„In dem Maße, in dem beim Volke der Aberglaube schwindet, muss die Regierung die Wachsamkeit erhöhen und strenger auf Autorität und Disziplin achten“ ― Antoine de Rivarol (1).
Sie sind wieder da: die Gesellschaftskonstrukteure. Gleich dem Auge im Sturm entfaltet ihre Verheißung vom „Idol der Gemeinschaft“ erneut seine Anziehungskraft auf die Schwachen und Verirrten dieser Erde. Ausgeschlossen und enttäuscht ahnen sie nicht, dass der ihnen versprochene Schutz nur so lange zu gelten vermag, wie sie selbst nicht aus seiner Mitte fallen. Niemand von ihnen fragt sich, ob am Ende nicht der Zyklon, sondern sein Auge selbst die Irrfahrt ist.
Im Chorus der Kollektivmoral
„Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer“ ― Arthur Schopenhauer.
Rasse, Nationalität, Geschlecht, Gesinnung: Überall dort, wo der Untergang des Individuums mit dem Zweck einer „Idealgesellschaft“ begründet wird, verkommt „Solidarität" zu jenem Zauberwort, mit dessen Hilfe der Einzelne unters Rad einer vermeintlichen Kollektiv-„Moral“ gezwungen werden soll. Warum vermeintlich? Weil der Moralbegriff des „Gesellschaftskonstrukteurs“ nichts anderes als eine Schimäre ist: Indem „Moral“ als solche immer Verantwortlichkeit und damit auch die freie Entscheidung des Einzelnen voraussetzt, kann sie sich auf nichts anderes beziehen als auf die Einzelpersönlichkeit.
Wo die individuelle Freiheit aber fehlt, wird Moral bedeutungslos.
Der „Volkswille“ oder „allgemeine Wille“ ist niemandes Wille. So lässt sich die Sozialismuskritik Roland Baaders einigermaßen herunterbrechen. Stand noch für Jean-Jacques Rousseau der Kollektivwille als Summe aller Einzelwillen „moralisch über den Individualwillen aller und eines jeden einzelnen Mitglieds der Gemeinschaft“ (2), sah Baader in dem Glauben, Moral bedürfe ― solange sie „vom Volke“ käme ― keinerlei Beschränkung, einen der verhängnisvollsten Rechtsirrtümer unseres Demokratieverständnisses. Weil Sozialismus für ihn „niemals System oder Methode zur Machtbegrenzung, sondern immer und überall pseudomoralische Rechtfertigung zur Bevormundung des Lebens“ (3) bedeutete, konnte er kaum anders, als in jeder Erzählung vom Kollektivnutzen oder Kollektivverstand zumindest den Versuch „der Autorisierung zur totalen, unbeschränkten Willkür-Herrschaft“ (4) zu vernehmen. Einen „Freibrief zur zynisch moralisierenden schrankenlosen Macht“ nannte er dies auch (3).
Für Baader war klar: Jeder Herrschaftsanspruch braucht ― will er dauerhaft sein ― Legitimation. Ein jeder, der eine bestehende Gesellschaftsordnung abschaffen will, um eine neue zu installieren, muss dies „moralisch“ begründen. Insofern das Individuum als solches jedoch niemals „ideal“ sein kann (und darf), benötigt der Gesellschaftskonstrukteur eine „höhere“, über dem egoistischen und in seinem Eigeninteresse verhafteten Individuum angesiedelte und damit über der „individuellen Moral“ stehende Kollektivmoral.
Sprich: Wo immer Politiker oder größenwahnsinnige Demagogen unbeschränkte Macht begehren, müssen sie zuerst den Markt und seinen Wettbewerb durch das Scheinargument vom „größeren Wohl für die Allgemeinheit“ ersetzen.
Aus Gründen der Legitimation bleibe ihnen „gar keine andere Wahl, als nicht nur alle Moral, sondern auch alle Freiheit auszumerzen“ (5). Wer die Moral auf seiner Seite hat, der hat immer Recht. Solange dies gilt, gelingt es dem Tyrannen, nicht nur den politischen wie ökonomischen Wettbewerb auszuschalten, sondern zugleich seine Marktfeindschaft, wie auch seine politische Alleinherrschaft und totale ökonomische Omnipotenz unter einem gemeinsamen Deckmantel verschwinden zu lassen: dem des Sozialismus (6).
