Unsere Familie gehört zu jenen Menschen, die auswandern wollen — und dies inzwischen auch konkret planen. In diesem Planungsprozess sind wir nun seit circa einem Jahr. Es ist ein vergleichsweise schnelles Herantasten, das mir persönlich oft zu rasant vorkommt, aber wir haben einige Gründe, möglichst in den nächsten Monaten den Absprung zu schaffen, unter anderem das nahende Schulalter unserer Tochter und auch die sich ankündigende kalte Jahreszeit, die wir gern schon woanders als in unserer jetzigen feuchtigkeitsbelasteten Wohnung verbringen wollen. Warum für unsere Veränderung also nicht den Sturm des Wandels und Aufbruchs nutzen, welcher dieses Jahr 2023 allerorten prägt?
Seit wir jedoch konkret an unseren Auswanderungsplänen arbeiten, durchfluten mich die unterschiedlichsten Gefühle. Derzeit ist es ein starker Abschiedsschmerz, der mir handfeste Zweifel an unseren Plänen beschert. Ich stecke voller Fragen! Wir gehören zu jenen Menschen, welche die Zeit der Corona-Maßnahmen und die damit einhergehende politische Entgleisung als Trauma und Weckruf zugleich empfunden haben. Nach dieser gewaltigen Erschütterung ist es notwendig für uns, uns neu auszurichten. Doch macht es wirklich Sinn, von hier wegzulaufen? Ist es woanders wirklich besser — oder zumindest geeigneter — für uns? Was genau erhoffen wir uns zu finden?
Jeder Auswanderungswunsch beginnt entweder mit einem Fluchtimpuls oder mit der Sehnsucht nach etwas Anderem — also entweder mit der Bewegung weg von etwas Bestehendem oder der Bewegung hin zu etwas Erwünschtem. Häufig mischen sich diese beiden Impulse auch miteinander — so wie bei uns.
Derzeit muss ich immer wieder an die spirituelle Lehrerin Louise Hay denken und an die Botschaft aus einem ihrer zahlreichen Bücher: Wenn wir etwas Altes in Wut, Schmerz oder anderweitiger Anhaftung verlassen, werden wir genau dies in der neuen Situation wiederfinden. Louise Hay empfiehlt uns deshalb, das, was uns nicht mehr gefällt, liebevoll zu segnen, damit wir es wirklich loslassen können — und es UNS loslassen kann (1)!
Als wir vor einigen Jahren von der Stadt aufs Land zogen, empfand ich diesen Schritt als erlösende Befreiung von einer lauten, luftverschmutzten und naturarmen Umgebung. In den Monaten vor unserem Umzug ging ich oft durch unser damaliges Viertel und konnte es kaum erwarten, endlich den Möbelwagen zu packen und loszufahren. Irgendwann fing ich an, mir innerlich aufzuzählen, wofür ich an diesem alten Ort alles dankbar war und welche Lernerfahrungen und Bereicherungen ich aus den Jahren des Stadtlebens mitnehmen durfte.
Diese Übung brachte mich nicht nur in Frieden mit der langen Zeit, in der ich in einer für mich ungeeigneten Umgebung ausgeharrt hatte, sondern auch in ein liebevolles Annehmen meines Weges sowie in ein tieferes Verständnis dafür, warum das Stadtleben für mich zwar nicht das Richtige war, für viele andere aber genau jene quirlige und inspirierende Lebensumgebung darstellte, die sie sich wünschten und die sie erst aufblühen ließ.
Aus diesen Gedanken heraus spüre ich jetzt das starke Bedürfnis, den Fluchtanteil unseres Auswanderns, nämlich unsere Flucht vor der zunehmend autoritär agierenden deutschen Politik, in etwas Positives zu transformieren.
Eine Flucht gelingt dann am ehesten, wenn wir uns sehr bewusst darüber sind, was genau wir durch unser Weggehen loslassen möchten: Geht es vor allem darum, aus einer Situation herauszukommen, die uns bedroht oder bedrängt? Oder darum, eine wirtschaftliche Verbesserung zu erreichen? Je klarer umrissen die Gründe für das Weggehen sind, desto eher können wir damit rechnen, dass uns das Verlassen der unangenehmen Situation eine gewisse Erleichterung bringen wird.
