Elisa Gratias: Warum Esel?
Rumen Milkow: Esel sind weder störrisch noch dumm — im Gegenteil. Nicht zufällig ist der Esel Benjamin das klügste Tier in „Farm der Tiere“ von George Orwell, der selbst eine kleine Farm auf der schottischen Insel Jura führte, wo er sein wichtigstes Werk „1984“ verfasste. Was Menschen als störrisch bezeichnen, ist Vorsicht. Ein Esel lässt sich zu nichts zwingen. Er weiß, was gut für ihn ist, und wann er bereit ist für den nächsten Schritt. Was wir für Dummheit halten, ist die Veranlagung des Esels, nicht vor Problemen wegzurennen. Der Esel ist kein Fluchttier. All dies und vieles mehr können wir vom Esel lernen.
Dazu geht man am besten auf eine Weide mit mehreren Eseln und lässt den Esel seine Wahl treffen. Also nicht der Mensch sucht sich seinen Esel aus, sondern der Esel seinen Menschen. Dann kann man sicher sein, dass es eine gute Wahl ist, dass Mensch und Esel harmonieren. Auch wenn es am Anfang hier und da noch haken sollte, so wird, einmal losgezogen, aus Esel und Mensch rasch eine Einheit. Dies ist zumindest meine Erfahrung. Viel habe ich auf meinen zahlreichen Wanderungen vom Esel, der oft schlecht behandelt wird und darüber vom Aussterben bedroht ist, gelernt.
Esel sind vom Aussterben bedroht?
Mitte der Achtziger gab es in Bulgarien, dem Herkunftsland meines Vaters, wo ich seit zwei Jahren lebe, noch 350.000 Esel, heute sind es gerade mal 20.000. Die meisten davon sind alt; männliche Tiere sind in der Regel kastriert, sodass keine Nachkommen zu erwarten sind. In meinem Dorf Spanchevtsi, von wo aus ich vor Jahren meine Eselwanderung quer durch Bulgarien startete, gibt es aktuell nur noch einen Esel.
Auch Menschen leben heute nur noch 350 in Spanchevtsi, das sich im Nordwesten des Landes befindet. Einst hatte das Dorf 900 Einwohner, und nahezu jede Familie besaß einen Esel. Etwa jeder zweite hat die Region seit den Neunzigern verlassen. Auch wenn der menschliche Exodus nicht das Ausmaß wie bei den Eseln hat, so ist seine Auswirkung doch verheerend. Praktisch jedes zweite Haus verfällt oder ist schon in sich zusammengefallen. Nicht wenige Dörfer der ärmsten Region Bulgariens und der EU sind komplett verlassen oder werden nur noch von einzelnen Menschen bewohnt.
Zarte Pflänzchen des Neuanfangs schießen seit einiger Zeit auch im Nordwesten aus dem Boden. So zum Beispiel das erste Bücherdorf Bulgariens in Chelopek unweit der Stadt Vraca. Oder das Gourmet-Restaurant des Spitzenkoches Filip Zahariew im Dorf Stakevtsi nahe der Grenze zu Serbien. Achtzehn Jahre lang war der Bulgare um den Globus gezogen, um in den Küchen der Welt sein Handwerk zu lernen, zuletzt war er Küchenchef im Sterne-Restaurant „Gruvelagaret“ auf der norwegischen Insel Spitzbergen. Vor zwei Jahren trieb ihn das Heimweh zurück in die Heimat.
Was hat sich in Ihrem Leben seit dem Umzug nach Bulgarien verändert?
Mein Leben ist einfacher geworden, und mein Blick ist klarer. Ich habe neue Freunde gefunden. Die Menschen in meinem Dorf, die oft einfach, aber authentisch sind und deren Gastfreundschaft sprichwörtlich ist, sind mir wichtig.
Mit meinem Projekt möchte ich einen bescheidenen Beitrag leisten für den von Europa vergessenen Nordwesten Bulgariens, das dortige Handwerk und die Esel. An erster Stelle aber fürs Schreiben, denn ich bin nicht nur ein Eselnarr, sondern auch ein Bücherwurm. Als solcher weiß ich, dass es zum Bücherschreiben nicht nur guter Ideen bedarf, sondern auch Ruhe und Muße. Vor allem keine Ablenkung und Reizüberflutung wie in einer Großstadt.
