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Den Glaubenskrieg beenden

Den Glaubenskrieg beenden

Trotz mancher Fehler und Übertreibungen der „Trans-Bewegung“ — es ist wichtig, Betroffenen zuzuhören und den verschiedenen Schicksalen mit Respekt zu begegnen.

„Man müsste es dahin bringen, dass sich alle Menschen des Fanatismus und der Intoleranz schämen.“

Friedrich der Große hat es gesagt. Es hat ihn nicht gehindert, in drei Schlesischen Kriegen das Blut von 1,2 Millionen Menschen zu vergießen — mit den Waffen der damaligen Zeit.

Es soll an dieser Stelle aber nicht um Krieg, sondern um die enge Perspektive einiger Frauenrechtlerinnen gehen.

Meine Freundin Dorothea hat nach dem Beitrag Anne Burgers vom 29. Juni 2024, in dem es um die angebliche Bedrohung von Frauenrechten durch Kylie ging, eine selbsterklärte Frau mit vollständig männlicher „Bestückung“, gelacht und gemeint:

„Wenn ich mich künftig bei den Jungs umziehe, haben die ihren Spaß und ich schütze gleichzeitig die Frauenrechte.“

Doro liebt das Leben und Männer im Allgemeinen, Berg- und Ausdauersport sowie die ikonischen Strickkollektionen eines serbischen Labels im Besonderen. Sie lehnt Gendersprache ebenso ab wie das Selbstbestimmungsgesetz in seiner jetzigen Form — und hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, weshalb sie sich seit dem Herüberschwappen patriarchaler Strukturen in den Osten als Feministin verstand.

Im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsgesetz hat sich bei verschiedenen Frauenvereinen ein biologistischer Fundamentalismus breitgemacht, über den sich selbst die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ zerwarf. Auch wenn sich aus dem chromosomalen Geschlecht nicht in jedem Fall eindeutig der — ebenso zur Biologie gehörende — Phänotyp bestimmen lässt und damit das, was unsere Erziehung sowie den Blick der Mitmenschen auf uns bestimmt:

Als Frau gilt bei ihnen, wer einen XX-Chromosomensatz hat.

Genau das kann meine Freundin von sich leider nicht behaupten. Bei ihrer Geburt war außer einer Vulva ein winzig kleiner Schniepel zu sehen, eine Klitorishypertrophie. Das so geborene Kind bekam zwar einen Namen, aber erstmal keinen Geschlechtseintrag. Da bei ihrer Geburt in einer ostdeutschen Uniklinik nicht allerlei führende Experten im Kreißsaal standen, sollte das Kind möglichst bis zur Pubertät bleiben, wie es war.

In die Schule gekommen, hat sie erstmals so richtig realisiert, dass etwas anders war, dass bei ihr nicht alles so schön „unter Putz verlegt“ war wie bei ihren Klassenkameradinnen. Also hat sie auf dem Klo Zaubersprüche aufgesagt, und als die nicht geholfen haben, überlegt, ob man das nicht einfach abschneiden kann. Indes war Doro Mädchen genug, um von ihren Klassenkameradinnen als nichts anderes gesehen zu werden.

Mit Beginn der Pubertät wurde daraus jedoch ein Problem. Zugleich begannen ihre Vorstellungsrunden bei den „Experten“. Rückblickend ging es eher weniger darum, ihr zu helfen, sondern vielmehr, sie in die jeweiligen Forschungsergebnisse einordnen zu können: humangenetisch, endokrinologisch, neurologisch, psychiatrisch. Aber immerhin weiß sie seitdem, was ihr fehlt: ein X-Chromosom.
Das heißt:

Meine Freundin ist männlich.

Dass sie ein Mann ist, halte ich für ganz und gar ausgeschlossen, denn sie denkt weiblich, fühlt weiblich und sieht weiblich aus. Dafür verantwortlich ist eine Androgenresistenz: Die weiblichen Hormone konnten bei ihr bessere Arbeit leisten als die männlichen. Im Unterschied zum 5-α-Reduktase-Mangel, einer anderen Variante der Geschlechtsentwicklung, spricht der Körper auch in der Pubertät nicht auf Testosteron an.

Im Alter von 14 Jahren wurde das ungeliebte, peinliche Anhängsel korrigiert, da es zuverlässig jede pubertäre Annäherung im Voraus verhindert hatte. Mit 17 wurden die bisher in den Schamlippen verborgenen, aber nun wachsenden Hoden entfernt, mit 25 die Vagina verlängert, denn diese war zu kurz, um Spaß aufkommen zu lassen. Nun bedurfte es auch in Beziehungen keines Versteckspiels mehr; nun konnte sie ihren Frieden machen.

