Das ganze Lob auf den Fortschritt, den als Mantra verbreiteten Glauben an eine Verbesserung durch Technologie und Innovation, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Welt dadurch nicht etwa gesünder geworden wäre. Ganz im Gegenteil: Betrachten wir die Statistiken, können wir deutlich erkennen, dass Krankheit ein Ausdruck ist, der sich auf allen Ebenen und beinahe in allen Bereichen des Lebens zusehends verschärft hat. Paradoxerweise verzeichnen wir gerade bei den sogenannten Zivilisationskrankheiten einen stetigen, zum Teil sogar massiven Zuwachs. Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen sowie ein ganzer Kanon an psychischen Leiden, allen voran Erschöpfungssyndrome wie Burnout und Depressionen, haben beispiellos zugenommen.
Die gute Nachricht ist: Da, wo der Leidensdruck wächst, wächst auch der Wille zum Wandel. Spielte nicht ein verhängnisvoller Teufelskreis von Normopathie (1) und transgenerationaler Übertragung bestehender Traumata (2) mit – Phänomene eines kollektiven Unbewusstseins –, wir würden wohl in einer gesunden Welt leben. Weshalb ich „frei sich bilden“ als Königsweg bezeichne und warum sich dieser als Katalysator des Heilwerdens erweist, werde ich im Folgenden darlegen.
In der Tat kenne ich ein erhebliches Spektrum des aufgezählten Krankheitskanons durch eigene Erfahrung oder durch Beziehung zu Familienangehörigen.
Geboren 1971, wuchs ich in einer Zeit des prosperierenden Aufbruchs im Kielwasser der 68er-Bewegung auf. Meine Eltern waren liebend, jung und engagiert, meine Kindheit geprägt von einem breiten Feld an Möglichkeiten und verantwortungsvoller Mitarbeit im elterlichen Gastronomiebetrieb.
Ich trage viele goldene Momente in meiner Erinnerung; es bleiben mir aber auch viele Eindrücke, in denen sich mir die Welt der Erwachsenen voller Widersprüche und Ungereimtheiten komplett unverständlich zeigte und mich eingehend beschäftigte, ja zutiefst traurig stimmte: Ich fühlte mich wie der kleine Prinz auf einem fremden Planeten, der sich über die großen Leute wunderte. Schon früh begann mich die Frage umzutreiben: Was ist gesund und was ist pathologisch in dieser großen Welt und in meinem eigenen Leben, in dessen Verlauf ich mit unterschiedlichsten Krankheitsphänomenen konfrontiert wurde?
Als Säugling wäre ich beinahe am Kindstod gestorben; meine ganze Kindheit über litt ich immer wieder an starken Ohren- und Halsschmerzen; meine Mandeln und mein Blinddarm entzündeten sich und wurden entfernt. Später, in meiner Adoleszenz, reagierte ich mit Angststörungen. Ganz zu schweigen von einer gewissen Melancholie, die mich, wie mir scheint, von meiner Kindheit bis weit ins Erwachsenenalter begleitete. Gegen Ende meiner Zwanzigerjahre wurde ich konfrontiert mit Herzrhythmusstörungen, Burnout-Symptomen, wiederkehrenden Depressionen, psychotischen und manischen Zuständen; ich bekam schließlich einen ganzen Katalog an psychiatrischen Diagnosen verpasst – von ADHS über Bipolarität bis zu Asperger.
Ja, es gab sie, die markanten Schicksalsschläge, wie den Unfalltod meines jüngeren Bruders oder einen Hausbrand, bei dem ich völlig entwurzelt wurde und fast mein ganzes Hab und Gut verlor. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle schicksalhafte Ereignisse und Einflüsse meines Lebens zu beschreiben, die in ihrer Ursächlichkeit dazu beitrugen, dass ich verschiedenste Symptome entwickelte. Manches vermochte ich erst im fortgeschrittenen Alter in seiner ganzen Tragweite zu erfassen wie beispielsweise die Auswirkungen einer posttraumatischen Belastungsstörung meiner Mutter, die sich im Alter von knapp 12 Monaten schwerste Verbrennungen zuzog und daran beinahe gestorben wäre.
