linken Etwas“ in exekutiven Stellungen zuschreiben könnte. Die Usurpation, von der hier die Rede ist, fand zuvor statt. Nämlich mit der Zielsetzung, an die Macht zu kommen. Und insofern handelt es sich um einen geplanten Verrat — immer vorausgesetzt, es hätte „Etwas“ gegeben, das zu verraten gewesen wäre — und kein Versagen.
Nun könnte man auch meinen, die Menschen in linken Parteien und den ihnen nahe stehenden Bewegungen hätten als Kollektiv versagt, als sie Modelle wie Blair, Schröder, Fischer und viele mehr auf Führungsposten hoben. Allerdings bleibt es auch auf dieser Ebene ein Versagen nur insofern, als bei der Beförderung entsprechender Karrieristen davon ausgegangen worden wäre, mit diesen Leuten linke, kapitalkritische Politik betreiben zu können. Es wäre also zu klären, ob tatsächlich eine Täuschung beziehungsweise ein Wahrnehmungsproblem vorgelegen oder ob nicht vielmehr die Mehrzahl dieser Parteigänger ebenso „an die Macht“ gewollt hätte, zumal Macht Ämter abwirft, Sicherheiten.
Ein Modell „Hitler“ ist nur denkbar, wenn genügend „Hitler“ in der Menge angelegt ist.
Gleiches gilt für Blair, Schröder und Fischer, zumal sich diese Modelle lange vor der Wahl transparent und explizit auf die Seite des Kapitals geschlagen hatten und Versuche, sie nach ihrer Inthronisierung wieder loszubekommen, kaum zu verzeichnen waren. Die Usurpation muss also in der Breite angelegt gewesen sein und wirft deshalb Fragen zum linken Selbstverständnis schlechthin auf: zum „Linkssein“, zu linken Denkmustern, Inhalten und Werten und wie diese beschaffen sind, auf dass sie sich so leicht usurpieren lassen.
Das „Versagen“ von Personen beziehungsweise der „Verrat“ oder auch eine allfällig gegebene Anlage, sich kollektiv täuschen zu lassen, sind jedenfalls Muster, die an der Oberfläche bleiben. Sie zeigen Symptome auf. Gleiches gilt letzten Endes für die Infiltrationen und Unterwanderungen, die stattgefunden haben, einschließlich der Einschleusung von V-Leuten durch den Staatsschutz und andere Organe. Dass eine strategische Unterwanderung nicht nur zu persönlichen Intrigen führt, sondern sich auch auf Inhalte auswirkt und diese „belastet“, versteht sich. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ein Kollektiv, das sich im Namen eines bestimmten Inhalts für irgendetwas einsetzt, aus was für Gründen im Einzelnen auch immer, bereit ist, von diesem Inhalt — dem in diesem Text vorausgesetzten „linken Etwas“ — abzurücken. Dieses Abrücken wiederum lässt sich nicht ohne den Inhalt, von dem abgerückt wird, erklären. Es muss eine spezifische Verbindung geben, eine Anlage dazu in diesem Inhalt selbst, ansonsten wäre es keine Unterwanderung, sondern ein gewalttätiger Umsturz.
Das Problem liegt also tiefer. Die Usurpation durch Machtstrukturen, die scheinbar diametral linken Positionen widersprechen, beziehungsweise die Anfälligkeit dafür, scheint ein wesentlicher Teil linker Politik zu sein. Bevor ich mit dieser These eine Schicht tiefer tauche, möchte ich ein paar Folgen konkretisieren, die sich aus der ersten Schicht dieses Gedankengangs ergeben.
III.
Linke Politik, in exekutiven Stellungen, unterschied sich im Wesentlichen nicht von konservativbürgerlich-liberalen Vorläufern, im Gegenteil: Wie von Strategen der Konzerne, aber auch des militärisch-industriellen Komplexes angedacht, erwiesen sich Protagonisten, die sich mit links anschrieben, als vielfach bessere Marionetten des Kapitals. Synergetisch dazu wurde das Protestpotenzial, das im Umkreis linker Parteien noch bestand, weitgehend stillgelegt.