Bekanntlich ist uns nichts Menschliches fremd. Ihr Fall ist menschlich, ist alltägliche Biologie. Das vollständig Männliche und das vollständig Weibliche sind nur die beiden Pole im unzweifelhaft binären System der Geschlechter. Die Zahlen gehen dabei weit auseinander: Zwischen 1 zu 500 (1) und 1 zu 4.500 (2) wird die Anzahl der Menschen in Deutschland mit einer „Variante der Geschlechtsentwicklung“ angegeben. Die Vereinten Nationen gehen gar von 1,7 Prozent aus (3): in jedem 500-Seelen-Dorf demnach drei Personen. Hinter jeder steht ein Schicksal, ein Mensch, der sich seinen Zustand nicht ausgesucht, aber als Kind, spätestens als Jugendlicher gefragt hat: „Wer oder was bin ich? Wer oder was will ich sein?“ Das sind alles andere als belanglose Fragen, denn sie sind maßgebend dafür, wie wir mit unseren Mitmenschen interagieren dürfen und wie wir von ihnen gesehen und behandelt werden wollen. Nicht zuletzt sind sie zentral in der ersten großen Krisenzeit junger Menschen, der Pubertät. In der seit Jahren anhaltenden Debatte über den Umgang mit trans Kindern und Jugendlichen stehen für diese die gleichen Fragen im Zentrum ihres Universums.

Meine Freundin hatte Glück.

Ihr Erziehungsgeschlecht entsprach ihrem gefühlten Geschlecht, entsprach dem sozial erwarteten Geschlecht. Viele Intergeschlechtliche haben dieses Glück nicht, hadern mitunter ein Leben lang: weil man sie zu etwas erzogen hat, was sie nicht sind, weil sie zwangsoperiert wurden und ihnen auf diesem Weg ein Geschlecht zugewiesen wurde, das sie nicht glücklich macht.

Seitdem sich um das Selbstbestimmungsgesetz herum Trans-Vereine und XX-Verfechterinnen in Stellung brachten, hat meine Freundin mit den Feministinnen ein Problem: ein Problem, welches auf dem ausgrenzenden Ausschließlichkeitsanspruch beruht.

Denn es stellt sich für sie die Frage: Was bin ich für die? Aus der ganz überwiegenden XX-Argumentation ergäbe sich, dass sie zumindest keine Frau ist. „Trans“ ist sie aber auch nicht. Etwas anderes scheint es derzeit nicht zu geben. Wer nicht XX ist, gilt als Eindringling, der die Frauenrechte gefährdet. Dabei hat es XY-Frauen wie auch andere Formen der Intergeschlechtlichkeit in der Menschheitsgeschichte immer schon gegeben, wie es auch immer schon transgeschlechtliche Menschen gegeben hat. Sie waren lediglich nicht so sichtbar wie heute.

Die Diagnose im Alter von 13 Jahren hat sie scheinbar „wie ein Mann“ weggesteckt mit den Worten: „Ich hab’s geahnt, kann ja lesen.“ Wegen der klitzekleinen körperlichen Anomalie hatten ihre Eltern tatsächlich einschlägige Literatur im Haus, nicht bei der Belletristik oder den Kochbüchern, aber auffindbar. Weil markiert, fand sie hier ihren Erklärungsansatz: „testikuläre Feminisierung“. Wenn es das war, konnte sie sich damit abfinden: etwas, das vorkommen kann, aber deshalb keinen Freak aus ihr machte. In der Hoffnung, es möge irgendwas in die richtige Richtung bewegen, vergriff sie sich danach nicht unerheblich an den Pillenbeständen ihrer Mutter. Die scheinbar lapidaren Worte aber waren keineswegs lässig gemeint. Längst war aus dem unbeschwerten Mädchen ein introvertierter Teenager geworden. Die Diagnose jedoch hat ihren letzten Hoffnungsschimmer, alles möge bitte doch „normal“ sein, zunichte gemacht.

Meine Freundin hatte nur ein einziges therapeutisches Gespräch, braucht weder Selbsthilfegruppen noch Lobby, die sie trotz allem als sinnvoll erachtet, wenn Menschen, egal aus welchem Grund, auf Unverständnis oder Ausgrenzung stoßen. Sie möchte sich selbst aber auch nicht plötzlich ausgegrenzt sehen und als etwas gelten müssen, was sie nicht ist und nie war.