Flüchten können wir dabei immer nur vor äußeren Gegebenheiten, nicht jedoch vor unseren inneren Fallstricken. Flüchten wir vor etwas Innerem, das wir bereits in unserem Heimatland als Last trugen — wie zum Beispiel vor der Schwierigkeit, zu uns selbst und unserer abweichenden Lebens- und Weltsicht zu stehen, oder vor der Schwierigkeit, in Krisensituationen Stabilität und Gelassenheit zu bewahren — werden wir diese Probleme auch in die fernste Ferne mitnehmen und irgendwann im neuen Land wiederentdecken.
Vor uns selbst können wir nicht weglaufen, sondern uns allerhöchstens eine Pause von uns gönnen.
So kann es durchaus Erleichterung bringen, in eine für unseren Lebensweg und unseren Seelenauftrag geeignetere Umgebung zu wechseln, in der uns die persönlich anstehenden Lernschritte ein wenig leichter fallen — sei es, weil die dortigen Gesetze etwas liberaler sind, wir etwas mehr in Ruhe gelassen werden, die passenden Gleichgesinnten oder aber eine Nische finden, in der wir in unserem eigenen Tempo unsere Kraft entwickeln dürfen.
Auf diese Weise machen wir viele kleine Schritte hin zu dem Ziel, endlich unser ureigenes Licht leuchten zu lassen — mit all den Farben, der persönlichen Weisheit und den hoffnungsvollen Visionen, die wir als Individuen mitbringen und welche den derzeitigen globalen Wandel erst gelingen lassen: Indem dieser Wandel in uns selbst, in jedem Einzelnen von uns, beginnt und sich dort individuell vollzieht.
Was ist jedoch, wenn das Weggehen nicht nur Probleme löst, sondern auch welche erschafft — oder alte Probleme neu auf den Tisch bringt? Momentan hadere ich mit unseren Plänen, weil ich immer klarer erkenne, dass wir in jedem neuen Land erneut auf die Schwierigkeiten des Außenseitertums stoßen werden, auf das Sich-Anders-Fühlen, das gegenseitige Unverstandensein, das uns an jeder Ecke anspringt, bei jedem tiefergehenden Nachbarschaftsgespräch, jedem Arztbesuch, jedem Austausch unter Kollegen und auf jeder Sommerparty — zumindest solange wir noch in diesem Zwischenzustand verharren und am liebsten weiterhin irgendwie dazugehören würden, es aber einfach nicht können. Denn es ist ein seltsames Paradox: Je offener ich zu meinem Anderssein stehe, desto weniger fühle ich mich als Außenseiterin.
Manche Menschen lösen ihr Außenseiter-Dilemma, indem sie das Unterwegssein als neue Lebensart wählen. Sie kreieren so ihre eigene, autonome Lebensweise, erleben und vernetzen sich in einer globalen Gemeinschaft moderner Nomaden und übersetzen mit viel Pioniergeist das jahrtausendealte Nomadentum in unsere heutige Zeit. Für jene von uns, die gern digital arbeiten, kann das Reisen eine wunderbare Lösung sein, macht es doch bis zu einem gewissen Punkt unabhängig von den Vorgaben der einzelnen Landesgemeinschaften. Außerdem bringt uns das Unterwegssein Zeit und Raum, um zu reflektieren und zu reifen, die Zeit, auch einmal ohne feste Richtung zu sein, uns Suchbewegungen zu erlauben und vorübergehende Desorientierung aushalten zu lernen. So kann das Unterwegssein zu einem intensiven, inneren Reifeprozess werden und manchmal zu einem notwendigen Umweg, der uns am Ende zum ersehnten persönlichen Platz und neuer Verwurzelung führen kann.
Doch gibt es ja auch unzählige Sesshafte, die an ihrem jetzigen Ort schon lange fest verwurzelt sind oder es so bald wie möglich werden wollen. Vielleicht empfinden sie die Zustände in unserem Land als ebenso belastend wie wir! Wie gehen sie damit um? Haben sie vielleicht die innere Gelassenheit entwickelt, um sich gewisse Freiheiten auch in einem politisch enger werdenden Land zu bewahren — oder sie sich notfalls mit anwaltlicher Hilfe zu erstreiten? Sind sie vielleicht innerlich stabil und ausgeglichen genug, um sich aus dem nationalen und globalen Geschehen weit genug zu lösen, um trotzdem mit klarem Fokus ihr Leben zu leben?