Eine dem Parteibuch nach linke Figurenkonstellation betrieb in der Folge eine neoliberale Politik der Ausmerzung von Solidarität auf allen gesellschaftlichen Ebenen und des geopolitischen Weltgendarmentums — im breiten Stil ab den 1990er-Jahren (2). Dabei ergab sich die scheinbar paradoxe Konstellation, dass genuin vom Kapital forcierte Projekte des Abzugs von Kritik von Zentren der Macht, wie Genderismus, Identitätspolitik und vor allem aber — allem vorangestellt — die umfassende Verstümmelung der Sprache durch den neoliberalen Neusprech, der seinen Ursprung zu wesentlichen Teilen in der Werbesprache (PR, Propaganda) und der da angelegten Falsch- beziehungsweise Umkehrsemantik hatte (3), zu genuin linken Projekten wurden — einerseits weil andere, kapitalkritische Inhalte weggefallen waren und andererseits weil die Linke mehr und mehr in exekutiven Stellungen einsaß.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die totale Umkrempelung sämtlichen Lebens hin zu Geschäftsmodellen beziehungsweise die Reduktion von Handlung auf Effizienz und Gewinn auch die Beseitigung von Traditionen wie Ritualen, kulturellen Gepflogenheiten und Bräuchen impliziert. Heimat und Geborgenheit, so weit sie sich nicht global kommerzialisieren lassen, stören das Profitstreben. Das ist mit ein Grund dafür, weshalb das Kapital die Linke für die Bewachung der Schafe bei der Zersetzung alter, profithemmender Identitäten installierte, um diese Linken sodann mit Inbrunst — das einstige Vorhaben der Emanzipation pervertierend — die kapitalkompatiblen Ersatzidentitäten, die nichts mit autonomen Subjekten und sehr viel mit gefügig verwertbaren Ressourcen zu tun hatten, ausrufen zu lassen: Genderei der siebenundzwanzig Geschlechter (4) und Antirassismus bis zur Nazinähe.
Mit der Sprachverstümmelung, für die sich in den 1990ern der Begriff der Political Correctness durchzusetzen begann, erfolgte die angepeilte Einengung des Diskurses, also des Sag- und Denkbaren.
Das erwies sich für „das linke Etwas“ insofern als besonders fatal — vom Kapital besonders raffiniert aufgegleist —, als dass zu diesem Zeitpunkt, Anfang der Neunziger, eine gewisse Bereitschaft zu einem offenen Diskurs noch einer der letzten, wenn nicht gar der letzte verbliebene Bestandteil einer irgendwie links gearteten Politik war, eine Bereitschaft, die vor allem in den 1970ern und 1980ern das linke Klientel — bereits da weitgehend ein Beamtenklientel und von Arbeiterkreisen losgelöst — auszeichnete und sich beispielsweise in Sympathien für Sätze wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ anlässlich der Zürcher Jugendunruhen der 1980er-Jahre niederschlug. Mit der Sympathie für „staatskritische“ Positionen und Appetit auf Gurkensalat war dann in den 1990ern sehr bald Schluss und damit ein letztes irgendwie noch kenntliches Alleinstellungsmerkmal der (Salon-)Linken verschwunden (5), hatte sich diese Linke wirtschaftspolitisch und geopolitisch, weitgehend aber auch sozialpolitisch doch zuvor schon kapitalistischen Kräften angedient.
Diese vollkommene Drehung hinsichtlich eines vielleicht letzten Merkmals, das die Linke mindestens so ein bisschen noch kenntlich gehalten hat, steht natürlich nicht für die Ursache, zeigt aber die Auswirkung, die hinsichtlich Unkenntlichmachung einer irgendwie gearteten linken Identität durchaus als eine spiralartige zu begreifen ist.