Also haben Sie sich dort auf etwas Wesentliches besonnen, das im Großstadtalltag in Berlin völlig in Vergessenheit geraten war: Kontakt mit besonderen Tieren und durch das Schreiben auch mit Ihnen selbst und anderen. Tatsächlich klingt es auch für mich als Schreibende sehr verlockend, an einem abgelegenen Ort in den Bergen zu schreiben, aber dafür extra so weit reisen? Was bieten Sie Schreibenden, das sie nicht bei sich zu Hause finden?
Das Dorf Spanchevtsi und seine Umgebung bieten all dies und darüber hinaus einmalige Ausblicke auf das Balkangebirge. Diesen besonderen Ort der Stille — bedingt auch durch die Abwanderung — und der Inspiration, den ich vor Jahren als Rückzugsort für mich entdeckt habe, möchte ich mit anderen Schreibenden teilen.
Orte sind und waren wichtig für Schreibende.
So verbrachte Jack Kerouac zwei Monate als Feuerwächter auf einem Feuerturm im Süden Kaliforniens, bevor er seinen Klassiker „On the Road“ schrieb. Auch für Thomas Bernhard, der mehrere abrissreife Bauernhöfe in seiner Heimat Österreich erwarb, sie ausbaute und sich zum Schreiben in sie zurückzog. Er nannte sie seine „Schreibkerker“. Nicht zu vergessen Friedrich Nietzsche, ohne dessen zahllosen Wanderungen in den Schweizer Alpen viele seiner Werke undenkbar wären, allen voran sein „Zarathustra“.
Als „Bulgarische Schweiz“ bezeichnete der klassische bulgarische Autor Aleko Konstantinow die bulgarischen Gebirge. Konstantinow ist nicht nur wegen seiner ironischen und sozialkritischen Bücher bekannt, sondern auch als Gründer des ersten bulgarischen Wandervereins vor fast 130 Jahren. Schreiben und Wandern sind in Bulgarien traditionell miteinander verbandelt.
Und wie kamen Sie auf die kuriose Kombination von Eseln und Schriftstellern?
Seit meiner Wanderung mit meiner Eselin „Raina Velitshka“ aus meinem Dorf Spanchevtsi in 40 Tagen und über 750 Kilometer quer durch Bulgarien vom Berg Kom an der Grenze zu Serbien bis zum Kap Emona am Schwarzen Meer bin ich auf den Esel gekommen. Eine Eselwanderung ist nicht nur ein Abenteuer, das inspiriert und zum Nachdenken anregt, sondern es kann ein ganzes Leben verändern, wenngleich nicht immer sofort. Das ist zumindest meine ganz persönliche Erfahrung.
Von dieser Erfahrung war es noch einmal ein Weg bis zu meinem Projekt eines „Donkey Sanctuary & Writers Retreat“, dem ersten Rückzugsort für Schreibende, an dem es Esel gibt. Mit anderen Worten: Schreiben in den Schluchten des Balkans, und wenn die Muse einmal eine Pause macht, sind da immer noch die Esel, die zum Wandern einladen. Das ist die Idee. Und weil ich zu einhundert Prozent von ihr überzeugt bin, habe ich ein Crowdfunding gestartet, obwohl ich nie ein Crowdfunding starten wollte.
Warum wollten Sie erst kein Crowdfunding, und was hat Ihre Meinung geändert?
Bisher habe ich meine Träume immer selbst realisiert. Beispielsweise meinen eigenen Rückzugsort hier, den ich vor vielen Jahren nach einem unverschuldeten Verkehrsunfall in Berlin vom Schmerzensgeld erworben und danach vom Taxifahren ausgebaut habe. In den Coronajahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass, als ich Menschen um Hilfe bat, man sie mir auch gab. Es stimmt wirklich, dass dem, der bittet, gegeben wird. Alleine kann ich das Projekt nicht stemmen. Da ich aber zu einhundert Prozent von ihm überzeugt bin, habe ich mich zu einem Crowdfunding entschlossen.
Meine Idee ist es, einen knapp 100 Jahre alten Stall, der einst neben Schafen auch Esel beherbergte, zu einem Non-Profit-Rückzugsort für Schreibende auszubauen. Seine ursprüngliche Fachwerk-Bauweise soll dabei möglichst erhalten bleiben. Da der Ort Schreibenden ganzjährig offenstehen soll, muss er entsprechend isoliert und beheizbar sein. Für die Esel muss ein separater Stall auf dem Grundstück errichtet werden, das sich an einem offiziellen Wanderweg zum etwa 50 Minuten entfernten Frauenkloster „Klisura“ (auf Deutsch: Schlucht) liegt, dem viertgrößten Kloster des Landes.
