Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han befand, dass die digitale Müdigkeitsgesellschaft eine Gesellschaft der übermäßigen Kommunikation ist, mit einem permanent laut dröhnenden Kommunikationslärm, bei dem aber so etwas wie Gemeinschaft nicht gestiftet wird. Was zunächst abstrakt klingt, nimmt mit einem Blick in ÖPNV-Fahrzeuge ein plastisches Bild an. Der Anblick von Smombies hat sich bereits in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt: Menschen, die hypnotisiert und apathisch in ihren tragbaren Flimmerkasten starren. Am sichtbarsten wird diese Zombie-Horde, wenn man ihr gerade selbst nicht zugehörig ist. Jeder, der ein Smartphone besitzt, war schon mehrere Male Teil dieser Horde. Wem es jedoch gelingt, sich — wenn auch nur für einen kurzen Augenblick — von dem Sog des hellblauen Lichts loszureißen und in einer U-Bahn seine Mitmenschen bewusst beobachtet, dem wird das Ausmaß der systematischen Vereinzelung vor Augen geführt.
Jeder dieser Menschen ist — teils aktiv, teils passiv — in irgendeine Fernkommunikationsform eingebunden, physisch anwesend, kognitiv jedoch weit weg. In Zügen, an öffentlichen Plätzen, in Restaurants herrscht allgegenwärtig ein Übermaß an Kommunikation vor — allerdings ohne Gemeinschaft. Die Fake-Pandemie hat mit der verordneten Gesichtsverhüllung ihr Übriges getan, um diese Entwicklung zu verschärfen.
Trübe Augen, gebeugter Nacken, gekrümmte Körperhaltung: Als wäre diese Rückentwicklung für die menschliche Spezies nicht schon bedauernswert genug, mutiert die Digital-Degenerierung des menschlichen Miteinanders zu einer weiteren bizarren Form. War das Versacken in der digitalen Sphäre bis vor kurzem beschränkt auf den jeweiligen Smombie — und wir alle, die wir ein Smartphone besitzen, sind situativ-temporär ein solcher Smombie —, so entgrenzt sich dieser Sog über die kognitive Wahrnehmung des Handynutzers hinaus in die Sphäre aller anderer Menschen in unmittelbarer Nähe. Auch jene Menschen, die vom Digitalen unbehelligt einfach ihr Dasein in der analogen Welt frönen möchten.
Die Rede ist von dem Weglassen der Kopfhörer beim Telefonieren oder dem Abspielen von tonunterlegten Medieninhalten auf den Smartphones. Statt einzig allein in die Ohrmuschel des Nutzers zu strömen, werden alle umliegenden Menschen ungefragt von den Audiowellen überschwemmt.
Wer hat es noch nicht erlebt? Da sitzen in Bus und Bahn ein oder im schlimmsten Fall mehrere Menschen und spielen auf ihrem Smartphone irgendwelche Instagram-Reels oder TikTok-Schnipsel ab, und das akustische Rauschen dringt zu allen anderen Fahrgästen, stört die Ruhe, verunmöglicht das Lesen eines Buches. Ein inhaltlich nicht zuordenbares Rauschen durchflutet den Raum und zerrt an den Nerven.
Synonym für das Smartphone wird häufig der Begriff der digitalen Zigarette bemüht. In Sachen des Süchtig-Machens steht der mobile Flimmerapparat dem Tabakzylinder in nichts nach. Während das Rauchen im öffentlichen Raum weitestgehend eingehegt wurde, ist die digitale Zigarette so gut wie keinen nutzungseinschränkenden Restriktionen unterworfen.
Auf Bahnsteigen ist das Rauchen nur in den gekennzeichneten Bereichen gestattet, in Lokalitäten müssen Raucher wie Hunde vor der Tür bleiben, das früher vollkommen übliche Rauchen in Zügen ist heute kaum noch vorstellbar. Hinsichtlich der digitalen Zigarette sind wir gesellschaftlich — wie gesagt — weit entfernt von derartigen Regelungen, die die exzessive und andere Menschen beeinträchtigende Smartphone-Nutzung in ihre Schranken weist.