Nun war das Vorantreiben der Diskursverengung — unter dem Begriff Political Correctness — zwar durchaus als Projekt der Linken zu begreifen, indes einer Linken, die alles Linkssein abgelegt hatte, und wäre es zuletzt eben noch diese soeben angesprochene Diskurstoleranz gewesen. Konservative und rechte Analysten schlachten dieses um 180 Grad gewendete gedankenpolizeistaatliche Engagement der Linken — wofür etwa eine Anetta Kahane (6) mit Stasi-Tradition symptomatisch steht —, zuweilen genüsslich aus. Man kann es verstehen. Sie übersehen aber bewusst oder aus Unvermögen, dass es Linke sind, die sich mit dem Kapital symbiotisch verknüpft und ihre in den 1970ern und zu Beginn der 1980er noch gehegte Sympathie für das Subversive, für Staatskritisches und generell für störende Elemente in Produktionsketten gänzlich verloren haben.
Sind aus Linken, die in den 1970ern zu weiten Teilen der Armee allgemein und militaristischen Lösungen von Problemen im Besonderen kritisch gegenüber standen, begeisterte Kriegsbefürworter geworden — der Wechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt leitete das mit ein —, so ist auch das paradigmatisch zu lesen. Politiker wie Rudolf Scharping und Joschka Fischer in Schröders Kabinett verkörperten diese Kriegsaffinität exemplarisch, von den heutigen Linken und Grünen ganz zu schweigen, die Positionen vertreten, die sich von militaristisch-imperialistischen Politiken faschistoiden Zuschnitts nicht unterscheiden. Deutschland am Hindukusch zu verteidigen: Das ist nicht nur die Idee einer Ursula von der Leyen und eines Heiko Maas, es ist eine genuin-imperialistische Idee ― von Pazifismus, einstmals in diesem „linken Etwas“ mindestens gefühlt mit drin, keine Spur mehr (7).
Indes gänzlich ohne Kritik auf linker Seite — wir unterstellen weiterhin, es sei da inhaltlich etwas fassbar — ist dieser Verrat nicht geblieben. Nicht in den Zentralen der Parteien ist die Kritik aufgekommen, aber im erweiterten Bereich derjenigen, die linke Parteien wählten oder gelegentlich wählten oder bis vor Kurzem gewählt haben, ebenso bei Analysten, die sich selbst als links verstanden und verstehen. Dass dies auf den Kurs dieser Parteien keinen Einfluss haben konnte und kann, versteht sich. Die Machtnähe war ja Ziel der Bestrebungen und die personelle Verflechtung mit Macht und Kapital verunmöglicht inzwischen überhaupt jeden Erkenntnisvorgang. Was aber erstaunen mag: Diese Kritik hatte ebenso keinen Einfluss auf die Inhalte selbst.
Eine vertiefende Diskussion über Linkssein, über linke Positionen, linke Denkmuster und Werte fand nicht oder nur immer ansatzweise in den vergangenen 20 Jahren statt (8).
Das trug zu einem verständlichen, letztlich aber verhängnisvollen Schluss bei: Verräter sind böse, aber die Sache, die sie verraten, bleibt gut. Und so tauchten in den vergangenen Jahren immer mehr Analytiker und Theoretiker, im einzelnen aber auch Politiker der Linkspartei auf — hier wäre auch eine Sahra Wagenknecht einzuordnen —, die bemängelten, dass die Linke ihre linken Postulate vergessen hätte, konkret: dass sie keine Politik mehr für einkommensschwache Menschen, für Arbeiter betreibe, sondern für Identitäten und dabei selbst zu einer kapitalistischen Partei geworden sei.
Mehr noch, und da leistete im deutschsprachigen Raum vor allem Rainer Mausfeld (9) gute Arbeit: dass sie darüber hinaus von den Machtstrukturen — über Bildung, Medien, Sprache et cetera — sich vollkommen hätte vereinnahmen lassen, kognitiv und psychologisch. In der Sache traf dies zu, die Analysen waren präzise, legten Mechanismen der Macht frei und zeigten, dass der westliche Parlamentarismus längst zu einer Wahloligarchie geworden ist mit totalitären Strukturen (10).
