Marx betrachtete den Verlauf der menschlichen Geschichte als einen gesetzmäßigen Prozess gesellschaftlicher Höherentwicklung. Die historische Berechtigung des Kapitalismus sah er dabei in der ungehemmten Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte sowie in der Schaffung einer völlig neuen sozialen Klasse, der Arbeiterklasse.
Allein auf Grund ihrer besonderen Stellung im Produktionsprozess glaubte er, in den vom Kapital abhängigen Lohnarbeitern diejenigen gesellschaftlichen Kräfte gefunden zu haben, die in der Lage seien, den sich vollziehenden kulturellen Niedergang zu stoppen und – in dessen Folge – eine neue, menschliche, von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung freie und solidarische Gesellschaft zu errichten.
Der Kontrast konnte größer nicht sein: Ausgerechnet am Chemnitzer Denkmal für Karl Marx mit der aus dem Kommunistischen Manifest stammenden internationalistischen Losung „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ versammelten sich vor wenigen Tagen mehrere Tausend Menschen, um dort lautstark ihre völkisch-nationalistische Gesinnung kundzutun und die sofortige Schließung der deutschen Grenzen für alle Flüchtlinge und Asylsuchenden zu fordern.
Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht zu werden (1).
Diese Worte von Karl Marx machen deutlich, dass er zu seiner Zeit schon den ambivalenten Charakter erkannt hatte, der in der modernen Welt das Verhältnis von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und der kulturellen Entwicklung innerhalb der Gesellschaften kennzeichnet, denn „all unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen“ (2).
Gleichzeitig war er davon überzeugt, die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft müssten schon bald in eine soziale Revolution münden, deren Träger ein für alle Mal mit dieser verhängnisvollen Entwicklung Schluss machen würden, da – nach seiner Auffassung – „die neuen Kräfte der Gesellschaft, um richtig zur Wirkung zu kommen, nur neuer Menschen bedürfen, die ihrer Meister werden – und das sind die Arbeiter“ (3).
In diesen Aussagen von Marx verbindet sich seine große analytische Schärfe in der Beurteilung existierender gesellschaftlicher Zustände mit einer naiv anmutenden, nicht hinreichend begründbaren Zukunftsutopie, oder anders ausgedrückt: Seine beeindruckende Kenntnis gesellschaftspolitischer und ökonomischer Zusammenhänge wurde mit einer – aus heutiger Sicht – erschreckenden Unkenntnis über die Funktion der menschlichen Psyche verknüpft.
So erwartete Marx bereits in naher Zukunft das massenhafte Erscheinen eines Menschen, der in der Lage sei, die Widersprüche der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu lösen und damit sämtliche Verhältnisse der Ausbeutung und Unterdrückung zu beseitigen.
Der von ihm beschriebene Mensch, der mit seiner Wissenschaft und Technik „die Natur bezwingt“, gleichzeitig aber „durch andre Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht“ (4) wird, ist für ihn allein als Ergebnis der Antagonismen kapitalistischer Produktionsverhältnisse denkbar. Deshalb bedürfe es nur der Macht der Arbeiter, der „neuen Menschen“ eben, um mit all den genannten Widersprüchen und Verfallserscheinungen endgültig Schluss zu machen und diesen für immer ihre gesellschaftliche Grundlage zu entziehen.
Kulturelle und psychische Motive im Handeln der Menschen werden dabei in ihrer Bedeutung und relativen Eigenständigkeit bestritten und lediglich als ein Reflex – als „ideologischer Überbau“ – gegenüber der letztlich bestimmenden Rolle der „ökonomischen Basis“ der Gesellschaft betrachtet.
Allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse sowie deren besondere Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess sollten ausreichen, um einen neuen, völlig anderen Menschen hervorzubringen. Es entstand der Glaube an einen Menschen, der mit der Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zugleich auch den Willen und die notwendigen Fähigkeiten besitzen würde, um den hohen wirtschaftlichen und moralischen Anforderungen gerecht werden zu können, die an eine dem Kapitalismus überlegene gesellschaftliche Ordnung gestellt werden müssen.
