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Der Tod der Liebe

Der Tod der Liebe

Paarbeziehungen ohne Freiraum sind zum Absterben verurteilt — auch die Institution der Ehe gehört auf den Prüfstand.

Die Voraussetzung für die Entstehung neuen Lebens ist — noch — die Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann. Mit Liebe hat diese Begegnung oft nicht viel zu tun. Künstliche Befruchtung und Leihmütter gehören bereits zu unserer Normalität und die zunehmende Überwachung von Schwangerschaft und Geburt machen den Eintritt in das Leben eher zu einer Krankheit als zu einem freudigen Ereignis. Experten haben unsere Körper so lange in ihre Einzelteile zerlegt, dass man sie nun beliebig neu zusammensetzen und gestalten kann.

So geht die Ära des natürlichen Lebens auf der Erde zu Ende. Auf der Schwelle zu einer neuen Zeit sind wir mit der Frage konfrontiert, was wir denn unter Menschsein verstehen, unter Frausein und Mannsein. Keine leichte Aufgabe angesichts der etwa 70 Geschlechter, in die wir heute unterteilt werden, der Tatsache, dass es geradezu als politisch unkorrekt gilt, nur Mann oder nur Frau zu sein, und der Idee, künftig nicht mehr von Muttermilch zu sprechen, sondern von Menschenmilch und von Menschen mit Uterus.

Bevor es also Männer und Frauen nicht mehr gibt und wir uns ganz und gar von synthetischer Biologie und Künstlicher Intelligenz einverleiben lassen, haben wir noch einen Augenblick Zeit, uns zu fragen, wer zum Teufel eigentlich auf die Idee gekommen ist, dass Männer und Frauen unbedingt in Paaren unter einem Dach zusammenleben sollen. Besonders gut, das dürfte offensichtlich sein, hat das in den vergangenen Jahrtausenden nicht geklappt. Bevor wir uns also alle in Biocomputer verwandeln und uns der posthumanen Ära ergeben, sei die Frage gestattet, ob wir es nicht hätten anders machen können.

Der saure Apfel

Die Ehe oder Heirat im Sinne von Hausversorgung ist in unserer Kultur per definitionem eine förmliche und gefestigte Verbindung zwischen zwei Personen, die durch Naturrecht, Gesellschaftsrecht oder Religionslehre begründet und anerkannt ist. Das klingt so, als sei es schon immer so gewesen und als lebten wir seit Eva und Adam mit Trauschein zusammen.

Doch es war nicht immer so. Die zivilrechtliche Eheschließung in Deutschland geht auf den von Napoleon Bonaparte eingeführten Code civil zurück, der während der Restauration wieder abgeschafft wurde, sodass wir erst seit 1876 durchgängig standesamtlich verheiratet werden. Davor war die Kirche für die Vermählung der besseren Hälften zuständig. Seit dem 12. Jahrhundert kommt diese Verbindung durch den „Konsens der Partner“ zustande, durch den Mann und Frau einander in einem unwiderruflichen Bund gegenseitig schenken und annehmen.

Zu den Zielsetzungen der Ehe gehören unter anderem die Berechtigung einer sexuellen Beziehung, die Gewährleistung der Erbfolge und der männlichen Abstammungslinien und die Wahrung des sozialen Ansehens.

Seit jeher zog hierbei eindeutig die Frau den Kürzeren. Sie gab dem Mann ihre Sexualität und ihre Fortpflanzungsfähigkeit, übernahm kostenlos die häusliche Arbeit und die Versorgung der Nachkommen und bekam im Gegenzug eine relative materielle Absicherung. Die brauchte sie. Bis weit in das vergangene Jahrhundert hinein bedeutete die Eheschließung für viele Frauen zwangsläufig den Ausstieg aus ihrem Beruf.

Während der Mann die Erfolgsleiter erklomm, biss die Frau in den sauren Apfel. Das war der Preis dafür, dass wir nicht mehr wie die Wilden mit wechselnden Sexualpartnern lebten, von denen keiner wusste, vom wem er Vater war. So wird gemeinhin die Entwicklung von Gruppen- und Vielehe hin zur Monogamie als gesellschaftlicher Fortschritt gewertet. Von Erfolg jedoch wurde dieses Modell nicht gekrönt. Fast die Hälfte aller Ehen gehen wieder auseinander, ein Großteil bleibt nur wegen der Kinder oder des Hauses zusammen und recherchiert mehr oder weniger heimlich, ob sich nicht was Besseres findet.

