von Emily George
Dem Alter nach zur „vulnerablen Gruppe“ gehörig, keine Coronaleugnerin, aber Impfgegnerin, grübelt sie während der Pandemie-Jahre, was das alles bedeuten soll: Sind die Lockdowns, die Masken, vor allem bei Kindern, nötig und sind sie es wert, dafür unsere Grundrechte einschränken zu lassen, fragt sie sich. Dass nicht mehr sie für ihre Gesundheit verantwortlich ist, sondern der Staat, schockiert sie. Das Unverhältnismäßige, das Überraschende irritiert sie.
Übers Internet erreichten die Menschen regelmäßig neue Konzepte, wie sie das Virus erfolgreich besiegen konnten: „Jeder hat das Recht auf saubere Luft“, hieß es da. „Aus diesem Grund ermöglichen Ihnen die innovativen Luftreiniger der Hygiene-Serie, Ihre Räume von schädlichen Viren zu befreien. Jeder Atemzug ist wichtig.“ Wer konnte sich diesen überzeugenden Argumenten schon entziehen?
Aber die größten Sorgen bereitete ihr der Riss in der Gesellschaft. Ihre Idee, mit Freunden, mit ehemaligen Klassenkameraden, einen Diskurs darüber zu starten, scheitert kläglich. Aus Freunden sind Feinde geworden. Sie wollte Gegenargumente zu ihren Vorstellungen und Gedanken, dass es sich hier nicht um Gesundheit handelt, sondern um etwas Anderes. Aber um was? Ihr Wunsch, dies im Austausch mit anderen herauszufinden, bringt ihr nur abrupte Abwehr, Abbruch von Freundschaften und feindselige Reaktionen.
Jetzt, nach drei Jahren, kommt eine zaghafte Annäherung durch das „Friedensangebot“ eines ehemaligen Klassenkameraden. Er meint, dass jetzt „Toleranz“ angesagt wäre. Toleranz auf beiden Seiten, schreibt er.
Können freundschaftliche Beziehungen wiederhergestellt werden? Nach langem Nachdenken antwortet sie ihm:
Lieber Martin,
wenn ich deine Zeilen richtig verstehe, machst du mir ein „Friedensangebot“. Aber wir hatten doch nie Krieg, Martin, du und ich, nicht mal im Ansatz. Allerdings muss ich einschränken, dass nach allem, was in den letzten Jahren passiert ist, Frieden nur zwischen zwei Personen, zwei Individuen, wieder eingerichtet werden kann. Nach dem, was in diesen Jahren passiert ist, kann man in der Gesellschaft nicht zum Alltag übergehen und sagen: „Jetzt machen wir mal auf ‚Toleranz‘, auf ‚Vergebung‘.“
In einem der wöchentlichen Beiträge von Michael Bahnert in der Weltwoche las ich den Satz von Sokrates: „Heiraten oder nicht heiraten. Du bereust beides.“ Verständlich in seinem Zusammenhang, weil er mit Xanthippe immer im Clinch lag, da er, statt Geld ins Haus zu bringen, nur auf den Marktplatz ging und die Leute in Gespräche verwickelte.
Ich hatte ein ähnliches Problem: Denken oder nicht denken, du bereust beides. Ich fand, dass man in Krisenzeiten ein Gegenüber braucht, ein Gespräch, um Gedanken auszutauschen, sie zu verstehen und in Worte zu fassen. Deshalb haben die Alten ja Dialoge geschrieben: Erst eine Meinung, dann die Gegenseite, und der Autor fasst das am Schluss zusammen. Oder wie in der Wissenschaft: These, Antithese, Synthese. Und gerade in einer Demokratie ist der Diskurs die Basis des Zusammenlebens.
Um klarer zu sehen, wollte ich Gegenargumente zu meiner Position. Ich wünschte mir nichts mehr als widerlegt zu werden. Kritik macht mich eher neugierig, als dass sie mich erschreckt. Da wir — ihr, meine ehemaligen Klassenkameraden und ich — aus derselben Epoche stammen, unser aller Geburtsjahr vor dem Krieg liegt und wir dasselbe Humanistische Gymnasium besucht hatten, sollten wir eigentlich zu vernünftigen Überlegungen fähig sein. Das war mein Gedanke, als ich an euch schrieb. Zurück kam ein dürres E-Mail mit fünf „Grundtatsachen“ — die den täglichen Mainstream-Inhalt wiedergaben und deren volle Akzeptanz mir als Vorbedingung für ein gemeinsames Gespräch genannt wurde.
Du bezweifelst, dass eine Spaltung der Gesellschaft überhaupt existiert. Ich selbst empfand sie als das eigentliche Drama der Pandemie — nicht das Virus.
