„We are born to die.“ Dieses Lied von Lana del Rey war eines der ersten, das mir meine Frau geschickt hatte, nachdem wir uns im Februar 2012 kennen gelernt hatten. Rückblickend glaube ich manchmal, dass sie auf eine gewisse Art wusste, dass sie früh sterben würde. Für mich, ihre Familie und Freunde kam ihr Tod trotzdem unerwartet.
Nichts erschüttert mehr als der Tod eines nahe stehenden Menschen. Er knockt dich aus, er spült alles Hässliche und Unbeachtete nach oben, der ganze Mensch wird umgekrempelt. Das wissen wir alle, tatsächlich erfahren hat es aber nicht jeder. Der Tod scheint als einziges Ereignis in der Lage zu sein, die festen Grenzen der Identität brechen zu können.
Die Identität: Unser als selbstverständlich empfundenes Bezugssystem, die persönliche Referenz von richtig und falsch und die Summe der Erinnerung geronnener Erfahrungen und Wissens. Mit dieser Identität treten wir der Welt entgegen. Sie erscheint als feste und verlässliche Größe. Sie ist der Sitz unserer Wahrheit, die Referenz unseres Willens und unserer Zufriedenheit. Und die Welt ihrerseits tritt uns entgegen: Sie konfrontiert uns mit dem Unkalkulierbaren, mit dem Plötzlichen genauso wie mit den Folgen unserer eigenen Haltungen und den daraus folgenden Maßnahmen. Und scheinbar betrachten wir die Welt kollektiv als potentielles Risiko, gespeist von unserer undefinierten Angst vor dem Leben und dem Tod. Leben wird zum Risikomanagement und zur Gefahrenvermeidung.
Das Reglement der unsichtbaren Angst
Das Konzept scheint nicht aufzugehen. Die Gefahren und Risiken der Existenz scheinen ein Schattenspiel mit uns zu treiben: Sie wachsen proportional zu unseren Ängsten und Maßnahmen. Lebensversicherungen sichern nicht das Leben nach, sondern vor dem Tod ab. Armeen sichern keine Nationen, sondern die Gewissheit der eigenen Überlegenheit. „Vorsorgeuntersuchungen“ weisen auf unsere empfindliche Verfassung hin: Wir machen uns bereits Sorgen vor den Sorgen. All das ist die Angst, mit der jeder präventiv der konkreten Angst — nämlich derjenigen vor der tatsächlichen Bedrohung — begegnen will. Selbstverständlich ist nichts gegen eine vernünftige Risikoeinschätzung einzuwenden.
Wenn aber nicht die Vernunft, sondern die Angst handlungsleitend wird, entsteht eine groteske Szenerie, in der das Befürchtete ein überproportionales Schattenmonster wird. Wir haben in der westlichen Welt die Fähigkeit verloren, dem Leben grundsätzlich zu trauen. Wir sind davon überzeugt, dass eine Willkür des Geschehens ohne unser aktives Eingreifen alles in ein Chaos stürzen würde.
Aber wie erfolgreich ist dieser stille Glaube? Die Katastrophen nehmen zu, egal, wie wir sie deuten. Ob sie menschengemacht sind oder die Folgen des Managements ihrer Bewältigung: Dahinter taucht ein bitterer Zynismus auf. Dieser Zynismus bestätigt unsere Befürchtungen, er lässt uns immer misstrauischer werden. Noch mehr Absicherung, mehr Prävention, mehr Waffen, mehr Verbote. Alles, was nicht konkret ist, und alles, was außerhalb des Kontrollierbaren liegt, zerschellt an der harten Realität: Was ist Hoffnung mehr als die Schönfärberei einer geschehenden Wirklichkeit? Was ist Glaube mehr als eine Phantasmagorie? Was ist Vertrauen mehr als ein anderer Begriff für Hilflosigkeit? Und was ist Spiritualität mehr als der sentimentale Versuch verklärter Weltdeutung?
Vertrauen ist ein Deal, Hoffnung bedeutet Unaufgeklärtheit, Spiritualität und Glaube sind Privatsache naiver weltfremder Einzelner.
