Zum 50. Jahrestag des „Russel-Einstein-Manifests“ im Jahr 2005 veröffentlichten der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, der Ökologe Daniel Dahm und der Philosoph Rudolf zur Lippe das Potsdamer Manifest (1, 2). Es bekräftigt Bertrand Russells und Albert Einsteins Appell, Krieg als Strategie der Konfliktlösung endgültig zu verbannen, geht aber noch einen Schritt weiter. Es prangert die strukturelle und offene Gewalt an, die von dem „herrschenden materialistisch-deterministischen Weltbild“ ausgeht, und alles Lebendige verdinglicht und es zur bloßen Verfügungsmasse macht.
Wir hängen am Toten
Weil wir immer noch am Weltbild der klassischen Physik, dem „Paradigma des Unlebendigen“, festhalten, so resümieren die Autoren des Potsdamer Manifests, denken wir, der Mensch stünde außerhalb der Natur. Wir halten die Welt für eine materiell-dingliche Maschine, die sich von uns in den Griff kriegen lässt. Doch damit gleitet sie uns immer mehr aus den Händen. Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken. Wir müssen uns am Weltbild der neuen Physik, dem „Paradigma des Lebendigen“ orientieren und „das Lebendige lebendiger werden lassen“. Das alte Denken hat dazu geführt, dass wir uns einerseits maßlos überschätzen, andrerseits aber unsere wirklichen Möglichkeiten gar nicht erkennen.
Wir leben in einem lebendigen Kosmos aus Beziehungen und schöpferischen Verwandlungen
Die Quantenphysik hat gezeigt, dass eine strenge Naturgesetzlichkeit gar nicht existiert, dass die Welt auch nicht aus Materie besteht. Sie besteht aus „Verbundenheit“ ohne materiellen Träger. Was wir als materiell-energetische Realität erleben und was sich naturgesetzlich verhält, sind Ausmittelungen von „Potentialität“, „Verkrustungen immaterieller Wirkungen“, Fußabdrücke eines „embryonal-lebendigen“ Mikrokosmos (3).
Die Welt lässt sich weder gedanklich, noch sprachlich, noch technisch in den Griff kriegen. Man kann von ihr nur in Bildern und Gleichnissen reden. Am ehesten noch, so die Autoren des Potsdamer Manifests, lässt sich die Wirklichkeit mit „Geist“, „Information“ oder „Liebe“ umschreiben. Der Boden auf dem wir stehen, ist schwankend. Nichts „existiert“ im gewohnten Sinne. Von Augenblick zu Augenblick geht die Welt aus der „Potentialität“, dem „Meer aller Möglichkeiten“, neu hervor (4). Das bedeutet: Die Zukunft ist grundsätzlich offen, die Evolution ist nicht abgeschlossen. Und wir sind einbezogen in diesen Prozess.
Nicht falsch, aber begrenzt gültig
In unserer dreidimensionalen Alltagsrealität merken wir von all dem nichts. Hier folgt die Welt den Gesetzen der klassischen Physik. Lässt man ein Glas fallen, kann man sich darauf verlassen, dass es sich beschleunigt in Richtung Erdboden bewegt. Davonfliegen wird es nie. Auch geht die Sonne aus unserer Perspektive mit Sicherheit jeden Morgen auf und jeden Abend wieder unter. Die Naturgesetze sind offensichtlich nicht falsch, sondern nur begrenzt gültig. Ebenso wenig falsch ist das rationale Ursache-Wirkungs-Denken, das der klassischen Physik zugrundeliegt.
Diese Außensicht auf die Welt, die zwischen Beobachter und beobachtetem Objekt unterscheidet und einer Entweder/Oder-Logik folgt, hilft uns, im Alltag zurechtzukommen. Sie ermöglicht uns sozusagen, zwischen Baum und Apfel zu unterscheiden, um den Apfel dann ergreifen und verspeisen zu können. Fälschlicherweise haben wir daraus geschlossen, die ganze Welt wäre ein Apfel.
Die Ideologie des Toten
Seit der marktliberale Kapitalismus seinen Siegeszug angetreten hat, verkommt die Rationalität immer mehr zu einem technokratisch-ökonomischen Zweckdenken. Wie eine „Kolonialmacht“ unterwirft sie die Bereiche ihrem ökonomischen Kalkül, die sich natürlicherweise jeglichem Herrschafts- und Machbarkeitsdenken entziehen. Dazu zählt der Bereich des „Ich“. Das ist die Erfahrungswelt des fühlenden Subjekts mit seiner personalen Bedeutung und seinem freien Willen. Das Gleiche gilt für das „Wir“, den zwischenmenschlichen Bereich, indem wir versuchen, uns gegenseitig zu verstehen und zu einer gemeinsamen Übereinkunft zu kommen.