Die Regierung machte für die Spaltung die verantwortlich, die nicht ihrer Meinung sind und Zweifel haben. „Die Grundlage aller Erkenntnis ist der Zweifel an allem Wissen“, sagt Descartes. Mit dieser Spaltung tauchten dann Begriffe auf wie Schwurbler, Verschwörungstheoretiker, Staatsfeinde, Nazis, um nur einige wenige zu nennen. Ich wollte auch das verstehen und ich glaube inzwischen, man kann es vielleicht mit einer anderen Situation vergleichen: Fragt mich unser Arzt, wenn ich meine Blutwerte feststellen lasse: „Machen wir auch den Krebs-Marker?“, dann antworte ich schnell: „Nein, niemals.“ Wahrscheinlich steckt in beiden Fällen schlichtweg Angst dahinter. Angst vor den Schlussfolgerungen, zu denen man gelangen könnte. So ähnlich schien mir zumindest eure Haltung: zu schweigen und einfach abzutauchen. Alles geschenkt.
Was können wir mit Sicherheit wissen? Ist eine Erkenntnis der Wahrheit und Wirklichkeit möglich? Diese Fragen stellten sich schon Philosophen vor zweitausend Jahren. Der Skeptizismus — skeptisch ist jemand, der zweifelt — sollte auch heute das politische Denken und die Wissenschaft lenken. Denn die Verfechter der absoluten Wahrheit, wie wir sie in der Politik mit der Alternativlosigkeit von Ex-Kanzlerin Angela Merkel oder der Schulmedizin erleben, die als einzige Waffe Spaltung einsetzen, zeigen, dass Spaltung eigentlich Angst vor Verlust der Macht und Deutungshoheit bedeutet und nichts anderes als Schwäche signalisiert. Dem Individuum erwächst durch Skeptizismus dagegen Freiheit: Freiheit für eigene Entscheidungen und somit eine beglückende Art der Selbstverwirklichung. Auf dem Gebiet der Medizin könnte die Alternativmedizin leidenden Menschen Schmerzen ersparen oder Heilung bringen.
Für mich war diese Zeit fast wie „leben und nicht leben“. Ich grübelte von morgens bis abends, denn welches Land wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen, dafür sind ja auch wir verantwortlich.
Was hat so eine alte Oma schon für Möglichkeiten, das alles, was täglich passierte, zu verstehen? Jeder von uns, auch du, wir haben uns sicher darüber Gedanken gemacht. Mich hinzusetzen und meine Gedanken niederzuschreiben, hat mich manche Vorgänge in diesen Jahren klarer sehen lassen. Ich verstand plötzlich den Satz des französischen Schriftstellers Christian Bobin: „Schreiben — das heißt, eine Tür auf eine unüberwindliche Mauer malen und diese dann öffnen.“ Und weil ich eine Leseratte bin, habe ich auch zu Büchern gegriffen. Bücher, die mir manchmal neue Sichtweisen eröffneten. Ich mach´s kurz: Ich wollte, dass meine Kinder und Enkel eines Tages in ferner Zeit verstehen, wie dies alles abgelaufen ist, deshalb habe ich das niedergeschrieben.
Du machst das ja vor, wie Verständigung funktioniert: durch Zuhören-Können. Dadurch, dass man den anderen nicht ausgrenzt, sondern zu verstehen versucht — das ist ja schon der Beweis, dass es nicht nur eine Meinung gibt, wenn der andere eine andere Meinung äußert —, dadurch, dass man den Faden wieder aufnimmt und den anderen nicht durch Schweigen oder durch Druck zwingt, seine Meinung fallen zu lassen. Du hast den ersten Schritt gemacht, dieses Spiel zu beenden, Martin. Dieser Punkt geht an dich.
Ein schönes Beispiel berichtete mir gestern Abend meine Tochter: Auf Initiative der Katholischen Kirche in Florenz haben sich Palästinenser und Juden getroffen und zusammen eine Demonstration durch die Stadt unternommen. So geht Verständigung. Nicht, indem man die Meinungen der Menschen abwürgt, sie verunglimpft, verleumdet und Kriege führt. Kriege welcher Art auch immer.
Kriege entstehen nicht von einem Tag auf den andern. Kriege werden immer vorbereitet. Auch dieser.
Sie haben das schon raffiniert eingefädelt: Bei den Begriffen „rechtsextrem“ und „nationalistisch“ haben sie die Unterschiede rechts und rechtsextrem, national und nationalistisch absichtlich verwischt. Die linksgrünen Gestalter der öffentlichen Meinung haben schon seit Jahrzehnten begonnen, die Begriffe zu vermengen. Rock gegen Rechts oder Aktionsplan gegen Rechts waren Beispiele dafür, wie man rasch zum Nazi mutieren konnte. Mit der undifferenzierten Verwendung von rechts und rechtsextrem wurde absichtlich die bürgerliche Anschauung der konservativen Bevölkerung, die ihre Heimat liebt und ihre Familie, ihre Traditionen und ihr geistiges Erbe, in Misskredit gebracht. Diese über lange Zeit gewachsenen Entwicklungen entstehen aus der Mitte der Gesellschaft und nicht durch Vorgaben und Verordnungen von oben.
