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Der aufbrechende Mensch

Der aufbrechende Mensch

Um aus der Sackgasse des Materialismus herauszukommen, braucht es mehr als nur Veränderung — eine umfassende Verwandlung steht an. Exklusivauszug aus „Die Metamoderne“.

Einleitung

Irgendwie sind wir auf unserer Suche nach einem glücklichen und sinnerfüllten Leben vom Weg abgekommen. Wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit, aber bisher ging es ja immer noch einigermaßen weiter. Jedenfalls hier bei uns, in der „westlichen“ Welt. Aber jetzt stecken wir fest. Das merken inzwischen sogar diejenigen, die auf diesem Weg bisher mit größter Überzeugung vorangeschritten sind.

Es ist offenkundig: Wir haben uns im Gestrüpp der von uns selbst geschaffenen Lebens- und Vorstellungswelten verrannt. Angesichts der damit einhergehenden Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit gibt es allenthalben intensive Versuche, die verlorengegangene Ordnung wiederherzustellen. Manche bemühen sich um die Wiederherstellung der verloren gegangenen Macht- und Ordnungsstukturen, andere versuchen die beobachtbaren Phänomene möglichst valide und präzise zu analysieren und zu katalogisieren, um die entstandenen Probleme anschließend der Reihe nach abarbeiten und klären zu können. Beider Bestrebungen sind ausgerichtet auf eine aus der Sicht ihrer jeweiligen Vertreter angestrebte „Verbesserung“ der nicht mehr so recht zu ihren bisherigen Vorstellungen passenden äußeren Welt.

Die Vorstellung, die Welt könne und müsse so gestaltet werden, wie sie für die immer effizientere Umsetzung der jeweils verfolgten Absichten und Ziele gebraucht wird, ist Ausdruck des Selbstverständnisses der Mitgestalter einer zu Ende gehenden Epoche, die wir heute als „Moderne“ bezeichnen. Begonnen hatte sie als eine Befreiungsbewegung aus den Fesseln mittelalterlicher — zur Machterhaltung vor allem kirchlicher Ordnungsstrukturen geschaffener — Denkverbote und Verhaltensregeln und der Propagierung eines dazu passenden Menschen- und Weltbildes.

Das Leitbild der insbesondere auf wirtschaftlichem und wissenschaftlich-technologischem Gebiet enorm erfolgreichen Aufbruchbewegung war die Vorstellung, mithilfe des nackten Verstandes alle Probleme der Menschheit lösen zu können. Und tatsächlich haben es mit diesem Selbstverständnis besonders forsch voranschreitende Vertreter unserer Spezies geschafft, bis auf den Mond zu fliegen, das menschliche Genom zu entschlüsseln oder andere Lebewesen gentechnisch so zu manipulieren, dass sie erwünschte Leistungen wie Automaten erbringen.

Von der Veränderung zur Verwandlung

Die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften, die durch den Einsatz des nackten Verstandes in dieser Epoche der Moderne hervorgebracht wurden, sind so beeindruckend und so bestimmend für unser heutiges Leben geworden, dass es eine naheliegende Versuchung war, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in den Mittelpunkt unseres eigenen Selbstverständnisses zu stellen. Erst jetzt, angesichts der wachsenden Probleme auf der Welt, wird offenbar, dass wir mithilfe unseres nackten Verstandes nicht nur viele Probleme lösen, sondern auch sehr viele, bisher nicht dagewesene Probleme erzeugen können.

Anstatt uns immer stärker mit allem Lebendigen zu verbinden, hat uns der Einsatz unserer kognitiven Fähigkeiten immer stärker von allem Lebendigen abgetrennt. Wir können inzwischen wohl bald auf den Mars fliegen und haben Computer erfunden, die viele unserer kognitiven Leistungen weit übertreffen. Aber wir schauen rat- und tatenlos zu, wie jeden Tag unvorstellbar viele Menschen verhungern, immer mehr Arten aussterben, Kriege angezettelt, Urwälder und Landschaften zerstört werden.