Zwischen Personen und Sachen, lebendigen Wesen und toten Dingen, wird mittlerweile nicht mehr konsequent unterschieden. Das hat zur Folge, dass wir Lebendiges ständig gedankenlos verletzen und beschädigen, Ökosysteme in rasantem Tempo zerstören, dass Tier- und Pflanzenarten unwiederbringlich aussterben. — Bleiben wir in diesem Denken, dem „Paradigma des Unlebendigen“ gefangenen, dann gilt, was der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik über geschlossene Systeme aussagt: Das Wahrscheinliche — die Zunahme von Zerfall und Unordnung — passiert in Zukunft wahrscheinlicher (5).
Wir müssen lernen, neu zu denken
Mit unserem bisherigen naturwissenschaftlichen Verständnis können wir dem lebendigen, unendlich mehrdimensionalen Kosmos mit seiner paradoxen Sowohl/Als-auch-Logik nicht gerecht zu werden. Wir brauchen dazu etwas, was Johann Wolfgang von Goethe eine „zarte Empirie“ genannt hat. Das ist eine Herangehensweise, die sich mit dem, was sie erforschen will, „innigst identisch macht“ (6).
Hans-Peter Dürr meint das Gleiche, wenn er davon spricht, dass die Welt am ehesten mit einem Gedicht zu vergleichen sei (7). Auch einem Gedicht wird man nicht gerecht, wenn man es quantifiziert und in seine objektiven Bestandteile zerlegt. Wenn man seine Sätze und Wörter zählt, die unterschiedlichen Buchstaben isoliert und deren Kombinationen rechnerisch erfasst. Ein Gedicht macht nur als Ganzes Sinn. Seine Bedeutung liegt im Ganzen und erschließt sich mir, wenn ich mich darauf einlasse, mich mit ihm verbinde. Am besten gelingt das durch Auswendig- oder besser Inwendiglernen, wie es auch im Englischen „by heart“ oder im Französischen „par cœur“ zum Ausdruck kommt.
Außensicht und Innensicht
Die Außensicht auf die Welt, die zwischen Beobachter und Beobachtetem unterscheidet, muss also dringend ergänzt werden durch eine Innensicht, die die Welt ganz lässt. Zu dieser Innensicht gehören alle Formen von Wahrnehmung, die die Welt gedanklich nicht zerschneiden: Sinneswahrnehmungen wie Hören, Schmecken, Fühlen, Riechen, Sehen und alle Arten der Meditation. Das Neue zeigt sich im Innensehen spontan als eine Einsicht, eine Intuition, die sich aus dem Kontext des Ganzen hervorhebt. Dieses nichtduale Wahrnehmen ereignet sich im zeitlosen „Jetzt“ und lässt sich nicht erzwingen.
Es braucht unsere Bereitschaft, uns nach innen zu wenden, offen und sensibel zu werden für die Leere unseres Geistes. Auf diese Weise geraten wir in Kontakt mit der Potentialität, der Kreativität des lebendigen Kosmos. „Wir müssen neue Wissensformen erproben“, so das Potsdamer Manifest, „in denen sich die Potentialität des lebendigen Kosmos entfalten kann. Dadurch werden sich uns ganz neue Schöpfungs- und Handlungsräume öffnen.“
Die Evolution weiterführen
An dieser Stelle wird deutlich: Auch der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik mit seiner düsteren Prognose gilt nicht unumschränkt. Er gilt für den Bereich toter Dinge, für den Bereich des Lebendigen gilt er nicht. Der Gegentrend zu Zerfall und Unordnung, das heißt, die Ausbildung neuer Strukturen, die Fähigkeit Neues und Heilendes hervorzubringen, sind Eigenschaften allen Lebens. Wir Menschen sind dafür selbst das beste Beispiel. In einem erdgeschichtlich eher kurzen Zeitraum von dreieinhalb Milliarden Jahren, so alt ist die Biosphäre, wurde das Unwahrscheinliche wahrscheinlich: Aus einer toten Brühe entwickelte sich der Homo sapiens sapiens.