Das Feld ist breit und reicht über Missbrauchserfahrungen unterschiedlichster Art bis zu Verstrickungen, die an Episoden aus der griechischen Mythologie erinnern. Auf der Suche nach Linderung und Erkenntnis war ich zeit meines Lebens daran interessiert, Zusammenhänge und Ursachen zu erforschen. Ich wollte verstehen, den Dingen auf den Grund gehen. Gegen eine Behandlung mit Medikamenten wehrte ich mich dezidiert und kategorisch – bereits in meiner Kindheit. Der Erzählung meiner Mutter gemäß war es unmöglich, mir als Säugling ein Zäpfchen zu verabreichen, weil ich es gleich wieder ausschied. Jedes Mal, wenn es mir gelang, etwas aufzudecken oder zu erhellen, fühlte ich, wie ich meinem Ursprung näherkam, auch wenn diese Momente immer wieder sehr schmerzhaft waren und ich sogar phasenweise psychotisch wurde.
Bis zu einem bestimmten Punkt war es mir möglich, mein Leben gelingend zu gestalten und Träume zu realisieren, wie beispielsweise ein Musikerleben mit berauschenden Konzerttourneen oder die Veröffentlichung meines Buches „Denn mein Leben ist Lernen“ im Jahre 1999.
Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem „unbeschulten Menschen“ tauchte ich ein in ein Meer tiefgründiger Impulse für einen umfassenderen Blick auf das, was Gesundheit und Lebendigkeit bedeutet.
Es war mir stets bewusst, dass ich mich auf einer Selbstheilungsreise befand, dass ich dadurch ungeahnte und tiefe Einblicke in die menschliche Seele und unsere Körperlichkeit gewinnen durfte. Und dies ist wohl der alles entscheidende Punkt: Ich habe diese Phasen und Zustände nicht als Anlass genommen, mich damit zu identifizieren. Oder mit anderen Worten: Es war mir stets klar, ich war nicht die Diagnose.
Es geht nicht darum, damit zu kokettieren oder mich etwa beispielhaft dafür zu rühmen, dass es mir trotz aller Wehen gelungen ist, mehr und mehr heil zu werden. Schon gar nicht geht es darum, mich als jemanden darzustellen, der vom Leben besonders gebeutelt wurde. Wie eingangs erwähnt, und darin liegt die Tragik, gehöre ich nicht etwa zu einer Minderheit von Menschen, die solche Krankheitschroniken schreiben. Die meisten von uns, wenn nicht alle, sind oder werden aufgerufen, sich im Verlaufe ihres Lebens mit Heilungsprozessen zu beschäftigen, wie auch immer diese geartet sind.
Es geht mir darum, durch mein Sein, mein „So sein wie ich bin“, Impulse zu setzen und eine Lanze zu brechen für das Menschliche, das Gesunde, das Erhellende, denn wie Krishnamurti sagte: „Es ist kein Anzeichen von seelischer Gesundheit sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft anpassen zu können.“ Wir brauchen uns nicht dafür zu schämen, dass wir krank werden. Es ist ein Zeichen von Gesundheit, ein Streben nach Heilwerden.
Heilwerden bedeutet Versöhnung und Entspannung, aber auch das Zulassen von Verletzlichkeit, denn ohne Verletzlichkeit gibt es keine Lebendigkeit.
Gesundheit oder Krankheit, aus welcher Warte wir auch schauen, sind kein Zustand, sondern ein Prozess, bei dem es darum geht, stets ins Gleichgewicht zu streben.
Heil zu werden bedeutet aber auch, sich seiner Vergänglichkeit und gleichzeitig seiner Unendlichkeit bewusst zu werden. Es ist das Erkennen, dass ich, jeder Einzelne, wir alle so wichtig wie ein Körnchen Sternenstaub sind, nicht mehr und nicht weniger.
Unsere Welt aber ist von Maßlosigkeit, Konkurrenzkampf und Gier durchdrungen. Ihre Heilsversprechen sind in unsägliche Narrative gekleidet, zum Beispiel das Narrativ des „Homo oeconomicus“, das uns zu einer rücksichtslosen Ausbeutung jeglicher Ressourcen geführt hat, oder das Narrativ des „Homo educandus“, das längst nicht nur junge Menschen zu Unmündigen degradiert. Die Kombination von beiden ergibt einen toxischen Nährboden für krankhafte Machtexzesse in Politik und Wirtschaft, Religion und Kultur.