Im Sinne des „absolut Guten“
„Wer die absolute Gerechtigkeit verwirklichen will, wird wie der, der die absolute Freiheit oder die absolute Macht will, die absolute Vernichtung erreichen.“
― Albert Camus
„Was unter dem Druck einer neuen Tyrannei des ‚Gemeinsinns‘ wächst, ist nicht die Moral, sondern die Heuchelei“ (7), schreibt Richard Herzinger und weiter:
Sobald „der Freiheit“ im Namen höherer Zwecke nachgeholfen werde, oder „wenn die Menschen zu einer ‚wahren‘ Freiheit oder zu einer moralisch richtigen Handhabung ihrer Freiheit angehalten oder erzogen werden sollen“ (8), fange die Tyrannenherrschaft bereits an, sich abzuzeichnen.
Wie aber kann das, was von Menschen in konkreten Situationen als gerecht empfunden wird, in einem diametralen Gegensatz zu einem übergeordneten Gerechtigkeitsprinzip stehen, welches dieselben Menschen für unabdingbar halten? Was sind die Mechanismen, die das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden des Menschen epochenunabhängig und allzeit wirksam gegenüber potenzieller Willkür auszuschalten vermögen (9)? Wann verkam das Leitbild von „Souveränität“ zu jenem „falschen Begriff“ (Hayek), der nun mehr dem der „Autorität“ als dem der „Ungezwungenheit“ Montesquieus gleicht? ― Originalzitat Charles des Montesquieu: „Freiheit (kann) nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen darf, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf.“
Es war Friedrich A. von Hayek, der Sozialphilosoph und spätere Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, der den schmalen Grat von Freiheit dadurch definierte, dass sie nur erhalten werden könne, wenn man Prinzipien folge, und sie zerstöre, wenn man sich an Zweckmäßigkeiten orientiere (10). Die größte Gefahr der Demokratie bestand für ihn darin, dass wir sie für „ein Mittel zur Sicherung der Gerechtigkeit für die Gerechtigkeit selbst halten“. Dementsprechend drastisch zeichnete Hayek auch die Konsequenzen eines derart falschen Freiheitsbegriffs im Sinne der Rousseau′schen „Verwechslung“ von individueller Freiheit mit dem Willen der Mehrheit:
„Wenn diese Gleichsetzung von Freiheit und Macht einmal zugelassen ist, gibt es keine Grenzen mehr für die Sophismen, zu denen die Anziehungskraft des Wortes ‚Freiheit‘ benützt werden kann, um Maßnahmen zu unterstützen, die die persönliche Freiheit zerstören, kein Ende der Tricks, mit denen die Menschen bewogen werden können, im Namen der Freiheit ihre Freiheit aufzugeben“ (11).
Wer die Demokratie zweckentfremde und als Durchsetzungsmethode von Gruppeninteressen missverstehe, der verteidige, so auch Hayeks Schüler Baader, „in Wirklichkeit nicht die Demokratie, sondern den Sozialismus ― und damit den Todfeind der Freiheit“ (12).
In dem Propagandatrick, die Begriffe „Recht" und „Gerechtigkeit" mit der Begründung auszuhöhlen, dass, ― weil man die Wahrheit niemals kennen könne ― alles „recht" und „gerecht" sei, was die Mehrheit als solches erachtet, erkannten sowohl Hayek als auch Baader jenen Relativismus, der ― vollends befreit von „höheren Werten" ― den Moralisierungen eines jeden Unrechtsstaates Tür und Tor öffne (13). Gab Immanuel Kant mit seiner „Kopernikanischen Wendung der Ethik" (Popper) noch dem Menschen seine zentrale Stellung in der Welt dadurch zurück, indem er die Gewalt über Moral und Ethik nur ihm, dem Individuum, zuschrieb, so erlosch dieses Monopol jedes Mal auf dieselbe Weise, wie es sich erneut fremden Autoritäten unterwarf: im Kollektiv. Der Einzelne entzieht sich seiner Verantwortung und verliert am Ende beides: Freiheit und Würde.