„Vor dreieinhalb Milliarden Jahren waren wir noch Staub und Gase, jetzt unterhalten wir uns schon!“ (Ken Wilber)
Die Evolution endet mit uns Menschen nicht. Aber seit es uns gibt, liegt es in unserer Verantwortung, sie weiterzuführen (8). Dazu müssen wir uns bewusst in diesen evolutionären Lernprozess hineinbegeben und uns selbst zum Gegenstand der Entwicklung machen. Wir müssen unser noch unausgeschöpftes menschliches Potential entfalten, und wirklich lebendige, fühlende und mitfühlende Menschen werden. Erst so kann sich zeigen, was uns Menschen wirklich möglich ist.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären“ (Friedrich Nietzsche).
Damit unsere Weiterentwicklung gelingen kann, müssen wir neue Sensibilitäten schaffen. Denn jeder schöpferische Prozess beruht auf Sensibilität, die aus Instabilität hervorgeht. Und hier liegt das Problem: Wir müssen bereit sein, unsere Komfortzonen zu verlassen und uns in Unsicherheit wagen. Erst dadurch gewinnen wir die Sensibilität, die nötig ist, um mit der Potentialität, der embryonalen Lebendigkeit des Mikrokosmos in Kontakt zu kommen.
Entwicklung hat eine individuelle und eine kollektive Ebene. Auf individueller Ebene bedeutet das, mich an meine persönlichen Sensibilitätspunkte heranzutrauen, meinen verdrängten Problemen und Lebenskrisen nicht weiter ausweichen. Auf der kollektiven Ebene müssen wir gemeinsam bereit sein, der „Ideologie des Toten“ abzuschwören und uns dem Chaos stellen, das wir als Spezies angerichtet haben. Wir müssen das Ausmaß der Verwüstung wirklich wahrnehmen und sensibel werden für das Leid, das sich darin zeigt.
„Es gibt keinen Weg an der Verzweiflung vorbei. Aber es gibt einen Weg durch die Verzweiflung hindurch“ (9).
Wir müssen den Horror einer Situation mitfühlend umarmen. Nur so gehen wir über das Alte hinaus, werden hellhörig und offen für die neuen Lösungen, die sich zeigen wollen. Nur so begeben wir uns auf den Weg, der das Unwahrscheinliche, eine wahrhaft menschliche Gesellschaft, in Zukunft wahrscheinlicher werden lässt. Das Potsdamer Manifest endet mit den Worten:
„Wir müssen so handeln, dass sich die Lebendigkeit vermehrt und vielfältig erblüht. Denn die Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem anderen von Grund auf angelegt. Wir können uns darauf verlassen, dass diese Kraft in uns wirkt.“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Dürr, Hans-Peter; Dahm, Daniel; zur Lippe, Rudolf (2005): Potsdamer Manifest; online verfügbar unter: http://www.ag-friedensforschung.de/science/potsdamer-manifest.html
(2) Das Russell-Einstein-Manifest — Eine Stellungnahme zur Atomkriegsgefahr aus dem Jahr 1955; online verfügbar unter: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Atomwaffen/russell-einstein.html
(3) Dürr, Hans-Peter (2004): Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen — Die neue Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaften. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag, Seite 47ff.
(4) ebenda.
(5) Dürr, Hans-Peter (2009): Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München: Oekom Verlag, Seite 137-146.
(6) Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Band 1: Briefe und Gespräche. Zitiert nach Sacks, Shelley, Kurt, Hildegard (2013): Die Rote Blume — Ästhetische Praxis in Zeiten des Wandelns. Klein Jasedow: Drachen Verlag GmbH, Seite 40.
(7) Dürr, Hans-Peter (2009): Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München: Oekom Verlag, Seite 171-174.
(8) Der Zeitpfeil der Evolution verläuft in Richtung zunehmender Komplexität, also von der Materie zum Leben und vom Leben zum Geist. Der Mensch vereinigt alle evolutionären Vorstufen und damit das größte Maß an evolutionären Neuheiten in sich. Die Evolution setzt sich demgemäß in der Entfaltung des menschlichen Geistes durch Bewusstseinsentwicklung fort. Diese geht weit über das rationale Denken hinaus und entfaltet sich in integrale und transrationale (mystische) Bereiche hinein. Siehe: Wilber, Ken (1996): Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Frankfurt am Main: Wolfgang Krüger Verlag.
(9) Bendell, Jem (2019): Grieve Play Love; online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ksUKEDEWFlQ
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