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Der heimliche Held

Der heimliche Held

Guiseppe Verdis Opernheld Falstaff entzieht sich der Kriegslogik und besteht — für uns alle zum Vorbild — auf seinem Recht auf Glück.

In heroischen Zeit regiert die Moral, und man stirbt für Abstraktionen — nein, besser, man lässt für Abstraktionen sterben. Man nennt sie Werte, die in Wahrheit selbstredend Interessen sind, recht primitive in der Regel. So weit, so alt. Man ruft die Helden zusammen, die die Welt vor dem Bösen retten sollen, was immer die aktuelle Mode — oder die Interessen — dazu macht. In heroischen Zeiten regiert das Entweder-Oder. Dazwischen ist nichts. Man verlangt, dass eine Wahl getroffen werde, und die Wahl für das eine bedeutet zugleich die Zerstörung des anderen. Der dritte Weg — oder Frieden — ist keine Option.

Was hat eine Figur wie Falstaff in einem solchen Szenario verloren? Ein saufender, raufender, fetter Ritter, der in grandioser Selbstüberschätzung den Frauen nachstellt und sich dabei fortlaufend zum Gespött macht.

Sir John Falstaff ist ein Ritter, doch seine Ritterpflichten kümmern ihn wenig. Er ist kein Held, nicht einmal ein Antiheld. Er gilt als Feigling, als Verderber der Jugend. Was tut er in der Sphäre der Macht, der großen Politik, bei den Königen und den Prinzen (in „Henry IV.“), will er doch mit Macht und Politik nichts zu tun haben? Nein, Falstaff ist eine Art Gegenveranstaltung zur Politik, einer, der sich durchwurschtelt, ein Schurke, ein Drückeberger. Mit anderen Worten: Falstaff ist ein Schelm, ein Trickster.

„Falstaff’s a rogue, yet he warms the heart“ (A.R. Humphreys)

Er versteckt sich in Körben und hinter Paravents. In einem Kampf stellt er sich lieber tot, als den Heldentod zu sterben — der ihm wegen klarer Unterlegenheit sicher gewesen wäre. Falstaff ist kein Held — und bleibt am Leben. Falstaff, der Trickster, gewinnt seine Lebensenergie aus dem Menschenmöglichen, das in den großen weiten Gewändern des Universums zu Hause ist und das in einem tödlichen Entweder-Oder als Oktroy jämmerlich erstickt.

Falstaff, der feige, quasi desertierende (vergleiche Ulrike Guérot zu „Le Déserteur“ von Boris Vian), komische Dicke konfrontiert uns mit der Frage, was denn wohl „heldenhaft“ sei. Mit fliegenden Fahnen gegen einen übermächtigen Kontrahenten in die Schlacht zu ziehen und zu sterben?

Oder doch lieber die Kunst der kreativen Subversion zu üben, wie unelegant auch immer.

„Can honour set to a leg? No. Or an arm? No. Or take away the grief of a wound? No. Honour hath no skill in surgery, then? No. What is honour? A word. What is in that word, honour? What is that honour? Air. (...) Honour is an mere scrutchion (gemalter Schild)“ (Falstaff in Henry IV, Teil 1, V. Akt, Szene 1).

Ehre, Freiheit, Demokratie — sie alle werden zu Luft in heroisch-kriegerischen Zeiten. Was aber bedeutet Freiheit, wenn es immer mehr Moral und immer weniger Brot gibt? Moral und Werte und verwandte Plastikwörter wärmen für eine kurze Weile die kalten Seelen derjenigen, die andere zu Krieg und Heldentod verurteilen, bis auch sie feststellen müssen, dass die Moral seit jeher eine trügerische Verbündete ist — und dass man sie nicht essen kann.

Ehrpusseligkeit ist nicht die einzige Konvention, die Falstaff in Frage stellt. Anstatt für den Krieg eine ordentliche Truppe zusammenzustellen, wirbt er zerlumpte Söldner an — und entlässt diese „ragtag army“ auch gleich wieder. Ist das nicht eine wunderbare Idee?

Was aber tut er da? Ist das politische Vernunft? Was soll das sein? Heißt politische Vernunft, Krieg zu führen? Das Gefühl haben zu wollen, mit den großen Jungs spielen zu dürfen — die by the way noch trügerischer sind als die Moral? Falstaff weiß, dass es im Krieg keine Gewinner gibt und dass die Zerstörung von Feinden weit davon entfernt ist, dem eigenen Leben irgendeine Art von Bedeutung und Sinn zu geben.

Man sollte sich aber davor hüten, all die Grausamkeiten andauernder Kriege mit „der“ Natur „des“ Menschen oder gar der ganzen „Menschheit“ erklären zu wollen, wie es derzeit häufig von zerknirschten Wohlmeinenden vorgetragen wird, die im Geschichtsunterricht gefehlt haben.

