Auf den ersten Blick scheinen die beiden Worte in keinem Widerspruch zueinander zu stehen, da „Haben“ mit Besitz assoziiert und „Sein“ mit der eigenen Existenz in Verbindung gebracht wird. „Sein“ ist viel schwieriger zu definieren als „Haben“, da es sich der Möglichkeit entzieht, vollumfänglich mit unserem Geist erfasst zu werden. Tatsächlich sind die beiden Worte auch keine direkten Gegensätze, da sie Konzepte aus verschiedenen Ebenen des Geistes sind. „Sein“ ist Ursache sowie Essenz, „Haben“ ist eine Folge der geistigen Spaltung. Nichtsdestotrotz beschreiben die Worte zwei Geisteshaltungen, die miteinander unvereinbar sind und durchaus in Opposition zueinander stehen.
Die Definition vom „Sein“ führt unweigerlich zu einer Definition von uns selbst, und davor hütet sich der Mensch. Im Unterbewussten schlummert die Ahnung, dass dies zur Auflösung vieler Illusionen führen würde, die er spinnt und die er mit sehr viel Energie aufrechterhält.
Um also der essenziellsten aller Fragen, nämlich der Frage nach dem Selbst, aus dem Weg zu gehen, lenkt der gespaltene Geist sein Bewusstsein auf die äußere Welt — er projiziert. Diese wahrnehmbare sowie berührbare Welt der Formen übt eine hypnotische Wirkung auf ihn aus, der er nur schwerlich widerstehen kann. Einigen Objekten misst er größeren Wert als anderen bei, wie zum Beispiel seltenen Metallen oder Mineralien, Blumen, aber auch Gegenständen, die es ihm erlauben, sich zu profilieren oder Macht auszuüben, wozu wir Schmuck, Landeigentum oder Waffen zählen können. Voraussetzung ist aber deren Besitz, der gleichzeitig die Grundlage für das „Haben-Wollen“ bildet.
Einige Menschen sind auf diesem „über Leichen“ gehenden Irrweg zu immensen Besitztümern sowie zu einer Macht gelangt, die rational auf keine Weise zu rechtfertigen ist. Dieses zu Gunsten des Materialismus entstandene Ungleichgewicht führt zu der gesellschaftlichen Situation, in der wir uns gerade befinden, in der der Reichtum kumuliert und von einigen wenigen beherrscht und verwaltet wird.
Können wir nicht anders?
Zuerst lässt sich festhalten, dass dieses Phänomen kein neues ist, sondern seit einigen tausend Jahren vorwiegend die aufkommenden Kulturen geprägt hat. Die damals entstandenen Hierarchien weisen starke Ähnlichkeiten zu den heutigen auf. Es änderten sich lediglich Rahmenbedingungen und Bezeichnungen: Aus Leibeigenen wurden Eigentumslose, aus Königen und Adeligen wurden Oligarchen und Vorstände.
Einige Wirtschaftswissenschaftler der Neuzeit versuchten dieses Phänomen — und somit die herrschende Ordnung — mit einer fiktiven Figur zu beschreiben und kreierten den Homo Oeconomicus, einen „Nutzenmaximierer“, der, um es mit den Worten von John M. Keynes zu beschreiben, „aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen wird“. Selbstverständlich beschreibt diese Figur nicht annähernd den Menschen, seine Realität, seine Interessen, Bedürfnisse und Begierden.
Es war vielmehr der Versuch, die hervorstechenden Motive der herrschenden Klasse zu rechtfertigen, sie zu einem natürlichen Gesetz zu machen und sie als alternativlos erscheinen zu lassen.
Der Homo Oeconomicus umschreibt im Grunde die Konzepte des gespaltenen Geistes — des Egos: seine Idee vom Besitz, sein Verlangen nach Mehr, seine Tendenz zur Spaltung und Konkurrenz, seine Selbsterhöhung sowie Selbsterniedrigung. Er umschreibt jedoch nicht die liebevollen Eigenschaften des Menschen, wie das Verlangen zur Eingliederung und Einheit, seine Hingabe, sein Mitgefühl sowie sein Gefühl von Gerechtigkeit, seine Hilfsbereitschaft und das Verlangen, schöpferisch zu sein.