Mehr Frust als Freude

So ist der Zeitpunkt gekommen, vielleicht nicht nur die Institution der Ehe infrage zu stellen, sondern auch die Vorstellungen, wie Partnerschaft zwischen Nurmännern und Nurfrauen auszusehen hat. Also nicht: Jeder kann jeden heiraten — sein Haustier, seinen Roboter und, wie fortschrittlich, jedes Geschlecht, das einem lieb ist, da ja die Nachkommen künstlich im Labor hergestellt werden können — sondern jeder macht sich Gedanken darüber, was eigentlich eine Liebesbeziehung ist.

Non, Chéri, ich bin nicht dabei, durch die Blume die Scheidung einzureichen. Ich persönlich heirate sehr gerne und habe es bereits zwei Mal getan. Doch in einer Zeit, in der eh alles durcheinandergerät, kann ja mal ganz ohne Hintergedanken gefragt werden, ob die herkömmliche Art des Paarlebens nicht mehr Frust als Freude bringt. Die Paare, die sich verabreden, im farblich aufeinander abgestimmten Outfit zu joggen und stets von „wir“ und „uns“ reden, können jetzt was anderes lesen. Alle anderen sind eingeladen, einmal kurz in Gedanken untreu zu werden. Ist noch jemand da? Also los.

In Freiheit lieben

Liebe gibt es nur freiwillig. Sie kann nicht erzwungen werden. Wir können uns noch so sehr anstrengen: Wenn da nichts funkt, dann funkt da nichts. Ist hingegen die Flamme da, dann ist sie durch nichts zu löschen. Nicht einmal der Tod kann der Liebe Einhalt gebieten. Liebe ist unsterblich und sprengt alle räumlichen und zeitlichen Rahmen. Sie durchdringt jede Gefängnismauer und verzeiht alles. Liebe ist das Größte, Höchste und Schönste, was es in unserer Welt gibt.

Die Liebe ist an nichts gebunden — außer an die Freiheit. Diese beide gehören zusammen. Da, wo man versucht, uns die Freiheit zu nehmen, da wird auch die Liebe in Mitleidenschaft gezogen.

Abstand ist die neue Nähe. Hände waschen. Umarmen und Küssen verboten. So sei die Vermutung erlaubt, dass das eigentliche Ziel des Transhumanismus nicht ist, dem Menschen durch immer mehr Überwachung die Freiheit zu nehmen. Es geht letztlich darum, die höchste Kraft, die größte Macht überhaupt zu vernichten: die der Liebe entspringende Schöpferkraft. Denn diese Vernichtung ist die Voraussetzung dafür, natürliches Leben in künstliches zu verwandeln und komplett zu dominieren.

Zum Glück

Bevor es so weit ist: Wie sähe eine Welt aus, in der Männer und Frauen in glücklichen und gleichberechtigten Beziehungen ohne faule Kompromisse zusammenleben? Ist ja nur ein Gedankenspiel. Also: Hat jemand eine Idee? Na gut, ich fang an. Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich gerne mit anderen Menschen zusammen bin. Mir ist es wichtig, mich mit anderen auszutauschen und zu lachen. Ich möchte, dass man mir zuhört, wenn ich Kummer habe, und ich höre auch gerne anderen zu. Ich mache gerne Geschenke und bekomme gern welche.

Ich liebe es, für andere zu kochen und mit ihnen zusammen zu essen, und ich singe und tanze gerne. Nein, dies ist keine Kontaktanzeige. Denn ich tu’s auch gern allein. Mir geht es gut, wenn ich mich aufgehoben fühle, geborgen, erkannt. Wenn ich eine intensive authentische Verbindung spüre, selbst in einem Moment voller Traurigkeit, dann empfinde ich Glück. Ich mag Zärtlichkeit. Ich liebe es, in den Arm genommen zu werden oder wenn mir jemand die Schultern massiert oder den Rücken, ... keine Sorge, weiter geht’s nicht.