Zwischen den Polen: Angst und Liebe
Erst wenn der Tod unmittelbar wird und in direkter Nähe einschlägt, wird seine ganze Größe sichtbar. Nur der Tod kann den Abgrund echter Verzweiflung auslösen. Die Verzweiflung ist das Gift, das alles durchdringt. Die Verzweiflung füttert die Angst, die durch den Verstand konkret wird, sie sieht in der Zukunft kaum Chancen, sie erfasst als einzige die ganze Dimension echten Verlustes. Die Verzweiflung will sich wandeln in Hass, weil sie machtlos gegenüber der Unumkehrbarkeit ist; die Verzweiflung kann sich nicht der Hilflosigkeit ergeben, sie ist die letzte Bastion des inneren Aufschreis „Nein!“. Die Abgründigkeit und die Schönheit des Lebens sind zwei Seiten derselben Medaille.
An dieser Stelle scheint ein feiner Lichtstrahl auf Aspekte zu scheinen, die vorher nie sichtbar waren: Ist Identität vielleicht nicht mehr als Gewohnheit? Ist Liebe nicht einfach, und alle Gesten wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Sinn und Ziel nicht einfach die mentalen Abkömmlinge der Liebe, verzerrt durch unsere Angst vor dem Unkalkulierbaren? Vielleicht sind Verzweiflung und Hingabe im Kern dasselbe. Im Bestreben, Leid zu vermeiden, erschaffen wir es im Spiegelkabinett unserer Projektionen.
Meine Frau und ich haben unser Leben miteinander geteilt und dadurch seine Qualität verdoppelt. Der Mensch, der mich ganz und total verstanden hat, dessen Sein untrennbarer Teil meines seelischen Wesens gewesen ist, existiert hier nicht mehr. Die brutale Härte dieser Tatsache trifft mich immer wieder wie aus heiterem Himmel und ich fühle mich wie verkrüppelt, wenn ich dem Leben alleine entgegen treten muss.
Sicher, der Tod ist ein natürlicher Teil aller Wirklichkeit und seine gesunde Integration vertieft das Leben und gibt ihm Profil. Doch die bewusste Inkaufnahme des Todes oder sein absichtliches Herbeiführen wie im Krieg ist ein Verbrechen in einem Ausmaß, das ebenso unfassbar ist wie der Tod selbst.
Egal, ob wir persönlich den Tod als endgültig oder als Übergang betrachten, ob wir an eine Auferstehung oder Karma glauben oder von der Sinnhaftigkeit des Todes oder deren Gegenteil überzeugt sind: Der Tod übersteigt in seinen Dimensionen alles, was der Mensch erfassen, beherrschen, entschuldigen, wiedergutmachen, rechtfertigen oder begründen kann. Ihn absichtlich herbeizuführen oder billigend in Kauf zu nehmen, ist eine kranke Verirrung des menschlichen Willens. Mit dem Tod spielt man nicht.
Die direkte Erfahrung des Todes ist auch der Kollaps der etablierten Wahrheit. Die Demontage etablierter Ordnungen erzwingt Wachstum und Bewusstheit. Erschaffen wir deshalb unbewusst soviel Tod? Weil wir unbewusst wissen, dass unsere derzeitig gültige Wahrheit dem höheren Prinzip der Kooperation zuwider läuft und wir sie damit als Irrtum überführen können? Versuchen wir uns selbst abzuschaffen, weil wir uns selbst als diesen Irrtum wahrnehmen? Auf was verweist unsere mangelnde Liebe zum Leben? Wir wissen: Der derzeitige Kurs ist grundlegend falsch, und er ist nicht zu halten. Andererseits scheint niemand einen besseren Kurs zu kennen, und zudem überlässt die herrschende Elite niemals freiwillig anderen das Steuer.
Erst jetzt wird mir in ganzem Ausmaß bewusst, dass die zwölf Jahre zusammen mit meiner Frau ein einziges Fest waren. Wir beide haben uns gefeiert — eine vollständige Liebe braucht nichts und sie ist nicht im Kampf mit dem anderen, sie ist vollständig im Frieden. Woher kommt also unser Unfriede mit dieser unsrer Welt, die wir umformen, ausnutzen, ja ausbeuten, die wir trennen in gut und böse und die wir kolonialisieren mit unseren Ideologien?
Der Tod als Botschafter
Es ist eine Welt. Das ist kein Slogan, sondern eine fundamentale Wirklichkeit. Wir Menschen teilen nicht nur physisch dieses Habitat, sondern wir sind auch verbunden durch dieselbe Sicht auf ihre Schönheit, sind durchflutet vom gleichen Glück.