Das alles und noch viele andere lebensbedrohliche Verwicklungen verdanken wir den im Zeitalter der Moderne so hoch bewerteten und geförderten kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Kein Wunder also, dass sich im letzten Jahrhundert vor allem im Bereich der Kunst, der Architektur, der Literatur eine Gegenbewegung zu dieser kognitiven Hypertrophie und dem damit einhergehenden Machbarkeitswahn herausbildete. Ihren Protagonisten ging es um die kritische Hinterfragung und kreative Unterminierung des in alle Lebensbereiche vordringenden „modernen“ Selbstverständnisses der Menschen. Diese postmoderne Bewegung hat unsere Lebenswelt bunter, vielfältiger, facettenreicher, auch globaler gemacht. Damit wurden wichtige Voraussetzungen für eine Befreiung aus den in der Epoche der Moderne entstandenen Verwicklungen geschaffen. Die Lebenswelt vieler Menschen hatte sich verändert, aber ihr von den „Errungenschaften“ der Moderne geprägtes Selbstbild war noch immer weitgehend dasselbe geblieben.

Inzwischen wird immer deutlicher, dass die mit diesem Selbstverständnis geschaffenen Probleme und die damit einhergehenden Krisen und Konflikte mithilfe der alten Denk- und Handlungsmuster und der damit geschaffenen Organisations- und Ordnungstrukturen nicht mehr gelöst und bewältigt werden können. Deshalb wächst nun auch die Bereitschaft eines wachsenden Anteils der Bevölkerung, ihr bisheriges Selbstverständnis infrage zu stellen. Wir stehen damit am Beginn einer tiefgreifenden Verwandlung. Gemeint ist damit nicht, dass künftig sehr vieles anders, nachhaltiger, zielführender, effizienter oder sonst wie „besser“ gemacht werden muss als bisher. Das wären ja alles nur Veränderungen des bereits Bestehenden, also von dem, was schon da ist.

Sogar das Bemühen, die Welt verändern oder gar retten zu wollen, ist aus dem alten Selbstverständnis der Moderne erwachsen. Möglicherweise geht es gar nicht um die Frage, was sich angesichts des gegenwärtigen, leider sehr erbärmlichen Zustandes unserer Welt alles — und dazu auch noch möglichst schnell — verändern muss. Möglicherweise geht es nur sehr ernsthaft um uns selbst, um die Bewusstwerdung unseres individuellen und bisher kaum hinterfragten Selbst-, Menschen- und Weltbildes. Was dabei geschieht, ist keine Veränderung, das ist eine innere Verwandlung.

Wir sind am Beginn eines Zeitalters angekommen, in dem es nicht mehr um die Verwirklichung von Ideen und das Ingangsetzen irgendwelcher Veränderungen geht, sondern um eine Verwandlung, die immer mehr Menschen in ihrem Inneren erleben dürfen, weil sie sich in ihnen vollzieht. Wie auch aus den anderen Beiträgen dieses Buches deutlich wird, spricht vieles dafür, diese neue Epoche als Metamoderne zu bezeichnen.

Es mag sich etwas biologistisch anhören, aber so eine Verwandlung ist recht gut mit der Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling vergleichbar. Auch hier gibt es einen Auslöser, der diesen inneren Verwandlungsprozess der Raupe in Gang setzt. Bei den Schmetterlingsraupen heißt der „Ecdyson“ und ist ein Steroidhormon. Das produziert die Raupe von ganz allein, wenn sie sich hinreichend fett gefressen hat. Unter der Wirkung dieses Hormons beginnt sich ihr gesamtes Inneres mit allen Organen aufzulösen und sich anschließend auf neue Weise wieder aufzubauen — anders als vorher, nicht mehr als Raupe, sondern als Schmetterling. Der schlüpft dann aus seinem Kokon, den er als Raupe kurz vor dieser Verwandlung zum Schutz dieses schwierigen Prozesses noch um sich herum gebaut hatte, entfaltet seine Flügel und fliegt los.