Denn unser Verständnis von Mann und Frau ist eben nicht nur das biologistische. Unser Verständnis davon ist ganz wesentlich auch ein kulturelles, eng an Rollenverhalten und Vorbilder geknüpft. Es hängt mit unserem phänomenologischen Bewusstsein zusammen und unterscheidet uns vom Tierreich.

Unser Bewusstsein darüber, wie wir uns sehen und wie uns die Umwelt sehen soll, spielt sich nicht im Unterleib ab, sondern im Gehirn. Bei einer Fertilitätsrate in Deutschland von 1,35 Prozent (4) im Jahr 2023 scheinen Zeugung und Aufzucht der Jungen ohnehin in den Hintergrund zu treten. Die menschlichen Interaktionen spielen sich also ganz überwiegend in anderen Lebensbereichen ab.

„Hunde haben alle guten Eigenschaften des Menschen, ohne gleichzeitig ihre Fehler zu besitzen“ (Friedrich II., König von Preußen).

Es gibt Hundebesitzer, die behaupten, ihre Hündinnen hätten Probleme mit Männern. Mit Doro hatte allerdings keiner der Hunde ein Problem. Sind Hunde also unvoreingenommener als Menschen?

Erwarten die sich auf den Chromosomensatz beziehenden Frauenvereine, dass meine Freundin die Herrentoilette oder Herrenumkleide nutzt, weil sie chromosomal keine Frau, ergo „ein Mann“ ist?

Halt! Falsche Formulierung: Sie ist nicht chromosomal „ein Mann“, sondern sie ist chromosomal „männlich“.

„Aber der Fall ist doch schon anders gelagert …“

So, ist er das? Ist er das, weil Mutter Natur es noch einigermaßen gut mit Doro gemeint hat? Weil Aussehen und Gefühlswelt mit dem sozial erwarteten Geschlecht übereinstimmen? Weil wir sie genauso annehmen (Neudeutsch „lesen“) können, wie sie ist? Weil sie unseren Vorstellungen von einer Frau entspricht, solange wir nicht ihren Chromosomensatz kennen? Oder ist uns der Chromosomensatz dann doch egal, wenn Aussehen und Verhalten Zweifel gar nicht erst aufkommen lassen, wenn eher die körperlichen Voraussetzungen und womöglich der Geldbeutel für das — möglicherweise trügerische — Ergebnis verantwortlich sind?

Meine Freundin hat nicht nur einmal die Überlegung angestellt, was wohl wäre, wenn sie nicht 1,68, sondern 1,90 Meter groß wäre, wie ein Kerl aussähe und trotzdem weiblich denkt und fühlt — und vielleicht auf Strickkleider steht. Oder wenn sie aussähe, wie sie aussieht, ihr Denken und Fühlen aber das eines Mannes wäre. Wie würden ihre Mitmenschen mit ihr umgehen? Tolerant, gar empathisch? So oder ähnlich sind sicher auch die Gedanken von Transgeschlechtlichen.

Es waren — glücklicherweise — rein hypothetische Gedankenspiele. Solche Gedanken will man eigentlich gar nicht zu Ende denken.

Wie also wollen wir mit Menschen umgehen, die unserer sozialisierten Erwartungshaltung nicht entsprechen? Lassen wir meine Freundin rein, Transfrauen nicht?

Lassen wir Menschen wie Andreja Pejić, einst Topmodel, rein, von dem man unweigerlich glauben musste, dass der Name Andrej nur ein Marketing-Gag sein kann? Aber den 45-jährigen Familienvater, mit breiteren Schultern, Bauchansatz und sich lichtendem Haar, der in seiner neuen Rolle die ersten unbeholfenen Schritte macht, sich aber möglicherweise schon jahrzehntelang gequält und seine Gefühle verleugnet hat, den lassen wir doch nicht rein, oder?

Sie alle eint eines: Sie sind nicht XX. Und sie alle haben oder hatten ein Problem, auf das sie liebend gern verzichtet hätten.

Läuft das auf Einlass nach DNA-Test hinaus? Dann muss Doro draußen bleiben. Mir bräche es das Herz.

„Die erste Aufgabe des Gesetzgebers bleibt in meinen Augen immer, gleiches Recht für alle zu schaffen.“

Was Friedrich der Große als Aufgabe formuliert hat, steht unter anderem in Artikel 3 des Grundgesetzes. „Gleiches Recht für alle“ impliziert jedoch nicht die exklusive Lösung jedes Einzelfalls.