Es war ― ebenfalls ― Karl Raimund Popper, der die Wurzeln jener sozialistisch geprägten Kollektivmoral auf Platon zurückführte. Bereits der Titel „Der Zauber Platon“ des ersten Bandes seines Werkes „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ entlarvt diesen nicht nur als den ersten großen „Theoretiker des totalitären Antihumanismus“, sondern darüber hinaus auch „als einen der geistigen Väter des Totalitarismus und als Erfinder des ― später von den Frühsozialisten wieder ausgekramten ― ‚absolut gerechten‘ und ‚absolut guten‘ Glückseligkeitsstaates“ (14).
Mag der zentrale Kern aller Ethik für Platon die Gerechtigkeit gewesen sein, wendete er ihren Begriff stets nur zu einem Zwecke an: zur Herbeiführung des „absolut gerechten Staates“. Hierzu setzte er die Begriffe des Altruismus und Kollektivismus sowie des Individualismus und Egoismus miteinander gleich. Als „gerecht“ ― und damit auch als moralisch richtig ― gelte, wer sich um das „Gemeinwohl“ kümmere. Der Staat als „Endzweck“ seiner Existenz delegitimiere jede Handlung des Individuums um seiner selbst willen.
Das Individuum als Sündenbock
„Dubiose Tugend aller Revolutionäre: So viele Gefühle für die Menschheit, daß keines mehr bleibt für den Menschen“ ― Hans Kasper.
Damals wie heute und in allen Epochen der Kollektivmoralisierung erfahren die Anklagen gegen den Egoismus von atomisierten Individuen Konjunktur.
Nicht nur ist „das enthemmte, von allen moralischen und metaphysischen Bindungen entfremdete Individuum schuld“ (15) daran, dass die Masse sich in ihrem Korsett von Verzicht und Enthaltsamkeit einfinden musste; das für sich selbst stehende Individuum übt mit seinem Eigensinn zugleich ― ob bewusst oder unbewusst ― einen Druck auf die Masse aus, der sich in nichts anderem entladen kann, als in einer Feindschaft gegen das Individuum, in einem Hass auf seinen Freiheitswunsch.
Identität entsteht bekanntlich aus Differenz. Und das nicht nur auf individueller Ebene. Kulturstiftend wirkt für Bodo Strauss vor allem der Sündenbock. Mag dieser als „metabolisches Gefäß“ in erster Linie Spiegel all dessen sein, was die Gesellschaft sich nicht zu sein traut, kommt der Einzelne ― indem „er die eigennützigen Motive ausplaudert, die alle unter dem Deckmantel von Menschenliebe und sozialer Kooperationsbereitschaft zu verschleiern versuchen“ (16) ― schlussendlich nicht umhin, all ihren internalisierten Selbsthass auf sich zu ziehen und über sich entladen zu lassen. „Der Sündenbock als Opfer der Gründungsgewalt ist“, so Bodo Strauss, „jedoch niemals lediglich ein Objekt des Hasses, sondern ebenso ein Geschöpf der Verehrung: Er sammelt den einmütigen Hass aller in sich auf, um die Gemeinschaft davon zu befreien“ (17). Als abtrünnigem „Egoisten“ gelingt es ihm, die Wahrheit zu sagen, „nämlich, dass der Einzelne mit dieser Bürde überfordert ist und in der ständigen, heimlichen Versuchung lebt, sie abzuwerfen“ (18).