Indes, diese Analyse, so richtig sie war und ist, ließ und lässt „das linke Etwas“ unberührt und unreflektiert. Es genügte darauf zu verweisen, dass wieder eine Politik für die Arbeiter, für untere Klassen, wieder eine Politik auf der Basis von sozialer Solidarität betrieben werden müsse. Durch den Fokus auf das Versagen in diesem Sinne konnte unbesehen überleben, was einem jeden emanzipativen Vorhaben und folglich jedem Freiheitsstreben das Ende bereitet und bereiten muss. Und dies kam beim zweiten, durch die „Pandemie“ ausgelösten Versagen der Linken zum Vorschein: diesmal kein Verrat, vielmehr eine Enttarnung. Und wenn das Überziehen von Masken die Demaskierung herbeiführte, ist dies nur oberflächlich besehen paradox.
IV.
Im Jahr 2020 geschah etwas, was die linke Theorie gänzlich anders infrage stellte, fundamentaler als die Karrierespielchen der Blairs, Schröders und Fischers. Dass von den bekannten linken Opportunisten Abstandsparolen zu hören waren und dass es vor allem linke Regierungen waren — in Deutschland zum Beispiel Rot-Rot-Grün in der Stadt Berlin —, die in besonders totalitärer Manier Demokratiebewegungen zu ersticken suchten, war aufgrund des Versagens beziehungsweise des Verrats auf erster Stufe, erfolgt aus Opportunitätsgründen, das zu Erwartende, denn das mit links angeschriebene Personal war und ist längst Teil des Systems.
Die neue Dimension bestand darin, dass es auch KritikerInnen des linken Opportunismus waren — also keine Karrieristen, zumindest nicht dem Selbstverständnis nach, aber oft Beamte —, die entweder plötzlich schwiegen oder sich aktiv auf die Seite des Systems mit „Bleib zu Hause“-Parolen schlugen, nach Lockdowns begehrten und eine Impfung, die allein aufgrund der Fahrlässigkeit ihrer Zulassung Menschen zu Versuchsobjekten degradiert, auch auf die Schwächsten der Gesellschaft angesetzt sehen wollten.
Begründet wurde dieses Verhalten initial damit, dass dem Widerstand gegen die Maßnahmen ein neoliberaler Freiheitsbegriff eingeschrieben sei. Darauf aufbauend ließ sich dann in diesem Widerstand allerhand „Unkraut“ finden (11). In der Anklage gegen diesen unterstellten Freiheitsbegriff und dem darin aufgefundenen Unkraut allerdings kam und kommt etwas zum Ausdruck, was die politische Linke hinsichtlich der Würde des Menschen obsolet macht und was im Kern der Grund für das Versagen ist: Es ist die linke Unbeholfenheit im Umgang mit Freiheit, die sich lange Zeit hat verbergen lassen — die Freiräume, die für das Volk gegeben war, auch Randgruppen, in den 1970er, 1980er etwa (12), waren einer Konstellation geschuldet, keiner Ideologie. Mit dem Virus aber schlossen sich die Freiräume und die Unbeholfenheit brach durch — die Abfolge kann man sich auch vertauscht denken.
Unbeholfenheit klingt harmlos, weckt joviale Gefühle. Unbeholfene sind sympathisch. Doch sind Bedrohungslagen gegeben, echte oder medial inszenierte, so schlägt Unbeholfenheit in Hass und Militanz um. Hass und Militanz zielen darauf, alles, was mit der Bedrohung verknüpft wird, zu eliminieren. Notwendig ist diese Eliminierung, weil aufgrund der Unbeholfenheit die Möglichkeit entfällt, mit einer Bedrohung souverän — autonom, emanzipativ — umzugehen. Unbeholfenen bleibt der Gehorsam. Der koppelt die Gefahr an das, was die Unbeholfenheit auslöst: Freiheit. Virus und Freiheit auf der einen Seite, Militanz und Schutz auf der anderen: So teilt sich die Welt dann ein.
Im „linken Etwas“ ist der Staat die Instanz, die bei Unbeholfenheit als Retter fungiert. Er ist die Machtinstanz, die das Kapital besänftigen soll beziehungsweise die Instanz des — als Parole gehaltenen — gesellschaftlichen Ausgleichs.