Vielleicht kann eine Raupe befähigt werden, den Nektar von Blüten aufzusaugen, statt Blätter abzufressen, vielleicht auch einen Faden zu spinnen, an dem sie durch die Luft schaukeln kann. Das wären Veränderungen, die es ihr ermöglichen, bestimmte Leistungen eines Schmetterlings zu vollbringen. Die könnte sie auch ein Leben lang einüben und trainieren. Aber eine Verwandlung wird sie so nie erleben, es sei denn, das Ecdyson schießt ihr doch noch irgendwann durch ihren alten Raupenkörper.

Was das Ecdyson bei den Raupen in Gang setzt, wird bei uns Menschen, wenn wir erwachsen geworden sind, durch etwas ausgelöst, das wir „innere Berührung“ nennen. Leider haben sehr viele Menschen gelernt, sich in ihrem Inneren nicht mehr so leicht berühren zu lassen

Von außen nach innen

Ihnen fällt es sehr schwer, in sich hineinzuhören und zu spüren, was da in ihnen ruft. Es geht nicht, solange ihr Blick noch so stark auf das Außen gerichtet ist und sie noch zu sehr in sich selbst und in ihren Beziehungen mit anderen verwickelt sind. Sie müssten sich zunächst aus diesen Verwicklungen befreien, sich also ent-wickeln. Danach entfaltet sich das in jedem Einzelnen und das in der jeweiligen Gemeinschaft angelegte Potenzial von ganz allein, ohne Anstrengung. Die eigentliche innere Verwandlung ist also gar nicht zu schwer. Schwer fällt es den meisten Menschen nur, wieder mit sich selbst, mit dem, was sie bisher so tapfer und oft auch sehr lange in sich selbst unterdrückt hatten, in Kontakt zu kommen.

Das Bild des Hamsterrades beschreibt am anschaulichsten den Zustand, der das Lebensgefühl einer wachsenden Zahl von Menschen in unserer gegenwärtig noch vom alten Geist der Moderne durchdrungenen Leistungsgesellschaft prägt. Interessanterweise gilt das inzwischen nicht nur für all jene, die in diesem Rad gefangen sind, sondern ebenso für diejenigen, die es selbst am Laufen halten.

Dieses Hamsterrad kann eine im eigenen Hirn verankerte Vorstellung davon sein, worauf es im Leben ankommt, wofür es sich anzustrengen lohnt. Dazu gehören auch die festen Überzeugungen davon, was sich im Leben verändern lässt und was man, wie alle anderen, einfach auszuhalten hat. Wer so unterwegs ist, fragt sich nicht mehr, wer ihn eigentlich auf diesen Weg geschickt, von wem er diese Vorstellungen übernommen hat. Er will ja inzwischen selbst so gut wie möglich funktionieren. Deshalb hält er auch all das, was er durch sein optimales Funktionieren, das heißt durch seine dabei vollbrachten Leistungen erreicht, für das, wofür es sich zu leben lohnt, worauf es also im Leben ankommt. In dieser Vorstellung bleibt der betreffende Mensch gefangen. Wenn es für sie oder ihn nichts mehr zu erreichen gibt, hat ihr Leben seinen Sinn verloren.

Ergänzt und in seiner Wirkung verstärkt wird dieses Hamsterrad im eigenen Kopf durch die Vielzahl von Organisations- und Verwaltungsstrukturen, die jede arbeitsteilige Gesellschaft entwickelt, um die anstehenden Aufgaben zuzuweisen und die für die Erfüllung dieser Aufgaben in Aussicht gestellten Belohnungen zu verteilen. Ähnlich wie die im Hirn des Einzelnen verankerten Vorstellungen erzeugen aber auch diese von Gemeinschaften entwickelten Organisations- und Verwaltungsstrukturen eine sich selbst stabilisierende Eigendynamik. Dann wird die Organisation und die Verwaltung immer effizienter, und zwangsläufig wird auf diese Weise all das gestärkt, was dem noch besseren Organisieren und Verwalten von all dem dient, was da jeweils organisiert und verwaltet wird.