Dass allerdings „Identität“, sobald sie sich aus nichts anderem mehr zu stabilisieren vermag als der Abwertung des eigenen Gegenübers, in ihrer Konsequenz nichts anderes bedeuten kann als die Auflösung des eigentlichen Individuums, beschreibt Richard Herzinger wie folgt:
„Um mit einem vermeintlichen substanziellen Kern identisch zu werden, muss der Einzelne das Außen so weit wie möglich von sich distanzieren. Am Ende aber findet er sich in einer Ganzheit aufgehoben, in der alles mit allem identisch ist, weil das Einswerden mit dieser Ganzheit die Feststellung von Differenzen nicht mehr möglich macht. (…)
Der Wunsch, mit sich selbst identisch zu werden, führt zur Aufhebung der Individualität. Der Ruf nach ‚Identität‘, sei es nach ‚kultureller‘, ‚nationaler‘ oder auch personaler Identität ist ein Kampfschrei gegen die individuelle Freiheit. In jeder Form führt das Streben nach ‚Identität‘ zur Beseitigung von Ambivalenzen, Widersprüchen und Unwägbarkeiten dieser Freiheit. In der kollektiven Identität sorgen die Gemeinschaft und ihre verbindlichen Autoritäten für die Überwachung des Einzelnen. In der personalen Identität fungiert der Einzelne als sein eigener Gefängniswärter, der darüber wacht, dass das Ich nicht von seinen festen Zuordnungen abweicht. In jeder Form bringt der Ruf nach ‚Identität‘ einen mächtigen Wunsch nach Regression aus der Unübersichtlichkeit der selbstverantworteten Freiheit hervor, der in seiner potenziellen Gefährlichkeit nicht überschätzt werden kann“ (19).
Die Angst vor der Freiheit
„Wer die Freiheit gegen diese Risiken immunisieren will, indem er sie unter Kuratel stellt, schlägt nichts anderes vor als Selbstmord aus Angst vor dem Tod“ ― Richard Herzinger (20).
Beinahe scheint es so, als rufe die Zunahme an Freiraum Gegentendenzen hervor. Während der Einzelne sich mit einem Verlust von Tradition, Führung und Orientierung konfrontiert sieht, steht er zunehmend vor der Notwendigkeit, für sich und seine Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. Ein Zustand der Geworfenheit, der in jedem Menschen, der über keine gut integrierte Persönlichkeit verfügt, Angst und Einsamkeit hervorrufen kann. Der Mensch sieht sich mit seinem eigenen Leben konfrontiert, verfügt aber über keinerlei eigene Wertordnung, an der er sich zu orientieren gelernt hat. Weil es ihm nicht gelingt, das Problem als lösbar zu sehen, fühlt er sich bei jeder zu treffenden Entscheidung erneut überfordert.
Dabei ist der Fingerzeig auf jemand anderes immer beides: Schuldzuweisung und Gewissensentlastung. In ihm liegt die tief „im Hordenwesen wurzelnde Verantwortungsscheu“ (21), die zum Glück stets die beste Ausrede mit sich bringt: Verantwortlich bin nicht ich persönlich, sondern „die Gesellschaft". Bei jedem Gewissenskonflikt, bei jeder noch so winzigen Abweichung von dem, was „die Gesellschaft“ als Norm erachtet, verschmilzt das „Individuum“ mit jener Kollektivmoral; verpufft es in jenem Heidegger′schen Man, das sowohl alle wie keinen meint.
Anstatt jedoch den Einzelnen dazu zu ermutigen, sowohl seine inneren Neigungen zu entdecken als auch eigene Ansprüche zu artikulieren, „verspricht die Gemeinschaftsideologie die trügerische Sicherheit eines festliegenden Wertekanons, dem man sich nur unterordnen müsse, um unumstößliche Antworten auf ethische Grundsatzfragen zu erhalten“ (22). Das immer wiederkehrende Mantra der Vergemeinschaftung ist und war nie darauf angelegt, den Einzelnen in seiner Lebensführung zu emanzipieren. Es soll Passivität und Pseudoindividualität fördern; ja es soll ihm Angst vor der Freiheit einjagen, sodass er die Verantwortung für sein eigenes Handeln auf das vermeintlich schützende Kollektiv überträgt.