Eine Lösung für manch sesshaften Charakter kann das Leben in einer Gemeinschaft sein. Allein in Deutschland gibt es laut des Verzeichnisses „Eurotopia“ über zweihundert davon (2), weltweit dürfte die Anzahl in die Tausende gehen. Das Leben in einer Gemeinschaft eignet sich, um neue Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens zu erproben und aufzubauen, und vor allem auch, um aus dem Gefühl der Isolation und Machtlosigkeit herauszukommen, denn dort lebt und wirkt man zusammen mit anderen gleichgesinnten Menschen.
Die Suche nach einer passenden Gemeinschaft hat vieles gemein mit der Suche nach einem passenden Auswanderungsland — geht es doch in beiden Fällen um die Verabschiedung von Gewohntem und den Eintritt in etwas Neues. Auch bei der Gemeinschaftssuche hängt der Erfolg davon ab, wie gut wir es schaffen, unsere inneren Bedürfnisse zu erkennen, also uns darüber klar werden, worum es uns bei der Veränderung genau geht:
Möchten wir gemeinsam mit anderen Menschen ein Lebens- oder ein Wirtschaftsmodell verwirklichen, zum Beispiel eine Selbstversorger- oder eine Mehrgenerationengemeinschaft? Wollen wir weltanschaulich auf einem Nenner sein, während jeder beruflich seinen eigenen Weg verfolgt? Oder geht es uns darum, unsere soziale Seite zu leben und in der Gemeinschaft eine Wahlfamilie zu finden?
Eine spannende Gemeinschaft durften wir vor einiger Zeit in Nordfriesland besuchen — sie besteht fast ausschließlich aus Manova-Lesern und somit aus einer Gruppe kritischer Menschen, die sich ihre eigenen, abweichenden Gedanken zum politischen Geschehen machen (3). Bei unserem Besuch wurden wir als Erstes von einer eindrucksvollen Bücherausstellung in einem ihrer Gewächshäuser empfangen, in der ich so gut wie jeden Buchtitel sah, auf den ich während der Corona-Zeit in der kritischen, alternativen Szene gestoßen war: Bücher von Daniele Ganser, Rainer Mausfeld, Ernst Wolff, Albrecht Müller, Norbert Häring und vielen anderen.
In dieser Hofgemeinschaft trafen wir auf kritische Köpfe, die der gemeinsame Wunsch eint, eigene, konstruktive Formen des Zusammenlebens, Arbeitens und Wirtschaftens aufzubauen und dadurch in eine gemeinsame Kraft und Mitgestaltung des globalen Wandels zu kommen. Oder um es mit einem von ihnen empfohlenen Buchtitel von Joanna Macy zu sagen: „Hoffnung durch Handeln — dem Chaos standhalten, ohne verrückt zu werden“ (4).
Uns persönlich wurde dagegen bald klar, dass wir uns auch international umsehen wollten, haben wir doch die Hoffnung, ein Land zu finden, in dem abweichende Bildungsformen wie Freilernen und Homeschooling auf weniger heftigen Widerstand stoßen als bei den deutschen Behörden (5). So werden wir uns nun vorübergehend auf die Reise machen, in der Hoffnung, bald ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, wo unser Platz sein könnte. Und weil es für uns als Musiker und Musikpädagogen nicht erfüllend wäre, größtenteils digital zu arbeiten, ginge dabei doch viel zu viel Menschenkontakt und Lebendigkeit verloren, müssen wir andere Lösungen als die klassischen digitalen Nomaden finden, um unsere Reise zu finanzieren (6).
Machen wir uns also auf in die Zukunft und lassen wir uns nicht abschrecken von der Ungewissheit, die über unseren Plänen und Sehnsüchten liegt.
Lernen wir, vorübergehende Richtungslosigkeit auszuhalten und suchen wir nicht nur im Äußeren, sondern vor allem sehr aufmerksam in unserem Innern: Wenn wir uns intensiv mit uns selbst beschäftigen, mit dem, was uns blockiert, schmerzt und endlich geheilt werden will, werden wir schrittweise wieder empfänglich für die leise Stimme unseres Innern, die Stimme unserer Seele (7). Sie ist es, die uns leitet und den Weg weist. Sie ist es, die unser Kompass ist und uns hilft, uns an Weggabelungen mutig für eine Richtung zu entscheiden.