Zu all dem brauche ich keinen Mann, der mit mir unter demselben Dach wohnt. Mein Glück hängt von der Qualität der Bindungen ab, die ich lebe, doch nicht von einem einzigen Mann! Der Arme wäre ja völlig überfordert. Wie sollte er das denn schaffen? Meinen ärgsten Feind würde ich nicht verantwortlich für mein Lebensglück machen. Was für eine Bürde würde ich dem anderen damit aufladen! Mit Liebe hätte das nichts zu tun.

Gott bewahre mich vor einem Mann, der versucht, sein Lebensglück aus mir herauszuziehen!

Wenn wir es nicht allein hinbekommen, glücklich zu sein, dann wird es auch zu zweit nicht gelingen. Und überhaupt: Mein Glück gehört mir. Niemand kann mich glücklich machen, außer ich selbst. Mein Glück hingegen mit jemandem zu teilen, macht mich noch glücklicher. Denn im Gegensatz zu Geld werden Glück und Liebe immer mehr, je mehr sie geteilt werden.

Die Pflanze nicht pflücken

Wir gegen den Rest der Welt klingt vielleicht am Anfang verführerisch. Für eine Weile hat man vielleicht tollen Sex, wenn man sich für besser hält als alle anderen. Aber auf Dauer wird es zu einem doppelten Egotrip. So was endet nie gut. Denn jeder Form von Erwartung schadet der Liebe. Diese Pflanze blüht nur in Freiheit. Sie verträgt keinen Druck. Diese Blume können wir nicht pflücken und in eine Vase stellen. Vielleicht hält sie eine Zeit, aber auf Dauer verwelkt sie und kommt nicht wieder. Wir können sie nur dort begießen, wo sie wächst.

Den Männern aufzubürden, die Frauen ernähren zu müssen und sie in die Abhängigkeit zu treiben, lässt die Liebe zwangsläufig verkümmern. So läuft die Ehe als wirtschaftliche Interessengemeinschaft darauf hinaus, die Liebe zu zerstören. Die Hochzeit ist oft die Hoch-Zeit einer vielleicht schon angeschlagenen Liebe, die durch den Akt des Feierns wiederbelebt werden soll. Ab jetzt geht es bergab: Entspricht der andere auch meinen Erwartungen? Hält er sich auch an die Vereinbarungen? Kommt er seinen ehelichen Verpflichtungen nach? Wehe, er schweift aus! Er gehört jetzt mir!

Let’s talk about Sex

Wie sanft die Fesseln auch sein mögen: Mit Liebe haben sie nichts zu tun. So leben wir in der Ehe vor allem unsere Bindungsängste aus: die Angst, allein zu sein; die Angst, nicht geliebt zu werden; die Angst, zurückgewiesen und verlassen zu werden. Allein fühlen wir uns nicht gut genug. Im Doppelpack fühlt es sich vielleicht am Anfang besser an und verleiht uns eine gewisse Stabilität. Doch auf Dauer können sich die Ängste nicht im Verborgenen halten und fordern ihren Tribut.

In solchen Bindungen geht die Freude am Sex mit Sicherheit verloren. Wie könnte es möglich sein, sich einem anderen Menschen freudig und vertrauensvoll hinzugeben, wenn bleierne Gewichte an einem selbst hängen — die eigenen und die des anderen? Zu einer wirklichen Begegnung kann es nur zwischen freien Menschen kommen. Ansonsten ist der Akt der Vereinigung zweier Körper nicht mehr als ein Kratzen, wenn es juckt, ein Niesen, die Erleichterung, es noch rechtzeitig zur Toilette geschafft zu haben.

Im Aufeinandertreffen zweier an Erwartungen gebundenen Menschen wird Sexualität zu einem mechanischen Feierabendakt, einem samstäglichen Bad, einem lästigen Familientreffen, bevor sie schließlich ganz versiegt. Von nichts kommt nichts. Die meisten denken dann, mit ihnen sei etwas nicht Ordnung. Gegenseitige Schuldzuweisungen machen das Ehebett zum Kampfplatz und schließlich zur Marterbank. Ihr können wir nur entkommen, wenn wir begreifen, dass wir in Ordnung sind. Das System ist es nicht.