Der Wunsch nach Staat resultiert aus der Unbeholfenheit, und der Staat ist bei Gefahren die Schutzinstanz gegen die Freiheit, welche die Unbeholfenheit zutage fördert. Und singt man Linken das Lied von Viren und vom Tod — bei Materialisten kann das nicht gänzlich verwundern —, wird aus Unbeholfenheit Panik.
Und der Ruf nach Schutz wird zum militanten Schrei. Spätestens da bricht jede Reflexion über Macht, also über den Staat und die in ihm qua bürokratischem Körper per se angelegte Gewalt zusammen, wobei diese Reflexion als Machtkritik ohnehin nur in Ansätzen und zu Zeiten gegeben war, als die Linke nicht selbst in exekutiven Stellungen einsaß. Dass der Schrei nach Schutz einem Staat gilt, der im Dienste des Kapitals die Menschen gegen unten diszipliniert und ausbeutet, vervollständigt die paradoxe Konstellation. Ein Paradox, das von Viren und vom Tod leicht überlagert wird (13).
Diese Konstellation — und das ist der Inhalt der Demaskierung, die stattgefunden hat — führt nun dazu, sich bei Bedrohung gegen das Böse blockwartmäßig solidarisch zu „verbrüdern“. Diese Verbrüderung indes ist in der Tat keine Fraternité, da nicht unter autonomen Subjekten in Liberté, sondern vielmehr unter Impf- und also Pharma-Objekten vollzogen. Es ist das faschistische Bündeln — Fasces: Rute, Bündel — aus Not. Die Not resultiert aus der Unbeholfenheit gegenüber der Freiheit, aus der das Virus aufgetaucht ist. Sie resultiert also aus einer grundsätzlichen Unfähigkeit nicht-autonomer Subjekte. In diesem Sinne hat Corona die Bündelung als politisches Programm der Linken offengelegt und in diesem Sinne war Solidarität bei Linken — und war das nicht ein Kernmerkmal? — nie eine Entscheidung beziehungsweise eine Haltung für den anderen, sondern ein die eigene Erbärmlichkeit kompensierender Bund.
Dieser Unbeholfenheit der Freiheit gegenüber ist genauer nachzugehen, denn sie — und nicht etwa Opportunisten à la Blair, Schröder, Fischer und, dies als Vorwegnahme, auch nicht Fremdeinflüsterer, die das linke Denken usurpiert hätten — ist am Ende der Grund dafür, dass linke Denkmuster so nahtlos mit Militanz, Polizeistaat und Überwachung zusammenlaufen. Das hierbei vorgeschobene solidarische WIR ist der faschistische Bund und ästhetisch betrachtet Kitsch. Geht’s ums große Opfer, ist Kitsch mit dabei — und sei es als sedative Begleiterscheinung (14).
Nachzugehen ist weiter der Staatstreue, die sich mit der Unbeholfenheit verschränkt. Einer paradoxen Staatstreue aus Sicht eines (unterstellten) „linken Etwas“: paradox angesichts des Versagens des Staates als Instanz des sozialen Ausgleichs und mehr noch angesichts der führenden Rolle des Staates bei der Zerschlagung von sozialen und sozial-marktwirtschaftlichen Strukturen, paradox aber auch angesichts des Sich-Gebärdens des Staates als Disziplinierungsorgan gegen unten.
Teil 2 blendet genauer auf die Staatsgläubigkeit der Linken, knüpft diese an ihre Unbeholfenheit im Umgang mit Freiheit und zeigt wie aus dieser Unbeholfenheit Züchtigung, Brutalität und ein pervertierter Klassenkampf hervorgehen. Dass es in den vergangenen Dekaden sehr präzise Macht- und Kapitalismuskritik gegeben und dass es die politische Linke nicht nur verpasst hat, diese Kritik zu erkennen und zu ihrer eigenen zu machen, sondern dass sie sich gänzlich devot in den Dienst der Machtverschleierung gestellt hat, das steht ebenso im Zentrum des Gedankengangs.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Das schlägt sich in der Implementierung des Kongresses für kulturelle Freiheit durch die CIA nieder, durch den sich viele „linke Intellektuelle“ ködern ließen. Allerdings reichen die strategischen Spuren viel weiter zurück. Prinzipien der (Kapital-)Machtsteuerung und -absicherung werden bereits in den Zwanzigern, Dreißigern und Vierzigern aufbereitet und bereitgestellt, nicht zuletzt in psychologischer, medialer beziehungsweise propagandatechnischer Hinsicht, so etwa durch die lesenswerten Schriften Walter Lippmanns, Edward Bernays‘ und Harold Lasswells.