Und diese scheinen omnipräsent; wir sind geradezu umgarnt von Strukturen, die vordergründig normal scheinen, bei genauerer Betrachtung aber von Gewalt durchdrungen sind – strukturelle Gewalt (3), so weit das Auge reicht.
Wir denken vielleicht, Pathologisches entstehe vornehmlich durch extreme Stressbelastungen wie brachiale Gewalt, Missbrauch und andere Grenzerfahrungen. Doch es fängt damit an, dass die Haltung, andere als Objekte zu behandeln, in die Norm geschrieben ist, sie ist Teil unserer systemischen Struktur geworden. Sie ist systemimmanent.
Sie zeigt sich in einer kollektiven Erfahrung von Zwang zum Funktionieren, von Sinnlosigkeit, von Ohnmacht, vom Gefühl, ausgeliefert zu sein, und hierbei lediglich Bedingungen und Erwartungen erfüllen, sich ständig bewähren zu müssen.
In deren Folge ergeben sich psychische Zustände wie das Gefühl, nicht gesehen zu werden; das Gefühl, getrennt und ausgegrenzt zu sein; das Gefühl, nicht zu genügen, etwas zu verlieren oder entbehren zu müssen; die Angst vor Bedrohung, vor den Konsequenzen eines allfälligen Widerstandes, Rückzug, Einsamkeit, Resignation …
Dies sind Verarbeitungsstrategien vulnerabler, sensitiver Seelen; noch weit häufiger sind Strategien wie die Zähne zusammenbeißen, hart und ignorant werden.
Über allem steht der Versuch, sich taub zu machen.
Die ganz große Gesundheitskrise besteht darin, dass viele zivilisierte Menschen den Zugang zu ihren tieferen Gefühlsschichten und genuinen Gedankenwelten aufgegeben haben und sich stattdessen von Indoktriniertem leiten lassen.
Arno Gruen spricht vom „Wahnsinn der Normalität“ (4), Erich Fromm von der „Pathologie der Normalität“ (5). Als Pionier widmete sich Fromm systematisch den Grundzügen einer normopathischen Gesellschaft. In einem Interview aus dem Jahre 1977 äußerte er sich wie folgt:
„Die Normalsten sind die Kränksten, und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmt. Glücklich, der ein Symptom hat“ (6).
Es klingt vielleicht vermessen, aber er bringt damit zum Ausdruck, was ich in meiner Kindheit intuitiv wahrgenommen hatte, eine Wahrnehmung, die mir letztlich die Möglichkeit eröffnete, bei mir zu bleiben. Des Weiteren führt Fromm aus:
„Sehr viele Menschen, das heißt die Normalen, die sind so angepasst, die haben so alles, was ihr Eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, so Instrument, so roboterhaft geworden, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden; das heißt: ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Hass, das ist schon so verdrängt oder sogar so verkümmert, dass sie das Bild einer chronischen, leichten Schizophrenie bilden.“
Einiges spricht dafür, dass auch rein physische Krankheit sich letztlich auf Psychisches zurückführen lässt. Egal, ob psychisch, psychosomatisch oder „nur“ somatisch – wo Krankheit chronisch wird, verlässt das Kranke das Gesunde. Da wird Krankheit zum ernst zu nehmenden Widersacher des Lebendigen.
Die meisten unter uns tragen Verwundungen in sich. Sie gehören zum Leben. Es sind beileibe nicht nur Schicksalsschläge verursacht durch Naturgewalten oder den Tod eines geliebten Menschen, sondern auch die Verletzungen von Übergriffigkeit und Demütigung, Kränkung und Herabwürdigung – und man könnte meinen, in dieser Welt seien sie normal und gehörten zum Leben wie die Luft zum Atmen.