Gleichzeitig verunsichert uns die Vergänglichkeit zutiefst. Doch anstatt in dieser Vergänglichkeit das Mittel zu finden, welches dem Moment der Gegenwart überhaupt seinen Wert verleiht, versuchen wir doch andauernd, die Vergänglichkeit zu ignorieren, wenn nicht sogar zu leugnen.
Immerfort ist die Zukunft handlungsleitend, ein imaginiertes „Besser“. Damit nehmen wir der Gegenwart ihren Wert, ihre Heiligkeit. Ja, Heiligkeit, denn was ist Heiligkeit anderes als die tiefe Gewissheit um die Präsenz dessen, was wir „Leben“ nennen, diesem Phänomen der Innerlichkeit und Zugehörigkeit zu einer Sphäre, der wir entstammen und die rein intellektuell gar nicht greifbar ist?
Wollen wir uns vielleicht sogar unbewusst unsere Zugehörigkeit zu dieser Sphäre beweisen? Wissen wir im tiefsten Innern um unsere Unsterblichkeit? Wollen wir die Gewaltigkeit, die unumgreifbare Größe des Todes dadurch beherrschbar machen, indem wir sie profanisieren, sie in Krieg und Krise auf eine kalkulierte Größe und Zahl reduzieren?
Philosophiere ich oder moralisiere ich bereits? Während meines Trauerprozesses hindurch wurden alle Grundsatzfragen neu gestellt. Ich kann heute schon sagen, dass dieser reflexive innere Diskurs sehr gewinnbringend ist. Ich frage mich, ob es nicht gesund wäre, solch einen Prozess der Distanzierung vom anscheinend Gegebenen politisch und gesellschaftlich nicht hin und wieder zu initiieren — vielleicht sind Kriege ja nichts anderes. Einen „Reset“ der starren inneren Haltungen, eine Distanzierung gegenüber der eigenen Überzeugungen zum Zwecke ihrer Validierung mit der Realität anstatt ihrer Verteidigung innerhalb der künstlichen Konstrukte.
Ausgelöst wurde dieser Prozess bei mir durch eine unbeabsichtigte Distanzierung von allem, was bisher mein Interesse beherrscht hatte. Wie die Lehrkraft auf dem Schulhof während der Pause, die in innerer Distanz dem Treiben der Kinder zuschaut, so blickte ich auf die Ereignisse und Aufreger der Welt und mir wurde gewahr, dass alles nur die Wichtigkeit bekommt, die ich ihm selbst verleihe. Ich bin nicht damit identifiziert. Es scheint eher ein inszeniertes Theaterstück zu sein, an dessen Fortführung ich lediglich aus meiner Gewohnheit und Blickverengung Interesse habe. Fast lächerlich albern wirkt dieses Stück manchmal — und die Empörung einiger Zuschauer darüber wie die eines gehänselten Kindes auf dem Schulhof. „Das für dieses Leben Bedeutsame betritt den Raum, der sonst immer von Aktuellem gefüllt war,“ schreibt die Sterbegleiterin Sabine Rachl in ihrem lesenswerten Buch (1).
Was also ist wirklich bedeutsam für meine Existenz, bevor auch ich mit dem Tod konfrontiert sein werde? Erst jetzt ist diese Frage für mich mehr als eine schöngeistige Übung. Sie will radikal beantwortet werden. Und die Antwort kann nicht auf der reinen Handlungsebene verbleiben — es geht um die Essenz aller Handlungen, es geht darum, zu lieben. Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich es dem Gebot der Schönheit und Liebe unterstellen würde?
Der Schmerz, den der Tod verursachen kann, scheint proportional auf die Größe der Liebe zu verweisen, die dem verlorenen Menschen entgegengebracht wurde.
Damit eröffnet sich eine metaphysische Dimension: Wenn wir rein materielle Wesen wären, welchen Sinn hätte ein solcher Schmerz dann? Welches wäre sein evolutionsphänomenologischer Zweck? Wenn doch am Ende Nichts ist, wenn alles sowieso im Leid endet, dann wird der Tod beliebig und Töten zum politischen Sachzwang. Die Liebe hat in einem rein materialistischen Menschenbild keinen Platz. Aber nur ein Solches kann den leidvollen Umgang, den wir als Ganzes untereinander betreiben, überhaupt erlauben. In ihm ist die Botschaft versteckt: „Wir Menschen sind reine Funktionswesen, die in ausreichender Menge nachwachsen. Alles, was darüber hinausgeht, ist eine sentimentale Illusion, die im Ernstfall der Realität weichen muss!“
Das Phänomen „Leben“ entzieht sich unserem Verständnis ab einem gewissen Grade. Wenn ein Mensch stirbt, endet mehr als eine individualisierte Vitalfunktion: Ein einmaliges Ereignis im Gesamtspiel des Lebens hört auf zu existieren.