Die Hoffnungen an den „neuen Menschen“ erfüllten sich nicht
Als dann im Jahre 1917 in Russland der erste erfolgreiche sozialistische Umsturz stattfand, waren die Erwartungen, die sich an diese Revolution ergaben, auch entsprechend hoch. Es sollte eine völlig neue Gesellschaft entstehen und ein Staat errichtet werden, „wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte“ (5). Viele der Revolutionäre waren noch sehr jung und voller Enthusiasmus.
All die großen Opfer, Entbehrungen und Grausamkeiten, die ein solcher Umsturz mit sich brachte, waren für sie unwichtig und wurden – wie Wassili Grossman später schrieb – „im Namen Russlands und der arbeitenden Menschheit begangen, im Namen des Glücks der Werktätigen“, denn für diese humanen Zielstellungen, und „nicht um ihrer Datschen und Autos willen bauten sie den neuen Staat“ (6).
Die Ernüchterung muss aber enorm und für viele äußerst tragisch gewesen sein, als sich die Hoffnungen an den „neuen Menschen“ nicht erfüllten, und die Führer der Revolution mit der Gleichgültigkeit und Trägheit großer Teile der Bevölkerung konfrontiert wurden.
So sprach Lenin bereits im Jahre 1919 „von massenhaften Fällen von Unterschlagung und Müßiggang, sinkender Produktivität, des Verderbens von Rohstoffen und Produkten und so weiter“ (7). Er stellte deshalb die Aufgabe, dass man „die ungeheure Macht der Gewohnheit und Trägheit überwinden“ müsse, denn „gegenüber der kapitalistischen Arbeitsproduktivität“ – so Lenin – „bedeutet der Kommunismus eine höhere Arbeitsproduktivität freiwillig, bewußt, vereint schaffender Menschen, die sich der fortgeschrittenen Technik bedienen“ (8).
Soweit die Theorie. Die Praxis dagegen änderte sich bald, aber nicht wie erhofft, denn aus der prophezeiten Freiwilligkeit und Bewusstheit vereint schaffender Menschen und den in den ersten Jahren nach der Revolution tatsächlich getroffenen positiven gesellschaftlichen Veränderungen wurde nach und nach ein diktatorisches Regime. Ein Regime, das die Revolutionäre von einst zu liquidieren begann, das die persönlichen Rechte und Freiheiten der Menschen rigoros einschränkte und mit nahezu allen Mitteln sowie unter großen Opfern den drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern suchte.
Sämtliche Versuche und Anstrengungen zur Schaffung einer demokratischen Selbstverwaltung in Wirtschaft und Gesellschaft scheiterten, denn sie trafen auf Menschen, die über Jahrhunderte zu Unterordnung und Fremdbestimmung erzogen worden waren und dies in ihrer Charakterstruktur fest verankert hatten, die in ihrer großen Masse weder vorbereitet noch fähig waren, eine derart große gesellschaftliche Verantwortung selbst übernehmen zu können.
Allein aus der Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der daraus resultierenden Umgestaltung des Wirtschaftsprozesses eine rasche Veränderung des Menschen und eine neue, menschliche Gesellschaft zu erwarten, erwies sich als eine illusionäre Auffassung vom Leben und führte schließlich zu einem neuen System autoritärer Unterdrückung, das keine Lösung der großen Menschheitsprobleme darstellen konnte, sondern das mehr und mehr selbst zu einem Teil dieser Probleme wurde.
Einige Zeit wirkte aber noch der feste Glaube an einen sich gesetzmäßig vollziehenden Prozess gesellschaftlicher Höherentwicklung, der, allen anfänglichen Schwierigkeiten zum Trotz, schließlich doch noch die Überlegenheit der neuen, sozialistischen Gesellschaft erweisen würde. Das Fehlen demokratischer Regularien führte jedoch zwangsläufig zu politischer Willkür und zu einem Missbrauch der Macht. Was unter diesen Bedingungen als der Besitz eines festen Klassenstandpunkts gepriesen wurde, war in Wirklichkeit oftmals nichts anderes als feiger Opportunismus und ein erschreckender „Verlust an Charakter“.