Das bringt mich endlich zu Kylie. Kylie wollte sich mit seinen/ihren Kolleginnen gemeinsam in einem Raum umziehen dürfen. Kylie ist biologisch und personenstandsrechtlich ein Mann. Niemand hat Kylie aufgefordert, aus diesem Zustand heraus als Frau aufzutreten. Diese Entscheidung traf Kylie vollkommen freiwillig. Hätte der Arbeitgeber jede Umkleidemöglichkeit und jeden Toilettengang unmöglich gemacht, wäre das in meinen — nicht wirklich maßgeblichen — Augen eine Benachteiligung. Wenn ich mit dem Mountainbike plötzlich vor einem Weidezaun stehe, den Wanderer passieren dürfen, ich mit dem Rad aber nicht beziehungsweise nur schiebend, ärgert mich das ganz bestimmt, aber ich muss die Regeln des Bauern akzeptieren. Benachteiligt, gar diskriminiert bin ich dadurch nicht. Es war mein freier Wille und Entschluss, genau diesen Weg zu nehmen.

Kylie kommt aus einem vollständig anderen Kulturkreis, einem des Machismo. Wissen wir, unter welchen Zwängen sie/er gelebt hat? Ob sie/er sich nicht schon viele Jahre verbogen und verleugnet hat? Und da kommt der deutsche Gesetzgeber daher und präsentiert die scheinbar perfekte Lösung. Dass die Selbstdeklaration das Problem nicht löst und nicht mehr als eine nette Geste ist, die zeigen soll, wie furchtbar modern wir doch inzwischen in Deutschland geworden sind, ist nicht jedem Betroffenen bewusst. Dass betroffene Personen sich nicht selten durch Übertreibungen bei Kleidung, Schmuck und Make-up keinen wirklichen Gefallen tun, auch dass eine Dragqueen keine Frau ist, liegt auf der Hand. Vielleicht aber sind ihnen diese Übertreibungen selbst gar nicht bewusst. Macht sie das zu schlechteren Menschen, zu potenziellen Kriminellen gar? Ganz bestimmt nicht! Was Kylie antreibt, vermag ich nicht zu sagen und noch weniger zu beurteilen, denn ich kenne sie nicht.

Irgendwann, auch nach altem Transsexuellengesetz (TSG), ist jeder Mann, der sein soziales Geschlecht ändern möchte, noch „vollständig bestückt“. Wenn der bisher vom TSG geforderte Alltagstest vor einer Operation erfolgen sollte, musste zwangsläufig der daran Interessierte in neuem Gewand, aber mit vollständiger „Bestückung“ seinen Kollegen gegenübertreten. Wie das in der Praxis — zwischen 1985 und 2022 bei etwa 20.000 von insgesamt 38.535 Verfahren nach TSG (5) — gelaufen ist, kann selbst ich mir nur schlecht vorstellen. Aber eine Lösung musste in jedem dieser Fälle geschaffen werden, und zwar ganz überwiegend auch unter Einbeziehung des Arbeitgebers, für die verbleibenden Transmänner ebenso. Irgendwann haben die den Alltagstest Durchlaufenden immer erstmalig erklärt, dass sie ab jetzt als Frau oder Mann betrachtet werden wollen, obwohl personenstandsrechtlich und körperlich noch alles beim Alten war.

Was also ist wirklich neu an diesem Fall?

Was macht diesen Fall bedrohlicher für die Frauenrechte als bisher nach TSG? Die Klage?

Hat Kylie etwa darauf geklagt, dass sich die Kolleginnen vor ihr ausziehen müssen nach dem Motto „Kompanie, antreten zum Ausziehen!“, oder ging es bei der Klage vielleicht doch eher darum, dass sie die Damenumkleide mitbenutzen darf, weil ihr das Umziehen bei den Männern unangenehm war? War Kylie selbst der treibende Keil, oder waren es beauftragte Anwälte, worauf die impertinente Geldforderung hindeutet? Wir wissen es leider nicht.

Anders sehe ich den Fall von „Laura“, einer biologisch männlichen Person, die sich zur Frau erklärt hat und in einem Erlanger Fitnessstudio mit exklusivem Zutritt für Frauen trainieren wollte. Erlangen hat, wie wir der Presse entnehmen konnten, 14 Fitnessstudios, in denen Männlein und Weiblein einträchtig trainieren können. Warum also in einem Studio, das Frauen vorbehalten ist? Ich kann nicht anders, dies als Provokation nach dem Motto „Mal sehen, wie weit ich gehen kann“ zu werten.