Hier muss ich eine Lanze für die Lehrer brechen, die uns während unserer Gymnasialzeit 1949 bis 1958 unterrichtet haben. Diese Lehrer kamen zum Großteil aus dem Krieg oder der Kriegsgefangenschaft. Viele von ihnen mit physischen und psychischen Läsionen. Aber ich kann mich an keinen erinnern, der uns auf irgendeine direkte oder indirekte Weise indoktriniert hätte. Indoktrination trat dann erst mit den 68ern auf. Warum? Weil bei unseren Lehrern der Faktor „Macht“ ausgeschaltet war. Die wollten nur überleben, leben und weiterleben. Erst als es beim „Marsch durch die Institutionen“ um die Macht ging, benutzte man Lüge und Heuchelei. Um Macht zu gewinnen oder ihre Stellung zu stärken, missbrauchen Menschen die Wahrheit, sie agieren mit Lüge und Täuschung.
Aber was ist Macht? Das oberste Ziel des Fürsten war die Macht. Die Macht über Menschen, die ihm folgten. Der Fürst brauchte die Massen, die ihre Steuern zahlten, die ihm den Boden beackerten, die ihm in den Krieg folgten. Ein Fürst — oder die Eliten — ohne die Menschen wäre machtlos. Die Verbindung von beiden, den Mächtigen und der Masse, ist also nötig. Und es zeigt auch, welche Verantwortung die Massen tragen, um einen Fürsten, um Eliten, die unmenschliche Ziele verfolgen, zu stoppen. Aber wie entdecken die Massen, dass ein falscher Weg eingeschlagen wird? Nur durch eigenes Nachdenken. Oder Not und Verzweiflung. Aber wenn die Massen schon nicht mehr für sich selbst Verantwortung übernehmen, sich als Versorgungsempfänger fühlen, wie sollen sie dann die Konsequenzen von Entwicklungen für die Zukunft erkennen?
Um Macht ausüben zu können, braucht man die Angst der Massen. Angst macht die Menschen gehorsam und willenlos. Bei Corona und beim Klimawandel war und ist die Angst in der Bevölkerung das Mittel, um Notstandsgesetze oder das Infektionsschutzgesetz zur Einschränkung der Grundrechte durchzusetzen.
„Spaltung ist niemals ein Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft“, habe ich an euch geschrieben. Darauf kamen nur oberlehrerhafte Bedingungen für ein Gespräch und im Weiteren Schweigen. Ich glaube, nach den zwei Weltkriegen brauchen besonders wir Deutsche keine Oberlehrer, die mit ihrer Meinung die Welt beglücken — wie unsere Außenministerin. Ein bisschen Demut tut’s auch. Demut scheint mir ein Wert zu sein. „Demut, mit der keine Künstliche Intelligenz etwas anfangen kann“, schreibt meine Tochter. Mit Demut gelangen wir dorthin, wo wir vielleicht alle hinwollen: Zum Menschsein. Zur Menschlichkeit.
Menschlichkeit. Das lässt mich an eine Passage in den Erinnerungen Helmut Kohls denken.
„Ursprünglich waren wir politisch viel weiter auseinander als Helmut Schmidt und ich. Aber wir waren uns als Menschen sehr viel sympathischer. Als Willy Brandt siebzig wurde, habe ich geredet. Und als es ihm schon sehr schlecht ging und sich nur noch wenige bei ihm sehen ließen, besuchte ich ihn noch. Wir sprachen dabei über viele Dinge, auch über das Sterben.
Er wollte, dass ich die Anordnungen für seine Begräbnisfeierlichkeiten treffen sollte. Ein letztes Mal sah ich Willy Brandt unmittelbar vor seinem Tod in seinem Haus in Unkel. Ich erinnere mich noch gut, wie der große, todkranke Mann in seinem Lehnstuhl am Fenster saß. Gemeinsam tranken wir eine Flasche Wein und führten ein letztes intensives Gespräch. Als ich mich verabschiedete, hielt er immer noch den Herbstblumenstrauß in der Hand, den ich mitgebracht hatte.“
In der Epoche Kohls waren selbst politische Gegner noch Menschen geblieben.
Auch wenn’s in deinem Umfeld vielleicht nicht zu bemerken ist: So viele Dinge sind inzwischen schon mehreren Generationen abhandengekommen, sodass es vor allem die Aufgabe von uns Alten ist, daran zu erinnern und sie wieder lebendig werden zu lassen: Respekt, Rücksichtnahme, Höflichkeit — denn wie kann ein Zusammenleben gelingen ohne diese Eigenschaften? –, Verantwortung für sich und die anderen, Selbstdenken — „Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, das ist die Aufklärung“, sagt Kant —, die eigene Urteilskraft stärken und Überzeugungen gewinnen, Zweifel gestatten und andere Meinungen anzuhören. Und so wieder das zu finden, was die Säulen eines gelungenen Lebens sind: Vertrauen und Selbstvertrauen.
Mach’s gut und nochmals Dank für deine Zeilen!
E.
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