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Das Vermächtnis der Brüderlichkeit

Das Vermächtnis der Brüderlichkeit

In Japan wird Beethovens Neunte Sinfonie jedes Jahr von einem zehntausendköpfigen Chor aufgeführt. Die Geschichte dieses Ereignisses gibt Einblicke in die Seele des Landes.

Dieser Beitrag entführt Sie in das ferne Japan, wo sich einmal im Jahr ein beeindruckendes Spektakel entfaltet. Stellen Sie sich vor: 10.000 Laiensängerinnen und -sänger, die kein Deutsch sprechen, vereinen sich, um Beethovens „Ode an die Freude“ zu singen, die Friedrich Schiller einst als poetischen Aufruf zur Menschlichkeit verfasste.

Was einst ein flüchtiges Bild in den sozialen Medien war, ein Chor scheinbar nur aus Männern, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als eine geschichtlich sehr interessante Geschichte, deren Quellen mich beeindruckt haben.

Tatsächlich sind es Frauen und Männer, Junge und Alte, im Alter von sechs bis 93 Jahren, die in Ōsaka mit Hingabe singen. In einem riesigen Sportstadion, vor 6.000 geladenen Gästen, wird Beethovens Sinfonie zur klangvollen Brücke zwischen den Kulturen. Die Sängerinnen und Sänger sind meist Amateure, doch die Freude an dieser Tradition vereint sie.

Diese eindrucksvolle Feier des Lebens und der Musik ließ mich fragen: Was verbindet Beethoven und Schiller mit Japan? Was berührt die Herzen der Japaner so sehr, dass sie dieses Werk jedes Jahr seit 1982 in solch einem Ausmaß würdigen?

Die Antworten fand ich in bewegenden Reportagen, eine von der Deutschen Welle und eine von Arte.

Beide berichten von einer tiefen, besonderen Verbundenheit, die gerade im Licht der Ereignisse von 2011, dem Jahr von Tsunami und Fukushima, eine neue Bedeutung gewann. Inmitten der Herausforderungen eines unvergesslichen Jahres wurde die „Ode an die Freude“ zur Hymne der Hoffnung und der gemeinsamen Menschlichkeit.

Im Jahr 2018 feierte die Aufführung der Neunten Sinfonie sein 100. Jubiläum. Zu diesem Anlass wurden besondere Gäste aus Deutschland eingeladen. Doch zuerst möchte ich erklären, wie es dazu kommt, dass Beethovens Neunte Sinfonie, in Japan Daiku „Die Neunte“ 第九 genannt, einmal im Jahr im Chor der 10.000 aufgeführt wird.

Dazu müssen wir in das Jahr 1918, dem Ende des Ersten Weltkriegs, zurückgehen. In den Wirren des Ersten Weltkriegs erlebte eine der ausdrucksvollsten Schöpfungen der Musikgeschichte einen außergewöhnlichen Moment in der Ferne: Beethovens Neunte Sinfonie, die „Daiku“, erklang zum ersten Mal in Asien, im japanischen Kriegsgefangenenlager Bando, nahe der Stadt Naruto.

Am 1. Juni 1918 führten deutsche Kriegsgefangene, die 1914 bei der Schlacht um den deutschen Stützpunkt Tsingtau (heute Qingdao) in China in japanische Gefangenschaft geraten waren, die Hymne auf. Bei meinen Recherchen zu diesem Thema erfuhr ich zum ersten Mal, dass deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg sogar in China gekämpft hatten, um die kolonialen Ansprüche des Deutschen Reiches zu verteidigen. Davon hatte ich noch nie gehört. Denn der Erste Weltkrieg tobte 1914 nicht nur in Europa, sondern auch in Asien. Da gab es den Handelsstützpunkt Tsingtao, den das Deutsche Reich von China gepachtet hatte. Dieser lag am Meer, hatte eine große strategische Bedeutung und wurde deshalb monatelang von der japanischen Armee belagert. Im November 1914 mussten sich die Deutschen ergeben. 4.000 deutsche Soldaten und Reservisten wurden über ganz Japan verteilt. Herrmann Hake und tausend andere kamen in das Lager Bando.