Solche Provokationen aber schaden dem Anliegen transidenter Personen mehr als sie ihm nützen. Das „Dazugehören“ wird nichts, solange sich die selbsterklärten Frauen nicht bewusst sind, dass Mädchen und Frauen anders sozialisiert sind, dass für sie eine Reihe anderer Regeln und andere Grenzen gelten: unter anderem Grenzen des Sagbaren, Grenzen körperlicher Nähe und natürlich Grenzen der Scham, was nicht nur das Pinkeln am Wegesrand, sondern auch das Entblößen voreinander anbelangt.

Artikel 3 des Grundgesetzes schützt auch die Rechte von Behinderten. Kein Blinder käme allerdings auf die Idee, vom Kinobetreiber zu fordern, dass er gefälligst auch was sehen soll. Zudem verweist der Gesetzgeber in Paragraph 6, Absatz 2 des Selbstbestimmungsgesetzes mit gutem Recht auf Vertragsfreiheit und Hausrecht. Allerdings müssen diese beiden Punkte in der Praxis auch Bestand haben und nicht durch Anwälte oder eine Gleichstellungsbeauftragte unterlaufen werden. Wer käme auf die Idee, eine Arztpraxis auf Schadensersatz zu verklagen, weil sie keine neuen Patienten aufnimmt?

„In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden.“

Da ist er wieder, der Alte Fritz. Ob er dabei unsere heutigen Probleme erahnt hat, steht zu bezweifeln. Trotz allem ist es ein sehr starkes Statement. Aber impliziert es auch das Recht darauf, unglücklich zu werden?

Auch ganz ohne Selbstbestimmungsgesetz steigen die Zahlen transidenter Menschen. Da aber Transidentität eher nicht ansteckend ist, sind im Steigen eigentlich nur die Zahlen der Menschen, die sich trauen, zu ihrer abweichenden Identität zu stehen. Diese Menschen trauen sich, Probleme in Kauf zu nehmen, weil sie nicht sozialen Normativen entsprechen.

Also steht unsere aufgeklärte und liberale Gesellschaft auch ganz ohne Selbstbestimmungsgesetz vor der Aufgabe, sich Regeln für den Umgang mit diesen Menschen zu geben. Den Anfang sollte machen, dass wir einander zuhören und zu Kompromissen bereit sind. Das aber funktioniert nur, wenn die, die ständig auf „Senden“ sind, auch mal auf „Empfangen“ schalten!

Am Ende müssen konsensfähige Lösungen herauskommen: Lösungen, bei denen nicht eine Minderheit — oder gar die Minderheit einer Minderheit, nämlich deren Aktivisten — der Mehrheit den Gebrauch ihrer Sprache oder ihr Verhalten vorschreibt; Lösungen, bei denen nicht der Staat die Rolle der Eltern übernimmt, sondern sich mit jeglichem Oktroyieren und jeglicher Übergriffigkeit zurückhält. Je weniger Ideologie und politische Agenda in der Debatte stecken, desto mehrheitsfähiger wird sie sein. Ohne Konsens drohen verhärtete Fronten und gesellschaftliche Spaltung, gleich in welchem Lebensbereich.

In der Basis unserer Moralvorstellungen „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ steckt sehr viel Konsens.

Dazu gehören keine Zumutungen, jedoch das Setzen und Respektieren von Grenzen. Aber wie eng wollen wir diese Grenzen ziehen, wie weit unsere Herzen öffnen? Wie viel Verständnis sind wir bereit, gegenseitig aufzubringen? Sind die jeweils Lautesten bereit, verbal abzurüsten, Transmenschen — oder auch nur intergeschlechtliche Boxerinnen — nicht per se zu exkommunizieren, andersherum nicht bei jeder gezogenen Grenze Diskriminierung zu unterstellen?

Rechte kann man sich einklagen. Für Verständnis und Akzeptanz kann der Gesetzgeber nicht sorgen, man kann sie auch nicht einfordern. Wer Verständnis und Akzeptanz möchte, muss um sie heischen, in allen Lebensbereichen.

Von der Mehrheitsgesellschaft indes wünsche ich mir mehr Gelassenheit. Haben wir nicht alle irgendwann zu „Lola“ mitgegrölt?

Deshalb lasse ich den Preußenkönig gern noch einmal zu Wort kommen:

„Unsern Dünkel müssen wir verlieren; wir sollen handeln, nicht philosophieren.“


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl. 2014
(2) Bundestagsdrucksache 16/4786 von 2007
(3) https://www.unfe.org/wp-content/uploads/2017/05/UNFE-Intersex.pdf
(4) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36672/umfrage/anzahl-der-kinder-je-frau-in-deutschland/
(5) Bundesamt für Justiz, 2024

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