Es fällt leicht, das im Falle von Menschen, die uns nahestehen, anzuerkennen. Was innerhalb des Radius unserer Liebe liegt, ist darin eingeschlossen. Doch wie unser Begriff von Liebe pervertiert ist! Sie, diese aktive Urkraft des Lebens, scheint nur noch durch den kleinen Spalt, den unsere Überzeugungen, Werte und Verletzungen übrig gelassen haben. Wir schließen den großen Teil der Welt aus unserer Liebe aus und übersehen dabei zwangsläufig, dass alle Menschen von der gleichen Liebe durchdrungen sind. Das Fremde, das Gehasste, das Bekämpfte, das Verurteilte und das Ausgeschlossene existieren nur durch unsere selbst gewählten Begrenzungen. Unser jeweilig als „richtig und wahr“ Auserkorenes schließt aus, es erzeugt Kampf und Krieg anstatt Versöhnung, Verständnis, Mitgefühl und Verständigung. Und damit ist alle Zerstörung ein Mangel an Wertschätzung, respektive an aktiver Liebe.
Liebe ist — wenn sie unverfälscht ist — so bedingungslos wie die Gravitation oder das Sonnenlicht. Zu lieben wird zum Wagnis, denn es besteht die Möglichkeit, dass sie nicht voll angenommen und gesehen wird. Also lieben wir nicht ganz, nehmen nicht ganz an, wollen nicht ganz verstehen; das, was wir Liebe nennen — und bisweilen Gott unterstellen — ist eine Reflexion eigener Unsicherheit und Angst vor Enttäuschung. Kein Wunder, dass in dieser Welt inzwischen Dinge oder Ideologien mehr das Objekt von Liebe sind als das Lebendige selbst.
Und so resultiert auch echter Glaube aus wirklich erfahrener Liebe. Die Liebe, die ich durch meine Frau erfahren habe, hat mir so viel eröffnet, mich in einer Weise sensibilisiert, in der ich mein eigenes Leben in einer Tiefe und Ernsthaftigkeit erfahren habe und erst wirklich zu mir selbst wurde, wie es mir alleine nie möglich gewesen wäre. Ich glaube mehr als je zuvor. Weder eine versprochene „Hoffnung“, noch ein Heilkonzept oder eine Lehre hätten das in mir begründen können. Wahrer Glaube ist keine Lehre, sondern eine Erfahrung. Ich fühle immer mehr Dankbarkeit für diese Erfahrung. Sie zeigt mir, dass Liebe den Tod überwindet, und das Schöne und Wahre in einem ganz eigenen unzerstörbaren Raum lebendig erhält. Sie zeigt mir außerdem, dass Leben immer nur im Spektrum seiner Pole stattfinden kann: Da ist Vertrauen trotz Angst, Freude trotz Trauer und Liebe trotz Schmerz. Durch die Schwere lernen wir die Leichtigkeit, alles trägt sein Gegenteil in sich. Hass und Gewalt sind der Ruf nach Harmonie und Verständnis.
Der Tod ist der große Wandler. Er verwandelt alles Gewohnte. Er fordert unerbittlich das Neue und zerstört Abhängigkeiten. Er lässt reines Funktionieren fraglich werden. Der Tod ist die Gnade der Neuschöpfung.
Ich kann wachsen oder langsam absterben. Er ist der Hintergrund, auf dem sich Gottes ewige Natur selbst erfährt. Alte Schalen werden abgelegt, neues Leben erwächst im ewig zyklischen Kreislauf. Ich kann mich selbst andauernd erneuern lassen und von dem Menschen frei werden, der mich gestern noch gefangen hielt: Ich selbst.
„Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
ist die Frucht, um die sich alles dreht!“
— Rainer Maria Rilke
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Sabine Rachl: „Sterben üben — damit sich das Leben entfalten kann.“, 2023