Nähern wir uns nachfolgend diesem Phänomen des Passivrauschens, so gut wie es nur geht. Die Analyse unterliegt natürlich vielen Beschränkungen. So gibt es für dieses (A)Sozialverhalten selbstredend noch keine empirischen Daten. Somit ist die nun folgende Betrachtung stark subjektiv und stützt sich auf meine persönlichen Beobachtungen, die ich in den letzten Monaten als Vielfahrer der öffentlichen Verkehrsmittel gemacht habe.
Wenn ich hier von Passivrauschen spreche, so ist unmittelbar erkennbar, dass ich diesen Begriff vom „Passivrauchen“ ableite. Das ist zugegebenermaßen semantisch etwas holprig. Das Aktivrauchen ist etwas, das der rauchende Mensch selbst tut, und der Passivraucher ist jemand, der diesen Qualm wider Willen selbst einatmet. Beim Rauschen hingegen ist es nicht der Smartphone-Nutzer, der rauscht — er lässt ein Gerät für sich rauschen, und die Passivrauscher sind Menschen, die unfreiwillig von diesem Rauschen belästigt werden. Ich verwende trotz der hinkenden Ableitung des Begriff Passivrauschen, denn er bringt die Ähnlichkeit beider Belästigungsformen auf den Punkt. Die Belästigung des Rauchs findet auf der Ebene des Geruchs und der Gesundheitsbeeinträchtigung ihren Ausdruck, die des Rauschens ist akustischer Natur. Soweit zur Begrifflichkeit.
Was hat es also mit dem Passivrauschen beziehungsweise dem aktiven Berauschen-Lassens des öffentlichen Raums mit dem Akustik-Müll auf sich? Ist es Asozialität? Ist es Unachtsamkeit? Liegt es an andauernd verlegten oder verlorenen Kopfhörern? Oder ist es ein auf das gemeinschaftliche Miteinander bezogener Fatalismus, der da lautet, dass es doch sowieso schon vollkommen egal ist, weil alle anderen ohnehin nur noch mit Kopfhörern herumlaufen und davon gar nicht Notiz nehmen, wenn ich als Einzelner die Inhalte auf meinem Smartphone laut abspiele?
Vorab: Die Eingrenzung der dahinterliegenden „Motivation“ oder der Ignoranz wird in diesem Beitrag nicht gelingen. Wir können uns hier nur herantasten.
Epidemiologie des Rauschens
Rollen wir dieses Phänomen von vorne auf. Das Passivrauschen als Phänomen ist kein Kind des digitalen Zeitalters. Bereits in den 90er Jahren liefen Hip-Hopper mit Ghettoblastern durch die Straßen und beschallten die Menschen um sich herum ungefragt mit wummernden Beats. Mitte der Nullerjahre und damit vor dem ersten Smartphone gab es schon die ersten Ausprägungen des Passivrauschens. Die Rauscher waren zumeist jugendliche Träger von Carlo-Colucci-Sweatern und breiten Picaldi-Jeans, die standesgemäß ihres Coolness-Status „im Bus ganz hinten“ saßen und von dort aus die Fahrgastkabine mit 50 Cent und Berliner Assi-Rap beschallten. Dieses Phänomen blieb zu dieser Zeit allerdings auf diese klar eingrenzbare Menschengruppe beschränkt. Diese wurden in der Anfangszeit der Social-Media-Plattformen schnell zu Memes und im analogen Raum geächtet ob ihres Verhaltens, welches damals noch selbstverständlich als asozial erachtet und verurteilt wurde.
Heute, knapp 20 Jahre später, in einer Zeit, da das Gehirn durch das Smartphone erheblich malträtiert wurde, hat sich diesbezüglich einiges geändert. Die Quelle des Passivrauschens kann ich aus meiner persönlichen Beobachtung heraus keiner fixen Personengruppe zuordnen. Zwar kann ich gewisse Tendenzen erkennen, das heißt, dieses Verhalten gewissen Stereotypen typischerweise zuordnen. Allerdings erkenne ich das Phänomen als etwas Kulturübergreifendes. Die nachfolgende Skizzierung meiner Beobachtung ist daher vollkommen wertfrei und rein deskriptiv und soll keinesfalls irgendwelche Ressentiments gegenüber bestimmten Menschengruppen bestärken oder gar schüren. In heutigen Zeiten muss dieser Disclaimer leider vorangestellt werden. Selbstredend bin ich wie jeder Mensch persönlichen und damit selektierenden Wahrnehmungsfiltern unterworfen, wodurch die nachfolgende Skizze keinen Anspruch auf Objektivität erheben kann, die es in hundertprozentiger Form sowieso nicht gibt.