Es gab aber immer wieder auch kritische Stimmen, die sich – von einem antikapitalistischen Standpunkt ausgehend – gegen das in der sozialistischen Bewegung vorherrschende Menschenbild sowie gegen die dort existierende Sichtweise auf den geschichtlichen Verlauf und die damit erwartete Entwicklung der Gesellschaft wandten.
Tolstois Kritik an der „ökonomistischen“ Denkweise von Marx
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also noch einige Jahre vor den revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen in seinem Heimatland, schrieb der russische Schriftsteller Lew Tolstoi, dass es grundsätzlich nicht gelingen könne, die Lage des arbeitenden Volkes „nur durch irgendwelche Veränderungen der äußeren Verhältnisse“ maßgebend zu verbessern. Vielmehr werde sich das „Elend durch das alles nur vergrößern“, weshalb es auch „nichts Schädlicheres für die Menschen“ gäbe, als zu bestreiten, dass die Ursachen und Gründe für ihre jeweilige Lebenssituation zunächst einmal in ihnen selbst gesucht werden müssten (9).
Er begründete diese Aussage mit der schon über einen langen Zeitraum auf das Leben der Menschen einwirkenden abendländischen Kultur sowie mit den daraus entstandenen und inzwischen tiefverwurzelten Anschauungen und Einstellungen der Menschen, die sich, dieser kulturellen Prägung gehorchend, „in ihrem Leben von denselben Grundsätzen und Gesetzen leiten lassen, wie es ihre Unterdrücker tun“ (10).
So haben sie oft nicht nur die gleiche Charakterstruktur und vertreten nicht nur die gleiche Lebensanschauung wie diese, sondern sie würden sich in ihrer Mehrheit auch genauso verhalten und die Arbeit anderer auf die gleiche Weise ausnutzen, wie es die Herrschenden und Reichen schon seit jeher getan haben, wenn sie nur selbst die Macht dazu bekämen (11).
Wie bei den Herrschenden sei dann ihre Sorge vor allem auf das eigene Wohl sowie auf die Durchsetzung der persönlichen Interessen gerichtet, was schließlich ein gemeinsames Leben und Arbeiten der Menschen in Freiheit und Gerechtigkeit dauerhaft verhindere. Dafür würde aber eine Wirtschaftsordnung ermöglicht, die den Egoismus lehrt und damit die Gier nach materiellem Reichtum und Macht auch weiterhin befördert.
Solange die Menschen also nicht beginnen, sich selbst, ihr eigenes inneres Leben sowie ihr gesamtes praktisches Verhalten von Grund auf zu ändern, und solange sie nicht gewillt sind, eine neue, zum Teil völlig andere Kultur hervorzubringen, solange werden sie eben auch immer wieder dazu verführt sein, die einmal errungene Macht zu ihrem eigenen, persönlichen Vorteil auszunutzen und die dadurch gewonnenen Privilegien mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen (12).
Unter diesen Voraussetzungen kann ein gewaltsamer Umsturz der bestehenden Verhältnisse dann auch nicht zu der erhofften Befreiung aller arbeitenden Menschen führen, sondern immer wieder nur neue Gewalt und Unterdrückung erzeugen.
An die Stelle der alten Herrschaft über Menschen wird lediglich eine neue Form dieser Herrschaft treten. Die marxistische Theorie von der Funktion der ökonomischen Struktur als Grundlage der Gesellschaft und von der bestimmenden Rolle der materiellen Bedingungen für das gesamte gesellschaftliche Leben, einschließlich der Vorstellungen und Denkweisen der Menschen, betonte immer wieder ihren prinzipiell wissenschaftlichen Charakter. Sie führte im gesellschaftlichen Leben jedoch zu einer vereinfachenden Sichtweise und zu der folgenschweren Illusion, die Beseitigung der Unterdrückung des Menschen sowie die Schaffung sozialer Gerechtigkeit sei allein durch die Veränderung der dem Menschen „äußeren“ Bedingungen und Strukturen möglich und führe nahezu automatisch auch zu einer entsprechenden Veränderung der „inneren“ Struktur des Menschen, zu einem neuen Denken und Verhalten.