Der zukünftige Rückzugsort für Schreibende befindet sich 600 Meter über dem Meeresspiegel und etwas oberhalb des Dorfes Spanchevtsi. Der Ort mit seinem fantastischen Blick auf die Todorini Kukli (1.785 Meter), die bulgarischen Twin Peaks, hat eine eigene Mineralquelle, ein Mineralfreibad, zwei Kneipen, drei kleine Läden und einige Gästehäuser. Spanchevtsi ist nur fünf Kilometer entfernt vom bekannten Kurort Varshets und wird von Insidern auch als „Kurort vom Kurort“ bezeichnet.
Varshets wurde bereits von den Römern „Medica“ (Heilstadt) genannt. Ein altes Mineralbad und der marode Charme verfallener Bauten, die an Bad Homburg erinnern, sind stumme Zeugen einer mehr als 170-jährigen Tradition als Kurort. Varshets liegt nur 90 Kilometer nördlich der Hauptstadt Sofia, zur serbischen Grenze sind es etwa 20 Kilometer und zur Donau 80. In der Umgebung gibt es neben zahlreichen Wanderwegen Wasserfälle und ein Familienrestaurant, dessen Spezialität Forellen sind.
Wo finden Interessierte weitere Informationen zu Ihrem Projekt?
Mein Crowdfunding-Projekt habe ich auf der Plattform „Betterplace“ gestartet, die in Berlin ansässig ist. Bevor ich nach Bulgarien kam, war ich 25 Jahre als Taxifahrer auf den Straßen der deutschen Hauptstadt unterwegs. Heute bin ich freier Autor, Fotograf und Journalist, darüber hinaus gelernter Tier- und Krankenpfleger. Mein Wissen über Esel verdanke ich nicht nur meiner Wanderung und zahlreichen Büchern, sondern auch einem Praktikum im „Tal der Esel“ in Südbulgarien und dem mit Erfolg abgeschlossenen „Grundlagenkurs Esel- und Mulihaltung“ bei den „Eselfreunden“ im Havelland.
Ein Crowdfunding funktioniert nur, wenn es auch Menschen gibt, die es unterstützen. Deswegen würde ich mich freuen, wenn ich Menschen für mein Projekt begeistern kann. Natürlich weiß auch ich, dass wir in schwierigen Zeiten leben. Nicht jedem ist es möglich, etwas zu geben, selbst wenn er wollte, was absolut in Ordnung ist. In diesem Fall würde ich mich freuen, wenn die Leser das Projekt mit anderen Menschen mit einer Leidenschaft für Tiere, fürs Schreiben und für noch unentdeckte Orte teilen.
Ich bin gespannt darauf, wie es weitergeht, und ob sich genügend Unterstützer finden werden. Haben Sie zur Not einen Plan B?
Ich selbst möchte vom Schreiben leben können. Das „Donkey Sanctuary & Writers Retreat“ ist ja ein Non-Profit-Projekt. Trotzdem kenne ich natürlich auch Leute, die sich geschäftlich mit Eseln beschäftigen, die beispielsweise Eselwanderungen in Bulgarien anbieten. Ich selbst würde gerne regelmäßige Berichte oder Kolumnen über Bulgarien verfassen, wo ich jetzt seit zwei Jahren lebe. Es sind auch schon Beiträge von mir auf Rubikon, Multipolar und in der EpochTimes erschienen. Da ich viel gereist bin im Land und insbesondere den Nordwesten gut kenne, könnte ich mir vorstellen, ein Guide für Lost Places zu sein oder auch ein Location Scout für Filmemacher.
Bulgarien ist die ideale Kulisse für Dystopien jeglicher Art, aber auch von unberührter Natur.
Kürzlich wurde ich als Fotograf für ein Shooting an einem wilden Wasserfall im Balkangebirge gebucht. Ich kann mir auch vorstellen, Menschen, die sich mit dem Gedanken tragen, nach Bulgarien auszuwandern, professionell Hilfestellung zu leisten. Von meinem Bürgermeister, der mir viel geholfen hat, weiß ich, dass er sich über jeden neuen Einwohner in unserem Dorf freut.
Vielen Dank für das Interview!
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