Mit über tausend Gefangenen war das Lager Bando eines der größten seiner Art in Japan. Doch trotz der Umstände wurde es dank des Lagerkommandanten Toyohisa Matsue zu einem Ort des gegenseitigen Respekts und der kulturellen Begegnung. Geprägt durch seine eigene Herkunft aus der Region Aizu, die während der Meiji-Restauration bitteres Leid erfahren hatte, glaubte Matsue an die Ehre und Güte eines wahren Kriegers. Er behandelte die Gefangenen mit Menschlichkeit und ließ ihnen Raum zur kreativen Entfaltung.

Diese besondere Atmosphäre ermöglichte es den Kriegsgefangenen, verschiedene Projekte zu verwirklichen. So entstand in der deutschen Kolonie Tsingtau ein Geschäftsviertel mit Handwerksbetrieben wie Tischlerei, Schneiderei, Schmiede, Fotostudio, Buchbinderei, Klempnerei oder Autowerkstatt sowie kleinen Läden, in denen Lebensmittel verkauft, Instrumente repariert und Musikunterricht erteilt wurde. Außerdem gab es eine Lagerdruckerei, eine Lagerschlachterei, eine Lagerbäckerei und ein „Restaurant“. Es gab sogar eine selbst herausgegebene Lagerzeitung „Die Baracke“, die jeden Sonntag erschien und in der Regel 24 Seiten umfasste. Inhaltlich behandelte „Die Baracke“ die unterschiedlichsten Themen: vom Kriegsgeschehen in Europa über Veranstaltungen und Ereignisse innerhalb und außerhalb des Lagers bis hin zu Kritiken von Theater- und Musikaufführungen.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass auch ein Orchester gegründet wurde. So entstand unter schwierigen Bedingungen eine bewegende (Teil-)Aufführung (?) der „Neunten“: Frauenstimmen mussten umgeschrieben, Instrumente improvisiert werden.

Der vierte Satz mit Schillers „Ode an die Freude“ — dieser visionäre Ruf nach Frieden und Brüderlichkeit — wurde in Bando zur Manifestation der Hoffnung. Der Gedanke, dass „alle Menschen Brüder werden“, hatte für die Inhaftierten eine tiefe Bedeutung, spendete Trost und verband sie mit der einheimischen Bevölkerung, mit der sie zum Teil freundschaftliche Kontakte pflegen konnten.

Aus dieser Zeit ist eine Postkarte des Kriegsgefangenen Hermann Hake an seine Mutter erhalten.

Darauf schreibt er:

„10. Juni 1918. Meine Liebe Mutter. Die Regenzeit hat jetzt eingesetzt, sie dauert rund sechs Wochen und zeichnet sich durch schwüles, regnerisches Wetter aus. Vorigen Sonnabend wurde die 9. Symphonie von Beethoven gespielt. Die Aufführung glückte gut. Besonders der 3. Satz hat es mir angetan. Welche Ruhe, welcher Trost strömt von ihm aus. Ist Wilhelm schon in der Schweiz? Mit den herzlichsten Grüßen. Dein Hermann.“

(Filmtipp: Ode an die Freude バルトの楽園 Baruto no gakuen. In den Hauptrollen mit Ken Matsudaira und Bruno Ganz)

Im Dezember 1920 kehrten die deutschen Soldaten, darunter auch Hermann Hake, nach sechsjähriger Gefangenschaft in ihre Heimat zurück. Die Verzögerung der Heimkehr um ein weiteres Jahr war nicht den Japanern anzulasten; die Kosten für das Transportschiff konnten von deutscher Seite kaum aufgebracht werden.

Während der gesamten Internierungszeit starben acht von tausend Gefangenen, die meisten an der Spanischen Grippe. Diese außergewöhnlich niedrige Zahl erreichte Matsue, indem er den Gefangenen eine gewisse Selbstbestimmung im Alltag einräumte.

Hinter dem Lager befand sich einer der ältesten Schreine Japans, umgeben von einem urwüchsigen Wald, den die Gefangenen besonders liebten.