Das alles gehört zur menschlichen Realität, die in der „Wissenschaft“ der Wirtschaft keine Beachtung findet, obwohl sie die Gesellschaft prägt und obwohl es wichtig wäre, sie genauestens zu studieren. Schließlich begründen diese Eigenschaften viele menschliche Bedürfnisse und somit auch eine Nachfrage, die wir mithilfe der Wirtschaftswissenschaft beschreiben könnten. Zwar wurden in anderen Wissenschaftsbereichen wie der Soziologie und der Psychologie solche Themen behandelt, sie finden jedoch keinen Widerhall in der Mitte der Gesellschaft, in den Parlamenten und den Hauptmedien.
Wie hoch ist die Nachfrage nach einer gesunden Gemeinschaft, nach Einheit, nach gemeinschaftlichem Eigentum? Wie hoch ist der Wert des Friedens und des Gefühls von Sicherheit? Und vor allem: Wie hoch ist der damit verbundene Aufwand? Dieser ist viel geringer, als viele von uns im Moment annehmen.
Informationsfreiheit
Eine Ursache, die erheblichen Einfluss auf die Entwicklung eines Volkes nimmt, ist der Informationsfluss. Diesen kann man in unserer Gesellschaft nur schwerlich als „frei“ bezeichnen. Die Corona-Krise hat das wieder deutlich gemacht: Viele Menschen, die interessante Informationen zum Geschehen lieferten, wurden auf den größten Internetplattformen wie Facebook oder Twitter zensiert und von den großen Medien sogar diffamiert. Man kann deutlich eine Macht erkennen, die Einfluss darauf nimmt, welche Informationen sich unbeschwert verbreiten können und welche Menschen in den Hauptinformationsüberträgern, wie zum Beispiel dem Fernsehen, auftreten dürfen, und welche nicht.
Eine solche künstliche Informationsstruktur hat auch in vielen anderen Bereichen gesellschaftlichen Zusammenlebens das Bild unserer Gesellschaft erheblich geprägt. Beispielsweise haben die meisten Mitglieder nur ein sehr verkümmertes Bild unserer Produktivität und Leistung, was sie nur sehr schlecht den Wert ihrer eigenen Arbeit einschätzen lässt und den daraus folgenden Anspruch, den sie an die Gesellschaft stellen könnten. Die Folge davon ist, dass sie einen viel zu großen Aufwand betreiben, um beispielsweise ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, obwohl sie dies mit einem viel geringeren Aufwand tun könnten.
Mit anderen Worten: Sie verdienen zu wenig Geld oder sie zahlen zu viel für Steuern, Produkte und Dienstleistungen. Ihre Produktivität wird dank der Architektur des Systems dennoch genutzt, beispielsweise für den Bau von Luxusgütern, Kriegsgerät und skurrilen staatlichen Verwaltungs- und Überwachungsstrukturen.
Man muss sich nur vorstellen, was man mit der ganzen Arbeitskraft innerhalb der letzten 50 Jahre hätte erschaffen können, wenn eine größere Masse an Menschen Mitentscheidungsrecht besäße bei der Frage, wohin ihre Produktivität fließen soll. Wofür die größten gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft bestünden, ist leicht zu erahnen: Günstige Energie, gesunde Nahrung, sauberes Wasser, komfortablen Wohnraum, Gesundheit, Bildung, Kommunikation sowie ein transparentes Informationsnetzwerk, welches auch gleichzeitig als Grundlage einer Verwaltungsstruktur dient.
Bei einer freien Wahl käme niemand auf die Idee, diese Bereiche gesellschaftlicher Versorgung privaten Profitinteressen zu unterwerfen. Niemand würde freiwillig Tribute zahlen wollen, allein aufgrund von Eigentumstiteln. Niemand würde sich freiwillig unterwerfen.
Einer der Gründe dafür, dass die Menschen es dennoch tun, ist eine manipulative Informationsstruktur, in der die Fakten verschleiert anstatt exponiert werden. Beispielsweise besitzt kein Bürger dieses oder jenes anderen Landes einen barrierefreien sowie detaillierten Zugang zu den Finanzflüssen des Staates, obwohl das in jeglicher Hinsicht relevante Informationen sind. Selbst innerhalb der Finanzministerien herrscht eine „Hierarchie des Wissens“, doch das betrifft nicht nur den öffentlichen Sektor.
Ein ähnliches Phänomen beobachten wir auch bei Privatunternehmen, in denen die Führungshierarchie mit einer Wissenshierarchie einhergeht und in dem das so genannte „Need-to-know“-Prinzip herrscht, in dem nur zur Funktion benötigte Informationen geteilt werden. Um in der Hierarchie aufzusteigen zu können, muss neben einer Portion Cleverness und Skrupellosigkeit auch Integrität bewiesen werden.