Nur scheinbar handelt es sich dabei um Arbeit, Geld, Gesundheit, Bildung oder Renten. In Wirklichkeit sind es immer lebendige Menschen, die als Arbeitnehmer, Lohnempfänger, Einwohner, Patienten, Schüler oder Rentner zu Gegenständen, zu Objekten dieses so entstandenen Organisations- und Verwaltungsapparates gemacht werden. Je häufiger aber Menschen die Erfahrung machen, dass sie organisiert und verwaltet werden, desto seltener finden sie Gelegenheit, sich selbst als Entdecker ihrer eigenen Möglichkeiten und als Gestalter ihres eigenen Lebens zu erleben. Und je früher und intensiver das geschieht, desto weniger gelingt es ihnen, diese Fähigkeiten aus sich selbst heraus überhaupt noch zu entwickeln. Dann bleiben sie zeitlebens Gefangene in diesem sozialen Hamsterrad der von uns selbst geschaffenen Organisations- und Verwaltungsstrukturen.

So könnte es ewig bleiben, und nichts würde sich ändern, wenn Menschen tatsächlich so funktionierten wie Maschinen oder wenn man sie tatsächlich so behandeln könnte wie Objekte. Aber Menschen sind eben doch lebendige Wesen. Und die lassen sich nicht funktionalisieren, höchstens für eine begrenzte Zeit und auch nur in einem begrenzten Raum, aber niemals alle, überall und gleichzeitig. Deshalb wird es immer einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen geben, die sich ihre angeborene Freude am eigenen Entdecken und Gestalten ihrer jeweiligen Lebenswelt nicht rauben lassen.

Und wenn es die Erwachsenen nicht schaffen, dann schaffen es ihre Kinder. Zur Not einfach nur dadurch, dass sie nicht so funktionieren, wie die Erwachsenen sich das wünschen und wie es erforderlich wäre, damit die Welt dieser Erwachsenen so bleiben kann, wie sie ist. Wenn unsere Kinder nicht mehr bereit oder imstande sind, all das zu übernehmen und weiterzuführen, was wir in unserem Kulturkreis an Kulturleistungen geschaffen haben — und dazu zählen eben auch unsere in der Epoche der Moderne herausgebildeten Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, ebenso wie die zur Umsetzung dieser Vorstellungen geschaffenen Organisations- und Verwaltungssysteme —, dann geht es nicht mehr so weiter wie bisher. Dann verliert das, was bisher bedeutsam war, seine Bedeutung. Dann wird für diese nachwachsende Generation etwas bedeutsam, was deren Eltern und Großeltern nicht sonderlich wichtig war. Dann beginnen sich diese Kinder für anderes zu begeistern und sich über anderes zu freuen, und dann bekommen sie auch ein anderes Gehirn. Und mit dem sind sie dann weder bereit noch in der Lage, in selbst gebauten Hamsterrädern herumzurennen.

Vom Machenwollen zum Geschehenlassen

Diese sich selbst ereignende Umorganisation des Gehirns ist es, was die Neurobiologen als einen sich selbst organisierenden und sich selbst optimierenden Prozess beschreiben. Er vollzieht sich übrigens nicht nur im Gehirn, sondern in allem, was lebendig ist. So lange es Leben gibt, erzeugt jede Lebensform durch ihre eigenen Aktivitäten einen sich zwangsläufig verändernden Lebensraum, an den sich nachfolgende Generationen anpassen. Und indem sie das tun, verändern sie wiederum die Lebensbedingungen für ihre Nachkommen in einer bestimmten Weise. Dieser transgenerationale Selbstorganisationsprozess kann durch Einflüsse von außen modifiziert und in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Aber er bleibt immer ein autopoietischer Prozess, ein Prozess, in dem jede Lebensform sich selbst fortwährend weiter gestaltet oder poetischer ausgedrückt: sich selbst immer wieder neu erfindet.