Nun zu meiner Beobachtung: Zumeist sehe ich die akustische Belästigung bei Smartphone-Nutzern aus dem nahöstlich/afrikanischen Raum, die sich teils mit den oben genannten Jugendlichen mit Picaldi-Hosen überschneiden, nur mit dem Unterschied, dass dieses Verhalten nicht mehr auf das Jugendalter beschränkt ist.
Zwar beobachte ich das Verhalten in diesen Kulturkreisen am häufigsten, es ist aber beileibe nicht auf diese beschränkt. So erinnere ich mich an folgende Vorfälle: Im Frühstücksbereich eines Hotels etwa saß unweit von mir eine Fernost-Asiatin, die sich, als wäre es das Natürlichste der Welt, in voller Lautstärke auf ihrem Smartphone die Nachrichten auf Chinesisch, Koreanisch oder Japanisch ansah.
Als dieses Phänomen vor einigen Jahren zu blühen begann, beobachtete ich des Weiteren im Bus einen Mann, dem Akzent nach anzunehmen osteuropäischer oder slawischer Herkunft, der sich auf seinem Handy lautstark Video-Reels in seiner Muttersprache ansah. Damals ernteten Akustik-Rauscher noch die Aufforderung anderer Fahrgäste, damit aufzuhören. Der Mann lächelte verschmitzt auf den Ruf einer Frau, sein Handy leiser zu machen und fuhr damit auf provokante Weise fort.
Ebenso beobachtete ich schon einige Male Mütter, die ihre Kinder mit laut rauschenden Endgeräten ruhigstellten und damit gleichzeitig sämtlichen Mitpassagieren die Ruhe raubten.
Einmal beobachtete ich in der Münchner S-Bahn einen alten „Grantler“, der seine Missbilligung gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck brachte, indem er auf seiner Bluetooth-Box lautstark Kinderlieder abspielte und sich über die empörten Ausrufe der anderen Fahrgäste köstlich amüsierte.
Wie sehr Stereotypisierung und die Anhaftung an Vorurteilen fehl am Platz ist, erkannte ich bei einer Zugfahrt von Saalfeld nach Nürnberg. Als der Zug sich durch die traumhaft schöne Landschaft des gebirgigen Thüringer Waldes schlängelte, drang das blecherne Rauschen eines Smartphone-Mikrofons bis zu meinem Gehörgang durch — und das, obwohl ich auf meinen Kopfhörern Musik hörte. Entnervt nahm ich meine Kabelkopfhörer aus der Ohrmuschel, um zu lauschen, wo die Belästigung herkam. Ich hatte — bezeichnenderweise — im ersten Moment den Stereotyp eines Smartphone-Junkie aus dem nahöstlichen Kulturkreis im Verdacht. Doch als ich näher hinhörte, bemerkte ich, dass sich jemand wenige Sitze vor mir einen uralten Italo-Western in deutscher Fassung anschaute. Ohne auf Klischees herumzureiten, lässt sich wohl sagen, dass solche alten Schinken bei jungen Türken, Iranern, Syrern und Afghanen wohl nicht so hoch im Kurs stehen.
Und tatsächlich — als dann ein Fahrgast den Menschen aufforderte, leise zu machen, ertönte eine Frauenstimme mit Thüringer Akzent.
Lauthals beschwerte sich die etwas ältere Dame darüber, dass hier in Deutschland nur noch ausländisch gesprochen würde, man sich fragen müsse, ob man hier überhaupt noch in Deutschland sei, und wenn alle hier in einer fremden Sprache miteinander schwatzen und telefonieren würden, dann dürfte sie ja wohl auch mal ihr Smartphone laut aufdrehen.
Selbstredend erntete die Dame herzlich wenig Sympathiepunkte, bestätigte sie bedauerlicherweise viele der Klischees, die so manch hochnäsiger Westler gegenüber Ostdeutschen hat. Letzten Endes blieb ihr Smartphone die restliche Fahrt stumm.
Wenn die Schallmauer bricht
Die oben genannten Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrung haben nicht nur gezeigt, dass dieses Phänomen kulturübergreifend auftritt, sondern die dahinterliegenden Motivationen oder Achtlosigkeiten unterschiedlichster Natur sind.