Die Mitglieder unserer Gesellschaft, vor allem die der unteren Hälfte der Eigentumspyramide, müssen verstehen lernen, dass sie den Aufwand mittragen, der für den Bau von Gütern genutzt wird, die ihnen nicht nur keinen Mehrwert bringen, sondern auch zu ihrer eigenen Unterdrückung genutzt werden und ihnen schaden. Niedrige Löhne gepaart mit hohen Lebenshaltungskosten entziehen einem Großteil der arbeitenden Bevölkerung die Früchte ihrer Produktivität. Das Konzept von Eigentum und der damit verbundenen Macht ist in dieser Form eindeutig zu ihrem Nachteil, dennoch hält der Großteil von ihnen an diesem Konzept fest.
Gesellschaft als kollektive Manifestation
Den ganzen Prozess mit der simplen Aussage abzutun, die „Gier der Reichen“ führe zu dieser Situation, wird der reellen Komplexität nicht gerecht. Die Idee, etwas besitzen zu müssen, spinnt der gespaltene Geist (Ego), der es vermeidet, sich mit den tiefgründigen Verflechtungen und Konsequenzen des Seins zu befassen. Er glaubt, mehr Besitz verhilft ihm zu mehr Sein, und er wird nicht Ruhe geben, bis er das ganze Universum zu seinem Eigentum ausgerufen hat.
Der ungespaltene, geeinte Geist, welchen wir auch mit dem Wort „Seele“ bezeichnen können, ist sich der Idee des Habens überhaupt nicht bewusst, da er sich im Einklang mit dem gesamten Universum befindet. Für die Seele gibt es keinen Unterschied zwischen Haben und Sein. Das Ego und die Seele stehen in keiner Kommunikation miteinander, wodurch auch die beiden Konzepte, das des Habens und das des Seins, miteinander unvereinbar sind. Im Menschen befindet sich die Tendenz zu beidem, und je mehr Überzeugung er in die eine Haltung legt, desto mehr verneint er die andere. Das sind Gesetze, denen alle Menschen unterliegen, unabhängig von der gesellschaftlichen Schicht, der sie angehören.
So lässt sich aus spiritueller Sicht sagen, dass sowohl die Reichen als auch die Armen die Form der Gesellschaft manifestieren, in der sie leben. Beide Seiten sind dafür verantwortlich, keiner Seite kann die alleinige Schuld zugewiesen werden. Die Reichen projizieren ihre geistige Armut nach außen, die Armen manifestieren das Verlangen, viel haben zu wollen, und somit ihre eigene materielle Armut. Die eine Seite manipuliert, die andere Seite lässt sich manipulieren. Was sie eint, ist lediglich die Quelle der Motivation ihrer Handlungen, nämlich die Angst.
Privilegien
Ein weiterer geistiger Aspekt, der es wert ist, erwähnt zu werden, ist das Bedürfnis des Menschen, sich zu profilieren und irgendeine Form von Überlegenheit zu demonstrieren, beispielsweise mithilfe von Privilegien. Denn es geht dem Ego nicht nur darum zu besitzen, sondern mehr zu besitzen als andere. Es will Rechte und Vorteile in Anspruch nehmen, die anderen verwehrt bleiben. Sei es durch ein Gesetz, Wissen, finanzielle Mittel oder das Haus mit dem schönsten Ausblick. Es will seine Getrenntheit auf jegliche erdenkbare Weise ausdrücken und lebt buchstäblich von Vergleichen. Eine Welt, in der alle Menschen auf dem gleichen komfortablen Niveau leben, würde bei einigen Unbehagen auslösen, da ihr Gefühl von Identität bedroht wäre. Was bliebe von ihnen übrig, wenn niemand sie bewundern, beneiden oder gar hassen würde? Was bliebe von ihnen übrig, wenn sie die Illusionen über sich selbst aufgeben?
Ihr Sein!
Ihr grundlegendstes Attribut, ihre einzig wahre Identität, etwas Vollkommenes, das sie nicht erst zu erreichen brauchen, sondern ihnen inhärent ist. „Sein“ ist unser angestammtes Erbe, das wir versuchen auszuschlagen und mit Illusionen zu ersetzen. Dieser Akt ist die treibende Kraft hinter allen entstehenden Konflikten im Leben, sei es von Individuen oder von Massen. Jeder Kampf ist ein Kampf zwischen Illusionen rund um die Frage der Identität, der sich auflöst, wenn wir uns daran erinnern, wer wir wirklich sind.
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