Folglich braucht es niemanden zu wundern, dass sich der ent-individualisierte und von sich selbst entfremdete Mensch in einem gesellschaftlichen Sittenkorsett wohler fühlt. Tiefenpsychologisch bedeutet Sozialismus schließlich nichts weiter als „Gewissensentlastung“:
Sobald das einen umgebende System selbst als „moralisch“ gilt, ist der Einzelne davon befreit, über jede seiner Handlungen nachzudenken. So etwas wie ein „Gewissen“ existiert fortan nicht mehr. Mit „dem Bekenntnis zum System“ gilt jede moralische Entscheidung bereits vorweg als reingewaschen.
Ein Mechanismus, der diesen Text wieder zurück an seinen Anfang führt: Immer dort, wo persönliche Freiheit einfach deshalb als überflüssig erachtet wird, weil sie sich in Form von Entscheidungs- und Handlungsfreiheit auch gegen „das System" wenden könnte, wird Moral nicht nur bedeutungslos – sie verkehrt sich in ihr Gegenteil. Kurzum: Hört das Individuum auf, darüber selbst zu urteilen, was es als moralisch richtig oder falsch erachtet, verrät es nicht nur sich selbst; aus Furcht und / oder Aberglaube gibt es sich und seine Freiheit zugunsten einer willkürlichen „Vernunftsingularität“ auf (23).
„Das bürgerliche Individuum mit seinem illusionären Begriff selbstbestimmter Freiheit werde durch einen neuen Menschentypus ersetzt werden, in dem Organismus und Technik eine Synthese eingehen würden. Freiheit und Zwang werde dieser neue Mensch nicht mehr als Widerspruch empfinden.“
― Richard Herzinger (24)
Die Re-Organisation von Freiheit
„Das ist die größte Gefahr, die heute die Zivilisation bedroht: die Verstaatlichung des Lebens, die Einmischung des Staates in alles“ ― José Ortega y Gasset.
Wir halten fest: Gesellschaften, deren Individuen nicht mehr wissen, welche Werte sie im Kern vertreten, destabilisieren auf die gleiche Weise wie ihre Mitglieder. Je diffuser und weniger überschaubar ihr gemeinsames Bündnis zu werden droht, desto krampfhafter versuchen sie sich durch das Korsett eines nicht verhandelbaren Sittenkodexes neuen Halt zu verschaffen.
Ihre Angst zusammenzubrechen, macht sie dabei nicht nur unflexibel und steif, sondern zugleich auch blind dafür, dass einzig Werte, die infrage gestellt werden können, auch verlässliche Werte sind (25).
Das gesellschaftlich geknüpfte Bündnis erscheint dabei als ebenso von sich selbst entkoppelt wie das seiner Mitglieder. Bedingt durch eine fehlende Innerlichkeit und erzwungen mittels einer überpräsenten Äußerlichkeit, verkennen Gesellschaft wie Konstrukteur gleichermaßen, dass das statische Gleichgewicht gleichbedeutend mit dem Tod ist und dass nur der „dynamische Selbstordnungsprozess im Chaos einer unendlich sich wandelnden Vielfalt“ (26) Leben bedeuten kann. Ihr zweckgerichtetes Planen dessen, wie „die Gesellschaft“ sich zu gestalten habe, lässt sie überall nur das von außen Organisierte sehen, niemals aber das „Selbstgewordene“, das Organische. Gleichermaßen blind für alles Lebendige, übernimmt auch ihr „Leben“, die Gemeinde und alle ihr innewohnenden Beziehungen zunehmend die Seinsform, in der ihre Konstrukteure sie erdacht haben: die einer Inszenierung.
Es gilt: Je weiter entfernt sich der Einzelne von sich selbst und seinen Werten befindet, desto krampfhafter versucht er, sich eben diese anzueignen oder ― noch präziser ― sie sich aufzubürden. Denn genau das ist es, was fremddirigierte „Werte“ bedeuten: Sie verleihen dem Individuum keine Würde. Sie sind ihm eine Bürde, die nicht sie zu Grabe tragen, sondern andersherum: von der sie zu Grabe getragen werden. Anstatt dass sie ihn dazu zu beflügeln, seinen eigenen Idealen und Prinzipien zu folgen, kurz, sich selbst und sein Leben zu verwirklichen, stellen sie eine Last dar, drücken ihn nieder, halten ihn am Boden, dort, wo er angeblich auch hingehört.