Die berühmt-berüchtigte Hobbes’sche Erfindung ist eine Beschreibung von Vorkommnissen in seinem zerrütteten England, eine Erfindung, die die Grausamkeiten dem „menschlichen“ Wolf andichtet, während die wahren Übeltäter und Profiteure davonkommen.

Falstaff, der komische Nicht-Held, kümmert sich keinen Deut um hehre Moralität und um abstrakte Werte. In der Komödie und manchmal sogar im Königsdrama zeigen die Falstaffs dieser Welt die Fähigkeit der Menschen, zu überleben und die Fortdauer des Lebens selbst zu feiern. Sie zeigen eine ganz und gar unheroische Form von Widerstand, der ausgesprochen subversiv ist, der es versteht, zu täuschen und sich zu verstellen, und auf vielen verborgenen Wegen sein Ziel erreicht, ein Widerstand, der keine Schlagzeilen macht und der sich ums Überleben kümmert, was keineswegs trivial ist. Das ist die Komödie auch nicht, am allerwenigsten übrigens der Schelmenroman, der seinen Ursprung in Zeiten des Krieges und bitterster Armut, der Kriminalisierung der Armut und der Hexenverfolgung hat, einer Zeit, die eine bekannte europäische Selbstvergewisserungserzählung als „Renaissance“ bezeichnet.

Es sind die Falstaffs, die die richtigen Fragen stellen — besonders in Zeiten, in denen die Komödianten zur Obrigkeit überlaufen und ihre Scherze auf Kosten derjenigen machen, die nichts mehr zu lachen haben, wie es dieser Tage geschieht, wenn Plädoyers für Frieden als kriegerischer Akt gewertet und in politische Schmuddelecken geworfen werden.

In solchen Zeiten ist ein Gemeinwesen in tödlicher Gefahr.

Heroische Zeiten mit ihrer abstrakten Prinzipienmoral, mit ihren unterkomplexen Freund-Feind-Dichotomien, ihrer Geschichtsvergessenheit, ihren Diffamierungen und Verleumdungen und ihrem Vernichtungswillen sind in Wahrheit erbärmliche Zeiten voller tumber Zivilisationsverweigerung primitiver Figuren mit primitiven Bedürfnissen, Zeiten voller Feigheit und Angst vor dem wirklichen Leben, vor seiner Kakophonie und seiner unberechenbaren Unübersichtlichkeit.

Der Frieden ist immer anstrengender als der Krieg. Die Wirklichkeit ist immer anspruchsvoller als das primitive Entweder-Oder, das alles Menschenmögliche und alle Vernunft zurückweist.

Gegen Ende der Ilias trifft der übergroße Held Achill auf Hektor, der versucht, einen Streit auf zivilisierte Art zu beenden. Doch Achill hat kein Interesse am Frieden. Er weist Hektor zurück, indem er ihm kurzerhand das Menschsein abspricht. „Es gibt keinen Schwur zwischen Mensch und Wolf oder Wolf und Lamm“, lässt Achill ihn wissen. Der Held, der bis weit in die Neuzeit hinein Rollenvorbild für junge Männer von Stand war, besteht darauf, der Jäger zu sein und Hektor seine Beute — eine Beute, die nicht menschlich sei. Wenn aber die Beute nicht menschlich ist, kann Achill alle Regeln ignorieren und alle Zügel fahren lassen in blinder Raserei.

„Achill, das Vieh“ heißt der zornige Held in Christa Wolfs „Kassandra“ — was in der fast ausschließlich männlich besetzten Altphilologie zu heftiger Schnappatmung führte. Der Psychiater Jonathan Shay fand in der Ilias Erhellendes für Berserkertum und Persönlichkeitsauflösung durch Kriegstraumata bei Veteranen des Vietnamkrieges. Nichts Neues, wo man hinsieht.

Falstaffs und seine Freunde in der Republik der Schelme, die stets die Auswege durch die Hintertür finden, die sich absichtsvoll zwischen alle Stühle setzen, die lachen, wenn es besonders ernst ist, die mehr Anarchie wagen, die moralisch Hochbegabten aus dem Weg gehen, die in Zeiten flächendeckender Manipulation den Spieß herumdrehen und Lügengeschichten schreiben sowie subversive Persönlichkeitsanmaßung betreiben. Sie sind der Riss, durch den das Licht hereinkommt (vergleiche Madita Hampe zu „Anthem“ von Leonard Cohen).

Schelme und Trickster gibt es überall auf der Welt — im Unterschied zu Helden. In klugen Kulturen lässt man sie ihre Arbeit tun. Eine davon ist, den Helden zu zeigen, wie strunzdumm sie sind. Wie es auch Falstaffs Freund Yossarian in Joseph Hellers „Catch 22“ tut.