Manche Lebewesen haben das Kunststück geschafft, einen Lebensraum zu besiedeln, der über viele Generationen hinweg weitgehend so geblieben ist, wie er einmal war und den die Individuen der betreffenden Art auch durch ihre eigenen Aktivitäten kaum verändern, auch nicht durch ihr eigenes Wachstum und ihre Vermehrung. Aber zu diesen Lebewesen zählen wir Menschen nicht. Im Gegenteil, keiner anderen Spezies ist es gelungen, ihre Lebenswelt so effizient durch ihre eigenen Aktivitäten selbst zu gestalten wie uns Menschen. Und indem wir unsere Lebenswelt auf eine bestimmte Weise verändern, passt sich — ob wir das wollen oder nicht — auch automatisch all das an diese von uns selbst geschaffene Lebenswelt an, was nach unserer Geburt noch formbar ist.

Am plastischsten und formbarsten ist unser Gehirn, und am leichtesten beeinflussbar ist die Strukturierung unseres Gehirns während unserer frühen Kindheit. Allerdings sind es nicht die von uns gestalteten Lebensverhältnisse, anhand derer sich das kindliche Gehirn strukturiert, sondern es sind die subjektiven Bewertungen des in diese von uns geschaffenen Verhältnisse hineinwachsenden einzelnen Kindes. Nicht das, was unsere Kinder vorfinden oder was wir ihnen vorsetzen, entscheidet darüber, wie und wofür sie ihr Gehirn benutzen und wie es sich strukturiert, sondern nur das, was in ihren Augen für sie wichtig, was aus ihrer subjektiven Perspektive für sie wirklich bedeutsam ist. Und das ist nur selten und meist auch nur ganz am Anfang das, was ihre Eltern, Erzieher oder Lehrer für bedeutsam halten. Deshalb heißt dieser Anpassungsprozess ja auch Autopoiesis, also Selbstgestaltung, und nicht Xenopoiesis, Fremdgestaltung. Und deshalb können Erwachsene ihre Kinder auch nicht nach ihren Vorstellungen formen und zu dem machen, was sie sich wünschen. Sie können sie nur einladen, ermutigen und inspirieren, all das als wichtig und bedeutsam für sich selbst zu bewerten, was diese Erwachsenen selbst für wichtig und bedeutsam halten.

Was aber erscheint uns in unseren Augen heutzutage als besonders bedeutsam? Wofür könnten wir nicht nur uns und unsere Kinder, sondern auch andere Menschen begeistern? Was würde uns gut tun und ihnen auch?

Die Antwort auf all diese Fragen ist so einfach: Wir könnten gemeinsam versuchen, über uns hinauszuwachsen. Wir könnten uns gegenseitig einladen, ermutigen und inspirieren, all das zu entdecken, was es miteinander und aneinander und in der Welt, in der wir leben, zu entdecken gibt. Wenn uns das bedeutsam wäre, würden wir lernen, uns selbst, die anderen und unsere Welt noch einmal anders, mit anderen Augen, mit einem offeneren Blick zu betrachten. So könnten wir vielleicht auch das wiederfinden, was wir unterwegs verloren haben: die Freude an der Buntheit und Vielfalt unserer Welt, deren Teil wir sind und die es nur so lange geben wird, wie wir sie mit all unseren Sinnen erspüren und mit unserem zeitlebens lernfähigen Hirn vielleicht irgendwann auch begreifen und bewahren können.

Dann wären wir wieder in Einklang mit dem, was das Leben in Wirklichkeit ist: kein sich selbst genügender und sich selbst erhaltender, sondern ein erkenntnisgewinnender Prozess.

Vom Trennen zum Verbinden

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, dieser Satz von Willy Brandt kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche. Sicher war mit der deutschen Wiedervereinigung im Herbst 1989 etwas Weltbewegendes geschehen. Aber das war nur ein besonders deutlich zutage tretender Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses das sich damals auszubreiten und das Zusammenleben von Menschen zu bestimmen begann. Nicht wie bisher, in der zu Ende gehenden Moderne, indem sich zusammenschließt oder zusammenrottet, was entweder besonders gut zusammenpasst oder gemeinsam mächtiger ist als allein. Oder was in der Not zusammengefunden hat. Oder was mit eiserner Gewalt zusammengeschmiedet worden ist.