Ein System, das unter dem Vorwand zu schützen mit Zwängen und Freiheitsentzug arbeitet, das die Geschlechter gegeneinander aufhetzt und die Beziehungen im alltäglichen Hamsterrad sich zu Tode rennen lässt, bevor es sie schließlich ganz überflüssig macht, tötet die Liebe.

Hier sind, wie Erich Fromm sagte, die Kranken die Gesunden. Sie spüren noch, dass etwas nicht stimmt. Sie können noch erkennen, dass die Kinder, die aus solchen Beziehungen hervorgehen, bereits traumatisiert auf die Welt kommen. Sie können dazu beitragen, die Liebe in ihr Lager zurückzuholen.

Lebensgemeinschaft

Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der die Liebe nicht an Bedingungen geknüpft ist. Vom Mann wird nicht mehr erwartet, dass er die Familie ernährt, und von der Frau nicht mehr, dass sie Mutter, Erzieherin, Zuverdienerin, Haushälterin, Gastgeberin und Sexbombe zugleich ist. Was auf einer Schulter lastete, wird auf viele verteilt. Malen wir uns Gemeinschaften aus, deren Mitglieder nicht isoliert in überteuerten Wohnboxen leben, sondern gemeinsam in weitläufigen Gebäuden mit Räumen zum Allein- und zum Zusammensein.

Es ist die Gemeinschaft, die für die Fürsorge der Kinder zuständig ist. Hier sind alle versorgt. Jeder hat seinen Platz und seine Aufgaben und bringt sich entsprechend seiner Eigenschaften und Talente für die Gemeinschaft ein. Die Kinder „gehören“ niemandem. Die soziale Elternschaft steht über der biologischen. Alle kümmern sich um die Nachkommen und geben ihnen die Liebe, die ein Mensch braucht, um sich entwickeln zu können.

So sind die Erwachsenen frei, erneut zu lieben, ob für eine Nacht oder für ein ganzes Leben. Es sind nicht die Männer, die die Frauen erobern, sondern die Frauen, die die Männer zu sich einladen. So wie es beim Akt der körperlichen Liebe kein Siegerspermium gibt, so ist die weiche Hingabe der Frau Voraussetzung dafür, dass der Funke überspringt. Wer sich auf diese Weise liebt, der kennt keine Erektionsstörungen und keine Frigidität. Erfüllt von wundersamem Erstaunen erfahren die Liebenden, was die körperliche Vereinigung zu einem heiligen, schöpferischen Akt macht: Sie erkennen sich im anderen.

Liebe kann alles

Die Ekstase hat einen Preis: den Verzicht auf die Vaterlinie. Die Kinder bekommen nicht den Nachnamen des Vaters, sie werden nicht von ihm versorgt und bekommen nicht sein Erbe, zumindest nicht erzwungenermaßen. Bei dieser Vorstellung, ich kann es direkt spüren, stellen sich männliche und weibliche Nackenhaare nicht aus Erregung hoch, sondern aus Empörung. Hat der Mann denn gar nichts mehr zu sagen? Soll noch mehr auf den Schultern der Frauen lasten?

Weder das eine noch das andere. Männer und Frauen haben beide gleichviel zu sagen und keiner trägt die Last des anderen. Es ist die Hausgemeinschaft, zu der sie gehören, die die Aufgaben trägt. So sind Mann und Frau frei, sich ohne Zwang und ohne Erwartungen zu begegnen. Sie brauchen einander nicht als Versorger und als Hausfrau, sondern werden wieder zu dem, was sie eigentlich sind: lebendige, lustvolle Wesen.

Das haben Männer und Frauen gemeinsam dem Transhumanismus entgegenzusetzen: ihre Liebe. Nur sie kann die Maschinerie stoppen. Nur die nicht an Bedingungen geknüpfte Liebe kann uns vor der totalen digitalen Überwachung und dem damit einhergehenden Verlust unseres Herzens, unseres Gehirns und unserer Seele bewahren. Andernfalls werden unsere Körper zwar funktionieren, doch innerlich werden sie tot sein. Das wäre die eine Seite. Auf der anderen wartet wirklich guter Sex.


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