Ich schaue nun wieder öfter auf eine Zeichnung, die ich vor Jahren gemacht und in unserer Küche aufgehängt habe: „Was bringt dein Herz zum Singen?“ steht auf ihr. Verwundert musste ich feststellen, dass ich diese Frage über die letzten Jahre fast gänzlich vergessen hatte. Dabei ist sie doch die eine, essentielle Frage überhaupt. Durch sie richten wir uns auf unsere Bestimmung aus. Lasst uns also den leisen Gesang unseres Herzens und unserer Seele nicht vergessen und ihm durch alle Schwierigkeiten hindurch konsequent folgen. Es macht einen großen Unterschied für die Welt, ob wir als Individuen heilen und unser Glück und unsere Bestimmung gefunden haben.
Das, was wir dann an positiver Energie ausstrahlen, wirkt sich auf alles und alle in unserer Umgebung aus und zieht seine feinen, positiven Linien, ganz wie ein Kieselstein, der, ins Wasser geworfen, seine konzentrischen Kreise bildet. So werden wir durch unsere wiederentdeckte, liebevolle Herz- und Seelenenergie schließlich selbst zum Teil der großen Verwandlung und tragen dazu bei, dass sich diese positiven Kräfte wie Licht auf unserer Erde ausbreiten. Lasst uns nie unterschätzen, mit welch großer Schöpferkraft wir von Gott beschenkt sind. Diese Schöpferkraft wartet nun darauf, dass wir sie ausüben und zum Guten verwenden.
Quellen und Anmerkungen
(1) Weil ich nicht mehr genau weiß, in welchem von Louise Hays zahlreichen Veröffentlichungen ich auf diese Botschaft gestoßen bin, kann ich sie hier nur sinngemäß wiedergeben.
(2) https://eurotopia.de/; es empfiehlt sich in jedem Fall, das gedruckte Verzeichnis in Buchform zu bestellen, da nur dort ausführliche Informationen zu den Gemeinschaften aufgeführt werden. Wer lieber online sucht, könnte dagegen hier fündig werden: https://www.bring-together.de/de/gemeinschaft/communities
(3) Diese Gemeinschaft — die Hofgemeinschaft in Nordfriesland — bat mich ausdrücklich darum, sie namentlich zu nennen, denn sie sucht neue Mitstreiter. Hier kann man mehr über sie erfahren: https://www.hofgemeinschaft-in-nordfriesland.de/
(4) https://www.hofgemeinschaft-in-nordfriesland.de/index.php/linkempfehlungen
(5) Viele Anregungen zum Thema Freilernen und seiner möglichen Umsetzung in Deutschland habe ich bei der Freilerner-Coachin Lisa Edelhäußer gefunden, die Familien auf ihrem Weg ins Freilernen begleitet und besonders auch dann hilft, wenn Auswandern für die eigene Familie eben nicht in Frage kommt: https://familienzeitentdecken.de/ Lisa betreibt auf ihrer Webseite einen eigenen Blog sowie auf Telegram einen eigenen Kanal: https://t.me/s/freilernenfreileben?before=2094
(6) Eine interessante Möglichkeit können verschiedene Formen des „Work and Travel“ sein. Auf Workaway (https://www.workaway.info/) und Helpx (https://helpx.net/https://helpx.net/) beispielsweise lassen sich weltweit zahllose Gastgeber finden, die Menschen als Helfer auf ihren Höfen oder in ihren Gemeinschaftsprojekten empfangen und ihnen im Austausch gegen Mitarbeit kostenfreie Unterkunft und Verpflegung bieten. Auch Familien können teilnehmen.
(7) Spannende Anregungen hierzu habe ich unter anderem bei Alicia und Robert von „Zeit des Wandels“ (https://zeit-des-wandels.de/) gefunden. Als Europäer, die ihr persönlicher Berufungsweg zu einem Leben als Maya-Priester nach Guatemala geführt hat, wirken sie intensiv daran mit, das Wissen der Urvölker zurück ins europäische Bewusstsein zu bringen, und geben in ihren regelmäßigen YouTube-Videos Anregungen und Impulse für einen individuellen Heilungs- und Reifungsweg als Mensch.
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