„Du redest davon, wie der Krieg gewonnen werden kann, und ich rede davon, wie der Krieg gewonnen werden, ich aber am Leben bleiben kann.“

„Ganz richtig“, antwortete Clevinger schnell und selbstzufrieden. „Und was, glaubst du wohl, ist wichtiger?“ „Wichtiger für wen?“, schoss Yossarian zurück.

„Mach doch endlich die Augen auf, Clevinger. Einem toten Mann ist es völlig egal, wer den Krieg gewinnt.“

What is honour?

Ich danke Ugo d’Orazio für die musikalische Beratung.


Verdi: Falstaff- Finale


Medienpartner

Nacktes Niveau (Paul Brandenburg), Punkt.preradovic, Kaiser TV,
Hinter den Schlagzeilen, Demokratischer Widerstand,
Eugen Zentner (Kulturzentner), rationalgalerie (Uli Gellermann), Protestnoten, Radio München (Eva Schmidt), Basta Berlin, Kontrafunk und Ständige Publikumskonferenz.

Weitere können folgen.

Ablauf

Samstag 9.7.2022 SONG Fortunate Son (Creedence Clearwater Revival)
TEXT Marcus Klöckner, Die Doppelmoral der Kriegsmacher — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 15.7.2022 SONG Redemption Song (Bob Marley)
TEXT Jens Fischer Rodrian, Botschafter für eine gerechte Welt — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 23.7.2022 SONG Friedensbewegung (Kilez More)
TEXT Eugen Zentner, Liebe und Leidenschaft — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 30.7.2022 SONG Es ist an der Zeit (Hannes Wader)
TEXT Roland Rottenfußer, Der wirkliche Feind — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 6.8.2022 SONG War — what is it good for? (Edwin Starr)
TEXT Lüül, Wozu ist Krieg gut? — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 13.8.2022 SONG Another brick in the wall (Pink Floyd)
TEXT Alexa Rodrian, Der Ziegel in der Wand — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 20.8.2022 SONG Anthem (Leonard Cohen)
TEXT Madita Hampe, Durch alles geht ein Riss — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 27.8.2022 SONG Feeding off the love of the land (Stevie Wonder)
TEXT Nina Maleika, Zurück zur Verbundenheit — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 3.9.2022 SONG Drei Kreuze für Deutschland (Prinz Pi)
TEXT Nicolas Riedl, Der Sog des Krieges — zur Aktion Friedensnoten

Samstag 10.09.2022 SONG Masters of war (Bob Dylan)
TEXT Wolfgang Wodarg, Meister der Kriege — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 24.09.2022 SONG Die Welt im Fieber (Karat)
TEXT Maren Müller, Die Welt im Fieber — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 1.10.2022 SONG Wehre have all the flowers gone (Joan Baez)
TEXT Ulrike Guérot, Der Kreislauf des Krieges — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 8.10.2022 SONG Peace (Ajeet Kaur)
TEXT Philine Conrad Der Wunsch nach Frieden — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 15.10.2022 SONG Working Class Hero (John Lennon)
TEXT Tom-Oliver Regenauer Das Musik-Monument — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 29.10.2022 SONG Imagine (John Lennon)
TEXT Kenneth Anders Sich den Frieden ausmalen — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 5.11.2022 SONG (What’s So Funny ’Bout) Peace, Love and Understanding (Nick Lowe)
Text Sabrine Khalil Der unbequeme Weg des Fragens — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 12.11.2022 SONG I Can’t Write Left Handed (Bill Withers
Text Ulli Masuth Fragwürdiger Heldenmythos — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 19.11.2022 SONG Sag mir wo die Blumen sind (Marlene Dietrich)
TEXT Oli Ginsberg Vom Krieg verweht — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 26.11.2022 SONG Meinst du, die Russen wollen Krieg? (Jewgeni Jewtuschenko)
TEXT Ulli Gellermann Die Russen wollen keinen Krieg — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 3.12.2022 SONG Sympathy for the Devil (The Rolling Stones)
TEXT Paul Brandenburg Sympathie für den Teufel — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 10.12.2022 SONG Boom! (System of a Down)
TEXT Thomas Trares Der Zenit der Friedensbewegung — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 17.12.2022 SONG The human hearth (Coldplay)
TEXT Jens Lehrich Dir wird geholfen — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 24.12.2022 SONG Neu aufgenommenes Weihnachtslied (Alexa- und Jens-Fischer Rodrian)
TEXT Alexa- und Jens-Fischer Rodrian Leben im Vielklang — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 31.12.2022 SONG Wake me up when September Ends (Green Day)
TEXT Aaron Richter Feiert eure Menschlichkeit! — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 7.1.2023 SONG Draft Resister (Steppenwolf)
TEXT Jonny Rieder Ohne mich! — Zur Aktion Friedensnoten

Samstag 14.1.2023 SONG Falstaff (Guiseppe Verdi)
TEXT Martha Carli, Falstaff Der heimliche Held — Zur Aktion Friedensnoten


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