Solange dieser Mensch nicht erkennt, dass sein Leben keinem anderen Zweck folgen sollte als seinem eigenen, wird er auch nicht verstehen, dass das Leben als solches aufhört, Leben zu sein, wenn es einem „höheren“ Ziel untergeordnet wird. Zwecke zerstören die spontane Ordnung und vergewaltigen sie zu einer Organisation. Sie instrumentalisieren das Leben und generieren Zwang. Und der Zwang, der innerliche wie äußerliche, erstickt die Freiheit. Und ein Leben ohne Freiheit, was soll das sein?
… ich weiß es nicht, aber zumindest entspräche es nicht dem, was Roland Baader als seinen „Traum“ von einem Leben in Selbstbestimmung beschrieb:
„Dies ist mein Leben; ich habe nur eines, und dieses eine soll mir gehören. Ich bin niemandes Sklave, niemandes Kriecher und niemandes Liebediener. Ich bin ein freier Mann, der für sein Schicksal selbst und allein verantwortlich ist, der sich in die Gemeinschaft einfügt und die Rechte anderer genauso respektiert wie er seinen eigenen Pflichten nachkommt, der aber keine selbst ernannten Ammen und scheinheilige Gute Onkels, keine ausbeuterischen Wohltäter und von mir bezahlte Paradiesverkünder braucht. Was ich brauche, das sind: Freunde, Familie und rechtschaffene Christenmenschen, in guten und in schlechten Zeiten; und ich bin Freund, Familienglied und Christ, auch dann, wenn es anderen schlecht geht; aber dazu brauche ich keine Funktionäre und Schmarotzer, keine bezahlten Schergen und staatsversorgte Wohltäter. Dazu brauch ich nur die mir Nahestehenden und den Herrgott. Hier stehe ich. Gott helfe mir! Ich kann nicht anders!“ (27).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Zitat von Antoine de Rivarol (1732 bis 1801) in Ernst Jünger: Rivarol. Maximen. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann, 1956, Seite 86.
(2) Zitat von Jean-Jacques Rousseau: „Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass der allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste abzielt.“, in: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts, 1758, Band II, Kapitel 3.
(3) Roland Baader: Kreide für den Wolf ― Die tödliche Illusion vom besiegten Sozialismus. Anita Tykve Verlag, Böblingen, 1991, Seite 19.
(4) Ebenda, Seite 74.
(5) Ebenda, Seite 151 folgende.
(6) Ebenda, Seite 214 folgende.
(7) Richard Herzinger: Die Tyrannei des Gemeinsinns ― Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft. Rowohlt, 1997, Seite 75.
(8) Ebenda, Seite 15 folgende.
(9) Baader, Roland (1991),: Seite 189.
(10) Friedrich A. von Hayek: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Seite 84.
(11) Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1971, Seite 21 folgende.
(12) Baader (1991), Seite 204.
(13) Ebenda, Seite 198.
(14) Ebenda, Seite 153 und folgende.
(15) Herzinger (1997), Seite 7.
(16) Ebenda, Seite 80.
(17) Botho Strauss: Anschwellender Bocksgesang., in: Heimo Schwilk und Ulrich Schacht (Herausgeber): Die Selbstbewusste Nation. Ullstein, Berlin, 1993, Seite 39.
(18) Herzinger (1997), Seite 80.
(19) Ebenda, S. 149.
(20) Ebenda, Seite 16.(21) Baader (1991), Seite 156.
(22) Herzinger (1997), Seite 78.
(23) Baader, (1991): , Seite 311.
(24) Richard Herzinger: Republik ohne Mitte. Ein politischer Essay. Siedler Verlag, Berlin, 2001, Seite 158.
(25) Ebenda, Seite 9.
(26) Baader (1991), Seite 80.
(27) Ebenda, Seite 5.
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