Das Vermächtnis einer schwarzen Pädagogik, wie sie uns Katharina Rutschky (7) vor Augen führte, tragen viele von uns noch immer in ihren Adern. Im Alter von neun Monaten wurde ich von meinem Vater – selbst ein „Opfer“ seiner Erziehung – während der Nacht in eine dunkle Kammer gesperrt, wo ich mir die Kehle aus dem Hals geschrien habe, bis ich schließlich verstummte. Wenn ich ungehorsam war, züchtigte er mich; auch dann und wann mal mit dem Teppichklopfer. Ich habe ihm längst vergeben und mich versöhnen dürfen. Wirkliches Heilwerden wäre sonst gar nicht möglich geworden. Meine Erfahrung, selbst Vater zu werden und mit eigenen Sinnen wahrzunehmen, wie subtil diese Mechanismen wirken, wenn unbewusste Prägungen und psychische Elterneinflüsse in der Identifikation als Vater sich Gehör verschaffen wollen, war äußerst befreiend.
Alice Miller arbeitete diesen psychodynamischen Sachverhalt meisterhaft in Werken wie „Am Anfang war Erziehung“ oder „Das Drama des begabten Kindes“ heraus. Dass sie selbst als Mutter in Bezug auf ihren eigenen Sohn Martin (8) durch ihre eigenen Erkenntnisse nicht davor gefeit war, sich in ihren ungelösten Anteilen mit ihrem Sohn zu verstricken, zeigt, wie hartnäckig solche Wirkkräfte sich erhalten wollen.
Vater zu werden mit allen Schattierungen war für mich eine der stärksten Heilerfahrungen.
Meinen Sohn kompromisslos als Subjekt zu betrachten, ihn nicht zu „behandeln“, was er mir, wenn ich mich in alten Verstrickungen verirrte, jedes Mal mit einer erstaunlichen Klarheit zu verstehen gab, wurde mir zum permanenten Spiegelbild meiner eigenen Lebendigkeit. Das Leben, als frei sich bildender Mensch, als der ich mich verstehe und in dessen Geiste ich meinem Sohn begegne, wirkte und wirkt wie ein Katalysator auf meine Heilwerdungsprozesse und die meiner Angehörigen.
In einem Raum, in dem wir uns als Subjekte begegnen, entsteht Frieden und Kohärenz in und um uns. Es ist der Raum, in dem Heilungsprozesse begünstigt werden.
Hans-Joachim Maaz (9), der weithin bekannte deutsche Psychiater und Psychoanalytiker, hat sich auf die Folgen der Frühstörungen spezialisiert und nennt folgende acht Erfahrungen, die unabdingbar sind für eine gesunde Entfaltung, welche uns befähigt, wahres Glück zu empfinden:
- Ich bin berechtigt.
- Ich kann frei bleiben.
- Ich bin geliebt.
- Ich kann autonom handeln.
- Ich kann expandieren, also meine Hemmungen überwinden.
- Ich kann etwas Eigenes schaffen.
- Ich erlebe mich von anderen unterstützt.
- Ich kann meine Begrenzungen akzeptieren.
Doch unsere Systeme sind nach wie vor durchtränkt von Machenschaften, die aufgrund eigener seelischer Verwundungen als normal eingeschätzt werden. Trotz aufkeimender Wokeness werden dadurch – und ich erachte dies als äußerst bedenklich und problematisch – normopathische Tendenzen nicht etwa durchbrochen, sondern von einer subtilen Mischung aus scheinheiliger Moral und sequenzierter Toleranz sogar befeuert. Der spaltende Gutmensch erliegt dadurch der unheimlichen Illusion einer durch schablonenhafte Rechthaberei geschönten heilen Welt. Maaz schreibt: „Die gespaltene Welt ist das Schlachtfeld des falschen Selbst“ (10).
Solange wir uns unserer Verletzungen bewusst werden und die Möglichkeit haben, diese mit uns zugewandten Menschen anzuschauen, haben wir gute Aussichten, einen konstruktiven Weg zu finden, damit umzugehen. Wir können lernen, unseren energetischen Fluss kontinuierlich zu reinigen und in der Balance zu bleiben.
Bedeutend anspruchsvoller ist es, sich mit transgenerationalen Traumata, aber auch mit frühkindlichen Ereignissen auseinanderzusetzen! Sie liegen in uns verborgen, und wir tragen sie als integralen Bestandteil unserer Persönlichkeit mit uns herum. Wir wissen nicht darum, haben allenthalben Vorahnungen. Wir merken, dass gewisse Bereiche oder gewisse Schlüsselreize, Trigger, in unserem Leben belastet sind. Es fühlt sich tatsächlich wie ein unsichtbares Gewicht an; etwas, das lähmt. Widerstände und Energielosigkeit, irrationale Reaktionen wie eruptive Wutausbrüche oder aus dem Nichts kommende Lähmung oder Blockade. Die Symptome sind vielfältig und keineswegs nur laut und auffällig.