Solche Gesellschaften gibt es immer noch, und unter bestimmten Bedingungen können sie auch sehr leicht wieder erstarken, aber aus einer globalen Perspektive wird deutlich erkennbar, wie gleichzeitig und an vielen unterschiedlichen Orten auf unserem Planeten menschliche Gemeinschaften, die zum Teil über sehr lange Zeiträume hinweg sehr unterschiedliche Wege gegangen waren und sich dabei oft sehr weit voneinander entfernt hatten, wieder zusammenfinden, miteinander nach Lösungen suchen, einander kennenlernen und voneinander lernen. Das ist ein schwieriger Prozess, der nicht überall reibungslos gelingt, mit der Folge, dass sich bestimmte Gemeinschaften auch immer wieder einmauern, von anderen abgrenzen, andere ausnutzen, womöglich sogar unterdrücken und unterwerfen.

Menschliche Gemeinschaften, die auf solche trennenden statt verbindenden Reaktionsmuster zurückgreifen, verhalten sich ähnlich wie ein einzelner Mensch, der sich verunsichert und bedroht fühlt. In dessen Gehirn ist dann wegen allgemeiner Übererregung auch kein komplexes, handlungsleitendes Muster mehr abrufbar. Bei dem geht es dann im Hirn wie in einem Fahrstuhl hinab, bis dorthin, wo selbst bei größter Übererregung immer noch ein stabiles, verhaltenssteuerndes Netzwerk abgerufen werden kann. Das sind dann oft nur noch die archaischen Notfallprogramme im Hirnstamm.

Und wenn die aktiviert werden, wird der betreffende Mensch versuchen, seine Probleme durch Angriff zu lösen; wenn das nicht geht, durch Flucht; und wenn beides nicht funktioniert, fällt er in ohnmächtige Erstarrung. Ein Ausdruck eigener Stärke und innerer Kraft sind solche regressiven Verhaltensweisen nicht. Weder ein einzelner Mensch noch eine Gemeinschaft kann durch Ermahnungen, Drohungen oder gar durch Unterwerfung dazu gebracht werden, diese regressiven Verhaltensmuster aufzugeben und wieder nach komplexeren, also umsichtigeren und nachhaltigeren Lösungen für seine Probleme zu suchen. Nur die Rückgewinnung von Vertrauen würde dazu führen, dass die höheren Bereiche im Gehirn, vor allem die in der präfrontalen Rinde lokalisierten Netzwerke wieder nutzbar werden.

Deshalb gibt es, wenn wir unsere Konflikte nicht bis in alle Ewigkeit fortführen wollen, gar keine andere Möglichkeit, als das fortzusetzen, was einzelne Menschen seit jeher versucht haben und was jetzt, im 21. Jahrhundert, erstmals als globales Unternehmen in Gang gekommen ist: Brücken bauen, Vertrauen stiften. Dazu müssten wir künftig einander einladen, ermutigen und, wenn möglich, auch inspirieren, noch einmal eine neue, eine bessere Erfahrung in der Begegnung miteinander zu machen. Aber andere einladen und ermutigen kann freilich nur jemand, der die Kraft dazu hat, der also nicht selbst ein Bedürftiger ist und sich auf Kosten anderer zu stärken versucht.

Die Geschichte der Menschheit ist zwar eine Geschichte fortwährender kriegerischer Auseinandersetzungen. Was uns aber zu dem gemacht hat, was wir heute sind, sind nicht die Kriege, die von den einen gewonnen und den anderen verloren wurden, sondern die Kulturleistungen, die Menschen überall auf der Erde trotz all dieser Kriege hervorgebracht und an ihre Kinder und andere Menschen weitergegeben haben.