(2) Im Jahre 1990 übernahm in der Stadt Zürich die SP (Sozialdemokratische Partei) die Polizeidirektion. In der Folge ging die Polizei nicht weniger hart zur Sache, im Gegenteil. Sie überfuhr auf Verfolgungsjagden mehrmals unbeteiligte Menschen. Linke Politiker, die Jahre zuvor noch lauthals gegen brutale Vorgehensweisen der Polizei protestiert hatten, schwiegen nun oder erfanden Rechtfertigungsgründe. Für mich, damals noch an das „linke Etwas“ glaubend, ein Erlebnis mit paradigmatischem Charakter — eine Erschütterung.
(3) Noch fundamentaler aber liegt der Grund hierfür in der Schleifung der Bildung, auf die ich am Ende des Essays zu sprechen komme.
(4) Die „Freiheit“ der 27 Geschlechter war und ist nicht als Liberté konzipiert. Vielmehr war dem ganzen Aktionismus das Bestreben nach Kontrolle eingeschrieben. Nicht Autonomie war das Ziel — die ständigen Verschärfungen des Sexualstrafrechts bilden das beispielhaft ab —, sondern Ausbau von staatlicher Überwachung — bis hinein ins Doktorspiel der Kinder. So war auch die vermeintliche Aufwertung der Homosexualität getrieben von der Absicht der Zähmung und Einbindung ins System. Nicht die „queren, autonomen, unartigen“ Schwulen des 20. Jahrhunderts, nicht Dissidenten wie Pier Paolo Pasolini oder Jean Genet waren das Ziel der angeblichen Liberalisierung, sondern smarte Schwule, die sich als Konsumenten eigneten.
(5) In den vergangenen Jahren verdrehten sich meiner Wahrnehmung gemäß die Verhältnisse sogar insofern, als geistige Toleranz zuweilen eher in liberalen und konservativen Kreisen anzutreffen war und ist.
(6) Ehemalige Mitarbeiterin der Stasi und Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, die sich dem Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus verschrieben hat und hierbei konsequent zum Mittel der Diffamierung und Denunziation greift. Wenn ich das hier so herausstelle, geht es nicht darum, die Person über die Etikette „Stasi“ zu disqualifizieren. Jede Person kann sich entwickeln, sich verändern, keine Frage. Ich erwähne es, weil Kahane sich in der Tat (und nicht nach Etikette) für die Einengung des Denk- und Sagbaren einsetzt.
(7) Auch in diesem Bereich eine realpolitische Verkehrung: Es sind inzwischen eher rechte Parteien, die Frieden als Argument einsetzen.
(8) In Deutschland kann man auf politischer Ebene in Teilen das gescheiterte Projekt „Aufstehen“ als einen Versuch in diese Richtung einstufen; und in der Labour Party mit Jeremy Corbyn als Vorsitzendem gab es ebenso Bemühungen — ein solcher grundsätzlicher Diskurs ist allerdings schwierig zu führen in Gesellschaften, in denen Bildung durch Geschäft ersetzt worden sind (dazu im letzten Teil des Essays mehr); der Diskurs gewann in beiden Fällen kaum an Tiefe und war mit zwei, drei Schachzügen (in Großbritannien wirkte die Antisemitismus-Keule) erledigt.
(9) Vergleiche seine Vorträge in sozialen Medien, die er im Buch „Warum schweigen die Lämmer“ (2018) zusammenfasst.
(10) Fassadendemokratie ist nicht primär der Fokus dieses Essays. Sie ist real und möglich, weil der erkenntnistheoretische Super-GAU, den wir in diesem Essay nachzeichnen, funktioniert. Aus Sicht des Kapitals ist sie, versteht sich, intendiert, weil sie im Super-GAU einlagert. Der Ausgangspunkt hierfür ist die Verschränkung von Bildung und Geschäft, die ich im letzten Teil dieses Essay behandle.