Zur Gesellschaftslehre von Marx gehört aber auch der Grundsatz, dass sich der Wahrheitsgehalt einer jeden Theorie erst in der Praxis, also im praktischen Lebensprozess der Menschen, bestätigen müsse. Der geschichtliche Verlauf hat die Bestätigung der marxistischen Grundauffassung von der gesellschaftlichen Entwicklung nicht erbracht. Sämtliche Versuche ihrer praktischen Umsetzung waren auf Dauer erfolglos.
Vor allem die Verhaltensweisen der Menschen änderten sich nach der erfolgten ökonomischen und politischen Umgestaltung der Gesellschaft nicht in dem erhofften Maße. Es kam nicht zur Herausbildung und dem massenhaften Erscheinen eines neuen, verantwortungsbewussten und uneigennützig handelnden Menschen.
Dafür schien sich aber die Erkenntnis von Marx immer mehr zu bewahrheiten, dass – bei einer fortschreitenden Naturbeherrschung unter den Bedingungen des Kapitalismus – „der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht“ (13) und in zunehmendem Maße beherrscht wird.
Marx wollte diesen „Verlust an Charakter“ jedoch nur für seine Zeit gelten lassen. Er war der festen Überzeugung, dass sich mit Hilfe einer sozialen Revolution und der damit verbundenen Neugestaltung der Eigentumsverhältnisse relativ schnell auch das Denken und Verhalten einer Mehrheit der Menschen entscheidend wandeln würde, dass schon bald ein zu Freiheit, Solidarität und humanem Handeln fähiger Mensch erscheinen und das gesamte gesellschaftliche Leben bestimmen würde.
Nach all den seither gemachten Erfahrungen wird jedoch deutlich, dass es ohne einen vorhergehenden Wandel in den kulturellen Bedingungen und Werten sowie ohne eine grundlegende Veränderung in der Charakterstruktur der Menschen auch keinen umfassenden und tiefgreifenden Wandel in den gesellschaftlichen Verhältnissen wird geben können.
In ihrem letzten, großen Roman schrieb Christa Wolf, dass es im Marxismus eine verrückte Überschätzung des Menschen gäbe, indem er uns glauben ließ, die derzeitige Menschheit sei zu sozialer Gerechtigkeit fähig:
„Ein schrecklicher Irrtum, den zig Millionen Menschen mit ihrem Tod bezahlt haben, aber eine generöse Idee und ein großes Kompliment an die Menschheit“ (14).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Marx, Karl: Rede auf der Jahresfeier des "People's Paper" am 14. April 1856 in London. In: MEW, Bd. 12. Berlin 1961, S. 3f.
(2) Marx, a.a.O., S. 4.
(3) Ebd.
(4) Marx, a.a.O., S. 3f.
(5) Grossman, Wassili: Alles fließt. Berlin 2010, S. 160.
(6) Grossman, a.a.O., S. 160f.
(7) Lenin, W.I.: Die große Initiative. In: Lenin Werke, Bd. 29. Berlin 1976, S. 414.
(8) Lenin, a.a.O., S. 411; S. 417.
(9) Tolstoi, L. N.: An das arbeitende Volk! Berlin 1903, S. 83; S. 90.
(10) Tolstoi, a.a.O., S. 86.
(11) Tolstoi, a.a.O., S. 86f.
(12) Tolstoi, a.a.O., S. 88f.
(13) Marx, Karl: Rede auf der Jahresfeier des "People's Paper" am 14. April 1856 in London. In: MEW, Bd. 12. Berlin 1961, S. 4.
(14) Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin 2010, S. 331.
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