Diese Vielfalt kultureller Errungenschaften werden wir nur bewahren können, indem wir erkennen und uns bewusst machen, dass kein Mensch seine Potenziale entfalten kann, wenn er in einer Welt leben muss, in der alle regionalen und kulturellen Unterschiede und Besonderheiten nivelliert sind, in der alles überall gleich ist. Das wäre das Gegenteil von dem, was passieren müsste, wenn nun immer stärker zusammenwächst, was zusammengehört. Das wäre eine Welt, in der alles auf das zurechtgestutzt worden ist, was für eine Profitmaximierung zusammenpasst.

Vom Sichanpassen zum eigenen Gestalten

Unsere wichtigsten Erfahrungen machen wir immer in der Beziehung zu anderen Menschen. Verankert werden diese Erfahrungen in Form gekoppelter Netzwerke im präfrontalen Kortex. Sie bestehen aus einem kognitiven — was habe ich erlebt? — und einem emotionalen — wie ist es mir dabei ergangen? — Anteil. In ähnlichen Kontexten immer wieder gemachte oder in der eigenen Vorstellung häufig wieder aufgerufene Erfahrungsmuster werden als gebahnte Netzwerkstrukturen zu Metaerfahrungen verdichtet, die wir im deutschen Sprachgebrauch als innere Haltungen, als innere Einstellungen und innere Überzeugungen, im Englischen vielleicht am ehesten als „Mindset“ bezeichnen.

Diese Haltungen bestimmen unsere Bewertungen und sind damit entscheidend dafür, was wir im Leben, also innerhalb unseres jeweiligen Kulturkreises, bedeutsam finden, worauf wir achten, womit wir uns beschäftigen, was uns emotional berührt und worüber wir uns begeistern. Es sind also unsere bisher in bestimmten Lebensräumen gesammelten Erfahrungen und die daraus entstandenen Haltungen, die darüber bestimmen, was für Erfahrungen wir künftig machen werden und wie sich deshalb unser Gehirn auf der Grundlage der dort bisher bereits erfahrungsabhängig herausgebildeten Netzwerke noch weiter strukturiert.

Der kulturelle Raum, in den wir hineinwachsen, in dem wir unsere ersten Erfahrungen sammeln, die sich dann zu Haltungen verdichten, sind unsere jeweiligen Herkunftsfamilien. Die wiederum sind eingebettet in den kulturellen Raum der Kommune, der Stadt, der Region, des Landes, des Kulturkreises mit den jeweiligen natürlichen, ökologischen, politischen, historischen, religiösen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Gegebenheiten, die diesen Kulturkreis auszeichnen. Die Erfahrungen, die Menschen dort im Lauf ihres Lebens machen, machen müssen oder machen können, werden individuell umso unterschiedlicher sein, je weniger das jeweils übergeordnete System Einfluss auf die darunter liegenden Subsysteme nimmt.

Krieg, Naturkatastrophen, Hunger, Not und Elend, ein sehr zentralistischer Staat oder ein alle Bereiche durchdringendes Wirtschaftssystem, eine von allen geteilte Ideologie oder eine gemeinsame religiöse Überzeugung können bisweilen so übermächtig werden, dass sie den Erfahrungsraum der einzelnen Familien, jedes einzelnen Mitglieds und vor allem der in diese Gemeinschaften hineinwachsenden Kinder bestimmen. Das war im Dreißigjährigen Krieg so, das war während der Industrialisierung in England so oder während der Weltwirtschaftskrise im vorigen Jahrhundert, während der Zeit des Nationalsozialismus oder in den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen kommunistischen Diktaturen. Und das ist natürlich auch heute noch so, in manchen Ländern und Kulturkreisen stärker als in anderen.

Immer machen Menschen unter solchen restriktiven Bedingungen mehrheitlich die Erfahrung, dass sie den jeweils herrschenden Zwängen und Erfordernissen hilflos ausgeliefert sind, dass sie sich fügen, sich an die Verhältnisse anpassen müssen und dass es unter diesen Bedingungen nichts Bedeutsameres gibt, als das nackte Überleben zu sichern. Dann ist jeder sich selbst der Nächste, und jeder versucht auf seine Weise durchzukommen. Manche gehen in den Widerstand, andere versuchen abzutauchen, der Rest hält aus und hofft auf bessere Zeiten oder auf Rettung, woher auch immer sie kommen mag.