Heil zu werden bedeutet, dass wir versuchen, den Ausdruck und die Zeichen unseres Unbewussten zu verstehen, es wagen, uns den Klängen und Farben tieferer Sphären zu öffnen, selbst wenn es schmerzhaft sein sollte und wir uns unseren Wunden stellen. Dafür müssen wir wahrhaftig werden.
Seelischer Schmerz manifestiert sich stets auch körperlich. Gerade in der Verbindung mit dem Körper, unserem Leib, gelingt es uns, wesentliche Muster im Seelischen zu erkennen und Heilungsprozesse zu erwirken. Mit bildgebenden Verfahren konnte in neurobiologischen Versuchen gezeigt werden, dass seelischer und körperlicher Schmerz in denselben Regionen unseres Gehirns verarbeitet werden und sogar mit denselben Schmerzmedikamenten gelindert werden können. So verwundert es auch nicht, wenn betäubende Substanzen und Handlungen Hochkonjunktur haben. Auch den Mechanismen von Sucht haben wir uns zu stellen, wenn wir „ganz“ werden wollen. Dabei sollten wir uns deutlich vor Augen führen, dass Gewalt, auch wenn diese kurzfristig erfolgreich scheinen mag, nicht zu wirklicher Gesundheit führen wird.
Das Heil liegt nicht in zivilisatorischen Systemen, die von einem Bewusstsein besserwisserischer und bevormundender Kontrollfantasien und überheblichem Machbarkeitswahn durchdrungen sind. Gesundheit kann im Grunde genommen genauso wenig verordnet werden wie Bildung. Wird sie verordnet, so verkommt sie zur Farce, zur Doktrin, schlimmer noch: zum krank machenden Fremdkörper. Dass Staatlichkeit – weit häufiger als gemeinhin gedacht – selbst vor extremen Eingriffen wie Zwangseinweisung oder körperliche Fixierung nicht zurückschreckt und damit in ihrer Fürsorge Menschen aktiv traumatisiert – was ich am eigenen Leibe erfuhr –, ist ein unmissverständliches Zeichen für eine normopathische Gesellschaft. Wir bewegen uns zurzeit mit schnellen Schritten auf eine totalitäre Gesundheitsdiktatur zu, in der uns bis in unsere intimsten Bereiche vorgeschrieben wird, wie wir uns zu verhalten haben. Bis in unseren Mikrokosmos hinein sollen wir uns staatlicher und mittlerweile auch schon überstaatlicher Kontrolle ausliefern.
Dabei sehnen wir uns nach Sicherheit und Geborgenheit und geben uns der Illusion einer Versicherung durch andere hin. Dies mag auf einer materiellen Ebene funktionieren, auf einer geistigen Ebene bedeutet dies, sich im Fundament seiner Essenz zu schwächen, wenn nicht sogar aufzugeben. Wir machen uns dadurch selbst zum Objekt, wir geben die Verantwortung ab, wir verlassen unseren Ursprung.
Das englische Wort „security“ – Sicherheit –, abgeleitet aus dem lateinischen „securare“, was so viel bedeutet wie „sich selbst heilen“, weist aber einen gänzlich anderen Weg, den Weg in mein inneres Heiligtum, mein Königreich. Mein Körper ist der Tempel meines Geistes. Wir alle besitzen mit Beginn unserer Existenz die Fähigkeit, in unseren Körper hineinzuhorchen und uns mit dem Geistigen zu verbinden. Diese Kompetenz entspringt unserer Urnatur. Es ist genau diese Kompetenz, die sich frei sich bildende Menschen im besten Fall erhalten oder aber wieder erschaffen.
Der frei sich bildende Mensch ist der sich selbst heilende, der sich selbst heiligsprechende Mensch – ohne Attitüde von Überheblichkeit oder Ego-Befriedigung, sondern in einer Haltung von Demut für eine allumfassendere Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein, dass jedes Wesen von Geburt an über Freiheit und Selbstbestimmtheit verfügt.