(11) Mit „Unkraut“ referiere ich auf Ödön von Horváths Roman „Jugend ohne Gott“, erschienen 1937, der sich alltagsnah mit der Wirklichkeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Über die Metapher des Unkrauts wird dort gezeigt, wie alles, das nicht auf der Linie der Ordnung liegt, also alles Abfallende, Störende, Entartete, im Denken der Gemeinschaft (die in jenen Tagen wie nun wieder in diesen beschworen wird) als Zu-Tilgendes gedacht wird. Der Begriff „Covidioten“ liegt auf der Linie dieser Metapher. Und es war die Co-Präsidentin der SPD, also einer angeblich linken Partei, welche den Begriff ins rhetorische Kampffeld eingebrachte. Die Groteske, die mit dem Begriff verbunden ist, zeigt sich darin, dass die Linke sich auf die Abgrenzung gegen rechts beziehungsweise dem, was sie sich als rechts zurechtlegte, einschwor — und der Kampfbegriff „Covidioten“ fungierte und fungiert gerade als eine solche Abgrenzung —, und sich dabei auf einer Linie mit Markus Söder wiederfand. Wer mit einem Söder geht und den noch rechts überholt, muss sich um Abgrenzungen gegen rechts nicht weiter mehr kümmern.
(12) Das soll nicht heißen, dass es zu jenen Zeiten eine echte Freiheit gegeben hätte und vor allem nicht, dass diese Freiheit „gemeint“ gewesen wäre. Aber aus strategischen Gründen musste das angepeilte feudale Kapitalsystem in den 1970ern — auch im Hinblick auf den noch real existierenden Kommunismus — vorübergehend ein paar Freiheiten beziehungsweise etwas mehr Demokratie zulassen. Außerdem war dieses mehr an Freiheit auch ökonomisch möglich, weil sich der Westen damals in einem noch weit stärkeren Ausmaß zu Spottpreisen an Ressourcen in Afrika, Asien und Südamerika bedienen konnte.
(13) Eine paradoxe Figur, wie es sich aus „linker Sicht“ zeigt: Damit wieder Freiheit herrscht, muss Virenfreiheit herrschen. Dies vor Augen herrschen naturgemäß die Viren. Um diesen Zustand zu ändern und die Viren zu beherrschen, muss das Kapital herrschen, das den Menschen — über die Pharmaindustrie — die Viren nimmt. Kapital ist aber die Herrschaft der Unfreiheit (irgendwie so halb von Marx her schwirrt das noch im Kopf). Deshalb ist das Kapital von Gates kurzerhand kein Kapital, sondern Impfung. Es ist das Gute im Kampf gegen das Böse. Indem das so ist, rettet die Impfung nicht Menschen, sondern das Kapital und verleiht ihm dabei den Glanz des Solidarischen, einen Heiligenschein (und Franziskus ist mit an Bord). Die ganze Figur vollzieht sich außerhalb jeder medizinischen Evidenz. Fragt nun einer nach dieser Evidenz, führt er das Böse ein, indem er, der Logik der Figur folgend, den solidarischen Glanz des Kapitals infrage stellt (über Hinweise auf fragwürdige Proben, Testverfahren, Wirkungsnachweise, Nebenwirkungen bis hin zum Tod ...) und die, die sich mit „links“ anschreiben, im Grunde zwänge, sich vom Kapital zu lösen und also auch von der Impfung. Aber dann stehen sie wieder schutzlos da ... ist ihnen doch die Virenfreiheit die höchste und einzige Freiheit. Und alles beginnt von vorne ...
(14) Im Gesprächskreis, von dem ich anfänglich gesprochen habe, wurden kritische Einwände gegen die Pandemie-Inszenierung mit dem (TV-)Bild vom Arzt und der Pflegerin aus Bergamo (die Klassen finden zusammen, die Geschlechter so verteilt!) im aufopferungsvollen Kampf gegen Tod und Verderben erschlagen.
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