Betrachten wir zunächst ganz grundsätzlich, was es eigentlich bedeutet, anstelle von Kopfhörern die Inhalte eines Smartphones über die Lautsprecher anzuhören. Die Kopfhörer erfüllen in gewisser Weise die Funktion eines akustischen Trichters, der dafür sorgt, dass die vom Endgerät ausgehenden Audiosignale allein im Gehörgang des Nutzers landen. Das hat gleichermaßen einen Selbst- wie auch einen Fremdzweck. Der Eigenzweck besteht in dem — je nach Kopfhörerqualität — erfahrbaren Hörgenuss gegenüber der mickrigen Leistung der Smartphone-Lautsprecher, und der Fremdzweck darin, die umliegenden Menschen mit den Audiosignalen nicht zu belästigen. Selbstredend kann auch hierbei der Pegel so weit aufgedreht werden, dass die Audiowellen über diesen Trichterrand hinausschwappen. Doch grundsätzlich ist das Kopfhörer-Nutzen ein Sich-Abkapseln von der Außenwelt, dem ein Isolationsbestreben zugrunde liegt — teils mit tödlichen Folgen.
Hingegen ist das — gezielte oder unbewusste — Nicht-Nutzen der Kopfhörer ein Weglassen ebendieser isolierenden Kapsel. Entweder steht der Nutzer dem Fehlen dieser Kapsel und den daraus entstehenden Folgen für seine Mitmenschen gleichgültig gegenüber, oder es ist ein gezielter Akt der Provokation, der Selbsterhöhung über andere.
Bei Letzterem zielt die Kopfhörer-Verweigerung auf eine konfrontative Beschallung ab.
Der Provokateur nimmt einen stark verminderten Hörgenuss in Kauf, um seine Mitmenschen zu belästigen, sie in akustische Geiselhaft zu nehmen. Verfügt jener Kopfhörer-Verweigerer über einen bestimmten Körperbau oder tritt er in einer größeren Gruppe auf, dann überlegen sich andere Fahrgäste oder Passanten zweimal, ein Abstellen der Lärmbelästigung einzufordern, wollen sie neben gereizten Ohren nicht auch noch eine dicke Lippe oder ein blaues Auge riskieren.
Im ersten Falle vollzieht sich das Nicht-Abkapseln nur auf technischer Ebene, bei letzterem hingegen auf einer sozialen. Während der Nutzer von Kopfhörern die technische Kapsel nutzt, um die Mitmenschen von sich selbst abzugrenzen, hat sich der Kopfhörer-Verweigerer auf sozialer Ebene hinlänglich von seinen Mitmenschen abgegrenzt. Es ist ihm schlicht egal; vielleicht nimmt er es nicht einmal bewusst wahr, dass andere Menschen durch seine lautstarke Handynutzung belästigt werden. Das könnte mitunter daher rühren, dass in der unbewussten Wahrnehmung des Verweigerers sowieso jeder andere seiner potenziellen Mitmenschen in seinem digitalen Echokammer-Mikrokosmos vertieft ist und somit von dem Gerausche keine Notiz nimmt. Dass andere Menschen vielleicht noch das ungestörte Dasein im Analogen vorziehen, wird dann gedanklich gar nicht mehr in Betracht gezogen.
Das Passivrauschen ist eine weitere bizarre Stilblüte in dem neoliberal forcierten Exzess der Hyperindividualisierung und der zwischenmenschlichen Atomisierung. Nach Adam Smith ließe sich sagen:
„Wenn jeder sich selbst hört, sind alle erhört.“
Akustische Belästigung im Allgemeinen ist nichts Neues. Neu ist, dass viele Menschen nun selbst zu Lautsprechern dieses kakophonischen Grundrauschens werden. Im vordigitalen Zeitalter war dieses Rauschen noch monopolisiert: Sei es die Fahrstuhlmusik oder die Kauflust-stimulierende Musikbeschallung in Supermärkten und Kaufhäusern. Bestand dieses Rauschen jedoch noch aus selten guter, meist schlechter Musik, so erleiden unsere Ohren im öffentlichen Raum eine Dauertraktierung durch grässliche Klänge, die wir nicht zuordnen können und die bei uns entsprechend Stress auslösen: Telefongesprächsfetzen in Sprachen, die wir nicht verstehen, das sich ständig verändernde Gedudel aus kurzen Video-Reels, das nervtötende Geklimper von Handyvideospielen oder das aggressive „Diiiiing“ des iPhone-Nachrichtentons.