Wer den Weg eines frei sich bildenden Menschen einschlägt, entscheidet sich für eine äußerst radikale Verantwortungsübernahme in seinem Leben, die unweigerlich sämtliche Lebensbereiche tangieren wird; es ist ein umfassendes Ja dazu, aus der Opferrolle auszusteigen.
Heil zu werden bedeutet auch, sich zu befähigen, Nein zu sagen – radikal und kompromisslos –, sich abgrenzen zu können und dürfen, sich seiner eigenen Rhythmen bewusst zu werden.
Es bedeutet, sich vollumfänglich ernst zu nehmen.
Wir können das Leben als Reise betrachten, auf der wir uns dem Heldenhaften und Grenzwertigen stellen, um uns dem Heilsamen zuzuwenden, wollen wir nicht dem Siechtum erliegen. Wir alle sind verwundbar, gleichzeitig aber auch mit wundersamen Selbstheilungskräften und einer erstaunlichen Fähigkeit zur Resilienz ausgestattet. Sein eigenes Glück, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen erfordert von uns, unsere Komfortzone zu verlassen und unsere eigene Trägheit zu überwinden. Das Geschenk, das sich daraus ergibt, ist ein Gefühl von Wachstum und Lebendigkeit. Jedes Hindernis, das uns unser Leben offenbart und das wir meistern, wird uns in unserer Selbstwirksamkeit bestärken. Dabei handelt es sich weniger um das Einlösen eines schnellen Heilversprechens als um ein zyklisches Auflösen von Beschwerlichem und Erstarrtem, um mehr und mehr in eine Leichtigkeit des Seins zu finden.
Dabei kommen wir in die Erfahrung des NUN, die Gegenwart der Präsenz. Sowohl im Englischen als auch im Französischen steht dasselbe Wort – „PRESENT“ – für das Geschenk und das Gegenwärtige. In diesem Bewusstseinsstrom können wir loslassen, unsere Gedanken, unsere Sorgen, unsere Wunden.
Der goldene Schlüssel, ja unsere Achillessehne, sind unsere Söhne und Töchter. Wenn wir aufhören, sie als Objekte zu behandeln, und das Tor zu einer tiefen und respektvollen Beziehung öffnen – verbunden und doch klar abgetrennt –, wird Versöhnung und Heilung auf allen Ebenen geschehen. Denn: Was diese Welt dringendst braucht, sind Menschen, die sich mit sich und dem Kosmos versöhnt und verbunden fühlen. Menschen, die so in sich ruhen, dass sie es vermögen, Teufelskreise in Engelskreise zu verwandeln. Indem wir in unserem eigenen Königreich erstarken, können wir in die Liebe zu uns selbst und zu allem, was uns umgibt, finden. Es ist unsere Urpotenz, die erstrahlt, unser Pleroma, das – wieder – zu leuchten beginnt.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe hierzu beispielsweise Christian Dittrich-Opitz, Christian Salvesen: Normopathie, Kamphausen, Bielefeld 2021
(2) Siehe hierzu beispielsweise Katharina Drexler: Ererbte Wunden heilen, Therapie der transgenerationalen Traumatisierung, Klett-Cotta, Stuttgart 2007
(3) Siehe hierzu beispielsweise Franziska Klingkit: Wer sein Kind liebt …, Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt, tologo verlag, 2015 (vergriffen), Neuauflage in der proGenia Edition in Vorbereitung
(4) Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität, Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität, Kösel Verlag, Kempten 1987
(5) Erich Fromm: Die Pathologie der Normalität, Zur Wissenschaft vom Menschen, Ullstein, 2005
(6) Erich Fromm im Interview: 21:53, https://www.youtube.com/watch?v=sVd4dKH3vng
(7) Katharina Rutschky (Herausgeberin): Schwarze Pädagogik, Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Ullstein, 1988
(8) Martin Miller: Das wahre «Drama des begabten Kindes», Die Tragödie Alice Millers, Herder, Freiburg 2016
(9) Vortrag von Hans-Joachim Maaz, Worthaus, Quellen des Glücks
(10) Hans-Joachim Maaz: Das falsche Leben, Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft, C. H. Beck, München 2017, Seite 50