Wann war das gewesen, als Fauna dämmerte, dass es nicht hinhauen würde? Lange genug hatte sie ja allerhand Überzeugungskünste aufgeboten, um sich selbst immer wieder in der für ihre Lebenshaltung unverzichtbaren Auffassung zu befestigen, das allgemeine Kräfteverhältnis entwickle sich unterm Strich und aller Rückschläge zum Trotz in eine durchaus vielversprechende Richtung.
Lady Optimizza
Aber auch der genügsamste Selbstbetrug braucht gelegentlich etwas feste Nahrung aus der Wirklichkeit. Folglich hatte sich Fauna auf jeden Happen Rebellion, der irgendwo aufzufinden war, gestürzt wie eine vom Hungertod Bedrohte auf einen Tisch mit zumeist recht kargen Speisen. Fauna war trotzdem zuverlässig in Euphorie ausgebrochen und hatte jeden Ansatz echter Rebellion sofort zum Beginn eines Welt umfassenden, revolutionären Tsunamis erklärt.
Im eigenen Wirkungsbereich hatte sie kaum eine Bewegung ausgelassen, von Castor-Kämpfen und Dresden-Nazifrei über Uni-Streiks gegen Studiengebühren und Freiheit für Kurdistan. Wo immer eine Bewegung losbrach, stand Faunas rebellisches Herz in lichten Flammen. So groß war ihre Sehnsucht nach dem großen, revolutionären Befreiungsschlag, dass sie 2008 sogar auf die Hope&Change-Kampagne von Barack Obama hereingefallen war.
Das war fürchterlich peinlich, im Nachhinein. Aber Fauna ahnte, wo sie ihre mildernden Umstände für dieses krasse Fehlurteil zu finden hoffen durfte. Denn es war die heimliche Verzweiflung an der Mehrheit und an den Zuständen in der Welt, die sie durch derlei Schübe weltrevolutionärer Euphorie wenigstens für eine gewisse Zeit des Feldes zu verweisen trachtete.
Ja, Fauna war Lady Optimizza, gab sich als unerschütterliche Optimistin.
Bis heute.
Heute hatte sich das endlich geändert.
Heute, das war der 12. Dezember 2019, exakt um 23:00 Uhr deutscher Zeit.
Fauna saß alleine vor ihrem Laptop und hatte drei Fenster auf YouTube geöffnet. Den Livestream der BBC, den Livestream von Sky News und, tatsächlich: The Sun, das übelste Revolverblatt, mit dem die menschliche Spezies je Gottes schönen Erdboden zu besudeln sich geleistet hat.
Es war der Tag der sogenannten „Brexit-Wahl“ in Großbritannien.
Vom Hinterbänkler zum Superstar
Nun darf man fragen, ob der Triumph der britischen Trump-Kopie Boris Johnson und die krachende Niederlage der Labour Party unter Jeremy Corbyn einen hinreichenden Anlass abgibt, einen Jahrzehnte währenden Daueroptimismus aufzukündigen.
Fauna hatte Corbyn einmal live erlebt. Ende der 1990er Jahre war das gewesen, bei einem Kongress jener trotzkistischen Kleinpartei, deren deutschem Ableger Donna Fauna damals in führender Position angehört hatte. Sie war unterwältigt gewesen von diesem Corbyn, der als einsamer linker Hinterbänkler einer zunehmend neoliberalen Labour-Fraktion im Unterhaus eine strategische Position von nahezu lachhafter Machtlosigkeit eingenommen hatte. Dieser Corbyn hatte zudem bei besagtem Kongress eine schwache Figur abgegeben, in der Debatte gegen einen alten Kämpen der revolutionären Arbeiterbewegung.
Eineinhalb Jahrzehnte später hatte Fauna demgemäß kaum fassen können, dass eben dieser langweilige Jeremy Corbyn wie aus dem Nichts die Urwahl der Labour Party für sich entschied. Jetzt hatte ausgerechnet diese Labour Party, die unter Tony Blair die Eingliederung der europäischen Sozialdemokratie in die Front des Neoliberalismus und der Kriegspolitik eingeleitet hatte, diesen einsamen Hinterbänkler Corbyn zum Vorsitzenden: einen Typen, der unter Blair öfter als 400 Mal gegen Gesetzesentwürfe der eigenen Regierung gestimmt hatte.
Wie dieser Jeremy Corbyn anschließend zu einem Superstar der europäischen Linken aufgestiegen war, hatte Fauna ungläubig verfolgt. Freudentränen hatte sie geweint anlässlich eines Videos von mehr als 100.000 Menschen, die diesem farblosen Corbyn beim Glastonbury Festival mit euphorischen Fan-Gesängen zujubelten. Als Labour schließlich im Jahre 2017 die Unterhauswahlen allen Umfragen zum Trotz mit einem großen Stimmenzuwachs abschloss, saß Fauna rotzbesoffen und bekifft mit einem irischen Maler vor dem Livestream der BBC und sie feierten bis weit in den roten Morgen dieser triumphalen Nacht.
Was für ein Debakel!
Die Unterhauswahl zwei Jahre später, gestern, ab 23:00 Uhr, hatte Fauna nüchtern und alleine absolviert. Was für ein Debakel!
Boris Johnson, ein notorischer Lügner, ein nutzloser Satansbraten der Oberschicht, ein Widerling, Rassist und ein neoliberales Aas gewann mit seinem doofen „We get Brexit done“ die Wahl auf ganzer Linie. Corbyn, der Fauna in den letzten Jahren höchst sympathisch geworden war, musste dagegen eine herbe Niederlage einstecken mit seiner Labour-Partei, die aber doch nach Mitgliedern, Kampagnenstrukturen und Inhalten so sehr gestärkt worden war, in Faunas Augen.