Viel Kommunikation ohne Gemeinschaft
Das alles ist in der Summe das, wovon der eingangs erwähnte Byung-Chul Han spricht, wenn er den Begriff Kommunikationslärm verwendet, der an die Stelle der Gemeinschaft tritt. Allgegenwärtig wird kommuniziert, ohne dass dabei Gemeinschaft entsteht. Die Menschen, die in der Öffentlichkeit per Videocall mit mal weniger, mal weiter entfernten Menschen sprechen, bilden keine Gemeinschaft. Es fehlt die leibliche Präsenz des anderen, während die tatsächliche Präsenz der anderen leiblich anwesenden Menschen ausgeblendet wird (1).
Das anfänglich angepriesene Versprechen, die Kommunikationstechnologie bringe die Menschen näher zueinander, erfüllt sich nicht. Theoretisch können wir heute mit fast jedem Menschen auf dem Erdenrund in Kontakt treten — eine Gemeinschaft entsteht dadurch noch lange nicht, wie ein Blick auf die global grassierende Smombie-Pandemie zeigt. Das Mittel zum Zweck der Vernetzung ist zu einem Selbstzweck geworden.
Byung-Chul Han zeichnete anhand eines Vor-Ort-Berichts von Péter Nádas die prämodern gebliebene Gesellschaft eines ungarischen Dorfs nach, die im Gegensatz zu der unseren sparsam mit Kommunikation, aber reich an Gemeinschaft ist. Die Bewohner wechseln während ihrer Riten kein Wort miteinander, sie sind jedoch ganz präsent im gegenwärtigen Moment und trotz der Wortkargheit in einem innigen Gemeinsam-Sein. Es ist die soziale Antipode unserer dauerbeschallten, umtriebigen, nie zur Ruhe kommenden Gesellschaft, die Stille nicht aushalten kann (2).
Es ist eine Gesellschaft, die immer höhere Audiowellen schlagen muss, denn die Stille ist ein tiefes Gewässer im menschlichen Inneren, aus welchem eigene Schatten emporsteigen, wenn diese nicht durch die permanente Dauerbeschallung herabgedrückt werden.
Diese Schatten könnten etwa die Bewusstwerdung über die — nicht nur für den Menschen — artfremde Lebenshaltung offen zutage fördern, ebenso die tiefgreifende Entwurzelung von dem für den Menschen natürlichen Habitat.
Unsere Ohrmuscheln, die diesem dystopischen Grundrauschen permanent ausgesetzt sind, werden für das Wesentliche taub. Etwa für das Jahr für Jahr zunehmende Verstummen der Vögel und Insekten. Die unterschiedlichen Gesänge den jeweiligen Vögeln zuzuordnen, gelingt wohl nur noch den wenigsten der Digital Natives — den Autor dieser Zeilen eingeschlossen.
Die Melodie der Erde verstummt zunehmend. Dem wird im gleichen Maße auf artifizielle Art und Weise Abhilfe verschafft. Anders lässt sich der Hype um stundenlange ASMR-Videos nicht erklären, die den natürlichen Sound der Erde in die Wohnbatterien der Menschen transportiert.
So dystopisch man auf diese Entwicklung auch blicken könnte, so zeigt sich doch hierbei, dass tief in der Seele des entwurzelten und entfremdeten Menschen der Zivilisation noch die Sehnsucht nach der verlorenen und vergessenen Heimat schlummert. Dieser Mangel wird vergebens versucht, durch die Dauerbeschallung zu kompensieren. Erst wenn der Pegel dieses Grundrauschens verstummt, kann die innere Stimme wieder hörbar werden, die den Menschen ruft, zu seiner natürlichen Lebensweise zurückzukehren.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Han, Byung-Chul: „Infokratie: Digitalisierung und die Krise der Demokratie“, Berlin, 2021, Matthes & Seitz, Seite 40.
(2) Vergleiche Han, Byung-Chul: „Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart“, Berlin, 2023, Ullstein, Seite 39 Fortfolgende.