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Das Idealismusproblem

Das Idealismusproblem

„Gutmenschen“ können nerven — so lange unsere Welt aber alles andere als perfekt ist, brauchen wir sie.

„Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt“. — Wer würde Mahatma Gandhi da widersprechen wollen? Doch genau an der Hürde, selbst Veränderungen zu gestalten, scheitern viele.

Die damit verbunden Eigenverantwortung erschließt sich zwar schnell, lässt sich praktisch jedoch umso schwerer umsetzen. Besonders anschaulich zeigt sich das Problem an unserem gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die aus überwiegend altruistischen und selbstlosen Motiven Veränderungen anstreben — den sogenannten Idealisten.

Egal ob Veganer, Friedensaktivist, Antikapitalist, Flüchtlingshelfer, Selbstversorger, Aussteiger oder andere — sie möchten das Bestehende, das aus ihrer Sicht moralisch Falsche, verändern. Die Welt ein wenig besser machen, lautet das Ziel. Dabei ist es immer ein Drahtseilakt, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und den Versuchungen des gelernten Alltags zu widerstehen. Denn den hohen, idealistischen Ansprüchen stehen kontraproduktive Rahmenbedingungen gegenüber — anderenfalls wäre ja keine Veränderung notwendig. Die angestrebte Veränderung setzt demnach eine zumindest teilweise Ablehnung der vorherrschenden Umwelt voraus. Sich dieser Ablehnung emotional und intellektuell zu stellen, ist für sich allein genommen bereits eine gewaltige Aufgabe.

Im Regelfall kommt es immer wieder zu Versuchungen und Rückfällen. Der Vegetarier isst beim gemeinsamen Grillen mit Freunden doch ein Steak; die linke Globalisierungskritikerin kauft die neuen Sneaker von Nike; der Überzeugungsradler fliegt nach Indien in den Aryuvedaurlaub; die Verfechterin des Buchhandels vor Ort bestellt doch bei Amazon oder der Überwachungsskeptiker nutzt Facebook und Whatsapp.

Kritisch ist dabei die Einordnung — sowohl die eigene, als auch die der Anderen. Denn es besteht einerseits die Gefahr, sich dadurch selbst zu frustrieren und den eigenen Idealismus als negative Last zu empfinden. Andererseits besteht die Gefahr, von Außenstehenden als inkonsequent abgestempelt zu werden und somit an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die individuelle „Schwäche“ des Einzelnen, der es nicht schafft, seinen Idealismus selbst konsequent zu leben, wird von vielen auf das ganze Idealismuskonzept übertragen und brandmarkt dieses als utopisch oder gar lächerlich.

Zudem finden sich immer auch Menschen, die sich ganz bewusst gegen die idealistische Position stellen — sei es aus Überzeugung, Erfahrung oder anderen Motiven. Nicht jede idealistische Position ist ausnahmslos richtig und alternativlos. Hinzu kommt eine gesellschaftliche Gegenströmung derjenigen, die es leid sind, sich ständig Vorwürfe anzuhören.

Dann ist schnell von Gutmenschen, Weltverbesserern oder realitätsfremden Besserwissern die Rede. Das ist besonders dann der Fall, wenn ‚Idealisten‘ die selbstlose Motivation abgesprochen wird.

Diese Probleme und Reaktionen mögen so manchen Idealisten entmutigen. Darauf kann man entgegnen: Wer braucht denn schon Idealisten oder, noch schlimmer, Gutmenschen, Weltverbesserer und realitätsfremde Besserwisser?

Niemand — könnte natürlich eine Antwort lauten. Das setzt allerdings voraus, dass man mit den Zuständen in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen vollauf zufrieden ist. Die Welt ist jedoch nie perfekt und das Streben nach Verbesserung ist zu tief menschlich. Beim aktuellen Blick in die Zeitungen und Nachrichten werden die wenigsten für sich feststellen, dass die Welt in allerbester Ordnung ist. Also brauchen wir doch Idealisten, Gutmenschen, Weltverbesserer und realitätsfremde Besserwisser?

Idealismus ist folglich etwas, das uns alle angeht — realistisch betrachtet, den einen oder anderen, je nach Thema, mal mehr und mal weniger. Geht man nun aber davon aus, dass der Anteil der absolut konsequent handelnden Idealisten sehr gering ist und auf alle anderen die eben beschriebenen Mechanismen im Kern zutreffen, bleibt die Frage offen, wie wir als Gesellschaft ein idealistisches Umdenken fördern können.

Um auf Ghandi zurückzukommen, ist letztlich die entscheidende Frage, wie ich Wandel definiere und begreife. Begreife ich Wandel als konsequente Handlungen gemäß meinen Überzeugungen?

Lasse ich mich ausschließlich von Menschen inspirieren, die ihre eigene Maxime hundertprozentig und mit aller Konsequenz leben? Wenn ja, dann laufen wir vermutlich Gefahr, immer mehr Idealisten zu verlieren und idealistische Positionen zu diskreditieren. Die Gestaltung des Wandels entgleitet uns somit, da wir die Messlatte für gelebten Idealismus zu hoch ansetzen.

Wichtig ist das Verständnis, dass nicht andere den Idealismus konsequent vorleben müssen. Man sollte nicht erwarten, dass einem der Idealismus als attraktives Produkt mit einer authentischen Hochglanzverpackung und stimmiger Corporate Identity von einem charmanten Testimonial angepriesen wird.

Stattdessen könnte die Alternative lauten: Ist die Veränderung der eigenen geistigen Haltung und allein die Formulierung eines idealistischen Anspruchs bereits ein erster wesentlicher Schritt in Richtung Wandel? Die These ist, dass man seine eigenen Ansprüche wandelt und somit bereits einen wichtigen Beitrag zur kollektiven Veränderung beiträgt. Man lässt sich auf idealistische Ideen ein, reflektiert den eigenen Standpunkt, gewinnt an Problembewusstsein und wird in letzter Konsequenz selbst Stück für Stück zum gelebten Idealisten. Dadurch ließen sich die Rahmenbedingungen wirklich verändern.

Wir alle sollten uns mehr auf die idealistischen Ideen anderer einlassen und selbst den gesellschaftlichen Wandel versuchen mitzugestalten. Wie jedwede gesellschaftliche Entwicklung sind auch idealistische Veränderungen keine stringenten Prozesse, die ohne Auf und Ab vonstattengehen.


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