Das Handy läutete und der irische Maler war am Rohr. Wenigstens der sorgte für Kontinuität, denn er war rotzbesoffen und bekifft. Und er war ebenso ratlos wie Fauna ob dieses Wahlergebnisses. Relativ schnell kam das Gespräch zum Erliegen. Was will man auch dazu sagen, wenn eine Jahrhundertchance wie die Labour Party unter Jeremy Corbyn von einer Mehrheit der Bevölkerung achtlos weggeworfen wird, zugusten eines korrupten Elite-Zöglings mit Clownqualitäten?
Ja, sicher. Die Medien, die Medien, die Medien, die Medien. Es stimmte ja auch. Die Medien hatten Corbyn erbarmungslos niedergemacht, über Jahre hinweg. Hatten ihn lächerlich gemacht und zum Antisemiten erklärt, ihn, Corbyn, dessen Ehre als Antirassist über jeden Zweifel erhaben war. Aber es wurde diffamiert und aus dem Zusammenhang gerissen, es wurde gehetzt und gelogen und aus allen Winkeln geschossen — und nach und nach formte sich dieses Bild von einem ganz anderen Jeremy Corbyn. Es hatte mit dem höflichen, prinzipienfesten Mann, den Fauna Ende der 1990er in London entdeckt, aus den Augen verloren und als Labour-Chef wiederentdeckt hatte, nichts zu tun.
Das Bild dieses anderen Jeremy Corbyn setzte sich fest, Artikel für Artikel, Kampagne für Kampagne — und selbstverständlich fanden sich genug Leute aus der alten Truppe Tony Blairs, die sich als Stichwortgeber hergaben und Manöver gegen Corbyn in der Partei starteten.
Solche Abnutzungsschlachten durch anhaltende Schmutzkampagnen sind sehr unschön, in der Tat. Die Einflussnahme der Medien auf die gestrige Wahl mochte als beispiellos und skandalös bewertet werden können. Jedoch ist genau dieses eine waschechte, eine klassische Technik des Siegens, wie Fauna anerkannte. Eine feindliche Technik, freilich. Aber eine Technik des Siegens.
Techniken des Siegens
Eine Labour Party mit 500.000 Mitgliedern, einer hochprofessionellen Kampagnenorganisation von 40.000 Mitgliedern und einem Vorsitzenden Jeremy Corbyn war dieser Technik unterlegen. Wie eine Fußball-Mannschaft, die einem Gegner nicht gewachsen ist, der von der ersten bis zur letzten Minute mit offenen und versteckten Fouls und kleinen und großen Gemeinheiten die Moral der Truppe attackiert, hatte Labour keine Mittel gefunden, sich gegen diesen jahrelangen Dauerbeschuss zu behaupten.
Die Tories dagegen, eine parteiförmige Kampforganisation der Oberschicht, hatten Wege gefunden, auch in traditionellen Hochburgen der Arbeiterpartei zu siegen. Was waren das für Methoden? Es war die sehr alte, oft erprobte und weltgeschichtlich gesehen wenig originelle Methode, einen Spross der Oberschicht als Champion der Massen zu inszenieren. Dafür ist eine gewisse Rabaukigkeit hilfreich, denn das zeigt den Elitespross als leutseligen Kumpel. Dafür muss man einen äußeren Feind erfinden, der — und eben nicht die einheimische Oberschicht! — der eigentliche Vertreter allen Übels ist. Im vorliegenden Falle war dieser äußere Feind die Europäische Union.
Für diesen bürokratischen Moloch hegte nun Donna Fauna nicht die winzigste Sympathie. Sie hätte es lieber gesehen, Jeremy Corbyn hätte das Ergebnis des Brexit-Referendums akzeptiert und sich mit einer klaren Anti-EU-Linie und einem Konzept für einen „linken Brexit“ an die Spitze der Bewegung gestellt. Das Herumlavieren in dieser Frage war zweifellos ein riesiges Problem gewesen.
Fauna fand also, je mehr Stunden ins Land gingen und je mehr sie im Internet unterwegs war, durchaus die eine oder andere Erklärung für einen Wahlausgang, den sie bis zuletzt nicht für möglich gehalten hatte. Schön. Es half nicht über eine bittere Erkenntnis hinweg, die seit Langem schon an die Tür zu Faunas Oberstübchen klopfte und die sie bisher nie einzulassen bereit gewesen war.
Diese Erkenntnis bestand darin, dass „das Volk“, jene Zentralkategorie aller Befreiungskämpfe, jenes vermeintliche Subjekt der Subjekte im kollektiven Geschichtsprozess, dass dieses Volk für jemanden zu stimmen bereit war, der offenkundig für die Interessen der Herrschenden stand — und zwar auch dann, wenn es eine überzeugende, glaubwürdige und seit Jahrzehnten in den sozialen Kämpfen verankerte Alternative im Angebot gab.
Und blablabla, die Medien: auch dass eine Mehrheit doof genug war, auf die Kampagne einer von Rupert Murdoch und anderen Milliardärsekeln kontrollierten Presse hereinzufallen, sprach ja nun bitte eine deutliche Sprache.
„Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets die Ideen der herrschenden Klasse …“, hatte Karl Marx geschrieben, sicherlich. Nur sah sich Fauna diesen Zustand seit nunmehr drei Jahrzehnten an und es musste doch irgendwann einmal dahin kommen, dass die Verhältnisse zerrüttet genug waren, um auch die dümmsten Schafe nachdenklich werden zu lassen.
Aber die Lämmer schwiegen beharrlich weiter, ließen sich scheren oder schlachten.
Es war zum Weinen, fand Fauna — und weinte.
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