In ihren Gehirnen sind die archaischen Notfallprogramme das, was unter diesen Bedingungen noch am besten funktioniert. Aus den Erfahrungen, die Menschen unter solchen Bedingungen bei ihrer Suche nach Lösungen machen, werden Haltungen, innere Einstellungen und Überzeugungen, die auch dann noch ihre Bewertungen und ihr Verhalten und ihr Denken und Fühlen bestimmen, wenn sich der ganze Spuk aufgelöst hat, wenn die Not vorüber, der Krieg beendet, der Diktator gestürzt oder die herrschende Ideologie zerbröselt ist.

Bis dahin waren es die Verhältnisse, die sie gezwungen hatten, sich so zu verhalten, wie es unter den damals herrschenden Bedingungen erforderlich war. Nun sind es die im eigenen Frontalhirn durch diese Erfahrungen entstandenen Haltungen und inneren Überzeugungen, die diese Menschen dazu bringen, sich weiterhin so zu verhalten, weiterhin so zu denken, zu fühlen und zu handeln wie vorher. Mit diesen Haltungen prägen sie als Eltern das familiäre Leben zu Hause, als Lehrer und Erzieher den kulturellen Erfahrungsraum in Schulen und Bildungseinrichtungen, als Führungskräfte das in Unternehmen und Organisationen herrschende Betriebsklima.

Meist dauert es deshalb mehrere Generationen, bis es den nachwachsenden Kindern und Jugendlichen gelingt, sich allmählich aus den alten Lösungsmustern „herauszuwickeln“, die sie von ihren Eltern übernommen und als feste Überzeugungen, innere Einstellungen und Wertvorstellungen übernommen hatten. Vorreiter dieses Prozesses sind häufig Nachkommen solcher Eltern, denen es unter den ehemals herrschenden restriktiven Bedingungen noch am besten gelungen war, sich dem allgemeinen Anpassungsdruck zu widersetzen. Und erleichtert wird dieser Prozess durch die Begegnungen mit solchen Vorbildern, die in weniger restriktiven Erfahrungsräumen aufgewachsen sind und dort offenere Haltungen entwickeln konnten.

Diese „Musterbrecher“ eröffnen neue Erfahrungsräume, die zunächst als Jugendkulturen von den Erwachsenen beargwöhnt, später geduldet und schließlich von ihnen selbst mitgestaltet werden. Die so gemachten neuen Erfahrungen führen zur Herausbildung anderer Haltungen. Damit ändern sich die Bewertungen, und mit diesen anderen Bewertungen ändert auch sich der Blick für das, worauf es im Leben ankommt. Und das daraus erwachsende neue Selbstverständnis ist nun nicht mehr bestimmt vom Streben nach Erfolg und Anerkennung, dem Zurückstellen eigener Bedürfnisse oder dem krampfhaften Bemühen um Besitzstandwahrung. Dieses neue Selbstverständnis wird gespeist von all den beglückenden Erfahrungen, die beim Wiederentdecken der eigenen Entdeckerfreude und Gestaltungslust gemacht werden. Damit wird die Offenheit für Neues gestärkt, auch der Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen, und damit wächst auch die Zuversicht, Probleme und Konflikte auf eine konstruktive Weise lösen zu können.

Wenn es innerhalb eines Kulturkreises zu einer solchen Veränderung der inneren Haltungen und Überzeugungen bei einer kritischen Masse der Bevölkerung gekommen ist, so entsteht ein neuer Geist und die Menschen beginnen — jeder und jede Einzelne für sich und alle gemeinsam — über sich hinauszuwachsen.

Dieser verwandelte Geist hat einen Namen: metamodernes Selbstverständnis.



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