Bis heute sind die Deutschen untrennbar mit dem Wald verbunden. Spaziergänge wurden ihnen während der Gefangenschaft großzügig erlaubt, und als die Priester des Schreins einen Weg anlegten, halfen die Soldaten mit. Die hölzernen Baracken sind verschwunden, aber eine deutsche Steinbrücke steht noch im Wald.

Die Neunte Sinfonie ist im heutigen Japan mehr als nur Musik. Jedes Jahr im Dezember singen bis zu 10.000 Menschen den Schlusschor — ein spirituelles Ritual, das in der Nachkriegszeit begann, um die Menschen zu vereinen und Hoffnung zu schenken. Naruto, wo die erste asiatische Aufführung stattfand, pflegt dieses Erbe mit einer Partnerschaft zu Lüneburg. Auf dem Hügel hinter dem ehemaligen Lager erklingen täglich um 12 Uhr die Glocken eines deutschen Turms: „Alle Menschen werden Brüder“.

Zum 100-jährigen Jubiläum 2018 wurde die Neunte wie damals mit Männerstimmen und wenigen Instrumenten gespielt. Nachfahren der Kriegsgefangenen reisten aus Deutschland an, um gemeinsam mit japanischen Sängern zu singen. Heike Hamburger, Urenkelin des Gefangenen Bruno Korsert, beschrieb den Moment als Vermächtnis der Freundschaft.

Diese Melodie vereint Generationen und zeigt, dass Musik eine heilende Kraft hat. Auch wenn Corona die Tradition kurz unterbrach, bleibt Beethovens Meisterwerk ein Klang der Ewigkeit, der den Bogen von Dunkelheit zu Licht spannt. Im Daiku lebt die Musik als gemeinschaftliches Ritual weiter, das Freude und die japanische Schönheit der Vergänglichkeit verbindet.

In einer Welt, die oft nach Perfektion strebt, erinnert Daiku daran, dass wahre Größe in der geteilten Erfahrung liegt: eine Feier der Verletzlichkeit, die die Seele der Musik und des Lebens tief berührt.

Das nächste Konzert der 10.000 Ode an die Freude, Beethovens Neunte, findet am 1. Dezember 2024 in der Ōsaka-jo Hall, Japan, unter der Leitung von Yutaka Sado statt.

Als ich für den Artikel recherchierte, fragte ich mich, warum wir nicht in Deutschland so ein Konzert organisieren. Ein Konzert, in der alle Nationen im größten Stadion Deutschlands zusammenkommen und gemeinsam „Ode an die Freude“ singen. Seitdem habe ich diese Vision, aber mir ist auch bewusst, dass es nicht einfach wird, das zu organisieren.

Was halten Sie, liebe Leser, von der Idee, ein großes Konzert zu organisieren, das an die Tradition des Daiku anknüpft? Stellen Sie sich vor, wie Menschen aus verschiedenen Kulturen und Hintergründen zusammenkommen, um Beethovens Neunte Sinfonie gemeinsam zu erleben und aufzuführen. Hätten Sie Interesse, an einem solchen Projekt mitzuwirken oder es zu unterstützen? Kontakt: ode-an-die-freude-daiku@proton.me


Dieser Text erschien zuerst auf dem Blog von Jana Mänz unter dem Titel: „Daiku — Beethovens Neunte Sinfonie, Japans Seele und ein Vermächtnis der Brüderlichkeit


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Quellen und Anmerkungen:

https://www.city.naruto.tokushima.jp/contents/daiku/deutsch/about.html
https://www.naruto-9.com
https://daiku-nikki.seesaa.net/category/27770761-1.html
https://www.topics.or.jp/articles/-/55712
https://www.city.naruto.tokushima.jp/_files/00515054/nummer12.pdf
https://oag.jp/img/2020/09/Notizen-2010_Feature_Brachthaeuser.pdf
http://koki.o.oo7.jp/Engel-Orchester.pdf
http://www.tsingtau.info/index.html?neues.htm
https://www.mbs.jp/daiku/english/

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