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Das Flachland verlassen

Das Flachland verlassen

Um der Vernunft im Land wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, muss die Herrschaft des technokratisch-ökonomischen Zeitgeists beendet werden.

Scharmer stellt mit seiner Theorie U eine Methode zur Verfügung, die diese unbewussten Quellorte unseres Tuns transparent macht (1). Wir müssen also die alten Fehler nicht immer wieder neu machen. Wir können lernen, bewusst zu handeln, und offen werden für das Neue, das in die Welt kommen will.

Der satirische Roman Flachland des englischen Pädagogen und Theologen Edwin Abbott Abbott (1838 bis 1926) spielt in einem Land, das nur zwei Dimensionen kennt. Seine Bewohner haben die Gestalt einfacher geometrischer Formen wie Dreiecke, Quadrate oder Vielecke. Der Roman erzählt die Geschichte eines Quadrates, dessen Weltbild ins Wanken gerät, als es plötzlich Besuch von einem kugelförmigen Wesen aus der dritten Dimension bekommt (2).

Obwohl Abbott die Normvorstellungen und engen Sichtweisen im viktorianischen England aufs Korn nimmt, wirkt sein Roman erstaunlich aktuell. Und beim heutigen Lesen drängt sich die Frage auf:

Leben nicht auch wir in einem „Flachland“? In unserer Welt sind Menschen zwar mehr als zweidimensionale Formen, aber der Sinn für die Vieldimensionalität unseres Seins — für das weite Spektrum unseres Bewusstseins, die unterschiedlichen Arten des Wissens und die vielen Qualitäten von Wahrnehmung — ist uns verloren gegangen.

Wie konnte es dazukommen?

Licht und Schatten der Aufklärung

Die Ursachen für diese Verengung unseres Blicks auf die Welt und auf uns selbst liegen in der Aufklärung. Und damit ausgerechnet in der Epoche, in der die Erkenntnis reifte, dass das Licht der Vernunft in jedem Menschen aufscheint. Kraft seiner Vernunft sollte sich der Mensch nun aus der Vormundschaft von Klerus und Adel befreien, zu einem unabhängigen Denken und zur Selbstbestimmung gelangen. Immanuel Kant (1724 bis 1804) charakterisiert in seinen Drei Kritiken die Vernunft als die Einheit dreier Arten gültigen Wissens: des objektiv-empirischen Wissens (Kritik der reinen Vernunft), des ethisch-moralischen oder dialogischen Wissens (Kritik der praktischen Vernunft) und des subjektiv-ästhetischen Wissens (Kritik der Urteilskraft). Keine dieser Arten kann, so Kant, auf eine andere reduziert werden. Jede hat ihren eigenen Geltungsbereich und steht für einen Teil der Wirklichkeit (3):

  • Das objektive oder empirisch-analytische Wissen ist die Domäne der Naturwissenschaften. Sie betrachten die Welt aus der Perspektive eines „objektiven Beobachters“ und erforschen damit die Außenseite der Welt: die Dinge und Prozesse oder „Esheiten“, die man mit dem menschlichen Auge oder seinen technischen Erweiterungen wie Mikroskopen oder Teleskopen wahrnehmen kann. Real ist hier, was messbar, im Experiment reproduzierbar und rational erfassbar ist.
  • Das ethisch-moralische Wissen ermöglicht uns — ganz praktisch — gerecht miteinander umzugehen und gemeinsam ein gutes Leben zu führen. In diesem Bereich des Wir, der Innendimension oder Kultur einer Gesellschaft, zählt das intersubjektive Verstehen und die dialogische Verständigung.
  • Das subjektiv-ästhetische Wissen gehört zum Geltungsbereich des Ich. Hier geht es um ästhetisches Empfinden, gefühlte Erfahrungen, persönlichen Sinn, Wahrhaftigkeit und die ganze Tiefe des menschlichen Bewusstseins. Dieser hellen Seite der Aufklärung sollte bald eine dunkle folgen.

Die Einebnung der Vernunft zu ökonomischer Rationalität

Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die kapitalistische Wirtschaftsweise mit ihrer industriellen Massenproduktion führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem rasanten technischen und ökonomischen Fortschritt. Die Folge dieser Entwicklung war die Reduzierung der Vernunft auf ein technisch-ökonomisches Zweckdenken.

Die Sphären des intersubjektiven Wir und des subjektiven Ich gerieten unter Druck und wurden den Prinzipien eines ökonomisch-rationalen Zweckdenkens unterworfen. Das Ich wurde wie ein Es behandelt. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas nennt dies die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die „instrumentelle Vernunft“ (4). Sein Kollege Herbert Marcuse spricht von der Geburt des „eindimensionalen Menschen“ (5). Und der US-amerikanische Philosoph Ken Wilber nennt die Beschränkung auf Quantität und Funktionalität zu Lasten von Qualität, Schönheit, Sinn und ethischen Werten „Dominanz des Flachlands“ (6).

Die Vernunft, die ursprünglich jedem Menschen zu Freiheit, Selbstbestimmung und ganzheitlicher Entfaltung verhelfen sollte, wurde in ihr Gegenteil verkehrt. In der verzerrten Form einer technokratisch-ökonomischen Rationalität agiert sie bis heute als eine „stumm-alternativlose Gewalt“ (Habermas) und zwingt uns ihre Herrschaft auf.

Scharmer, der sich im Bereich des Chance Managements einen Namen gemacht hat, stellt mit seiner Theorie U eine einfache — aber nicht ganz einfach umzusetzende — Methode bereit, die es ermöglicht, die Dominanz des Flachlandes aufzubrechen. Mit ihr lassen sich die auseinandergefallenen Wirklichkeitsbereiche des Es, des Wir und des Ich — das Innen und das Außen — wieder zur Einheit der Vernunft zu verbinden (7).

Der blinde Fleck

Wir alle bringen gemeinsam unsere soziale Realität hervor. Scharmer nennt diese Realität ein „soziales Feld“. So wie der Ernteertrag von der Qualität des Ackerbodens abhängt, so hängt die Qualität des sozialen Feldes von der Art und Weise ab, wie seine Mitglieder denken, fühlen und miteinander kommunizieren. Trotz der guten Absichten, die Menschen in Initiativen und sozialen Bewegungen vereint, bringt ihr Engagement oft nicht die Ergebnisse hervor, die sie sich wünschen.

Der Grund dafür, so Scharmer, ist ein blinder Fleck. Wir hören zwar, was wir sagen, und sehen, wie wir handeln, den inneren Ort aber, dem unser Reden und Tun entspringt, sehen wir nicht. Mit seiner Theorie U hat er eine Landkarte geschaffen, mit der man diese inneren Quellorte auffinden kann.

Die Weg durch das U

Die folgende Grafik zeigt nach Scharmer — am Beispiel des Zuhörens — die vier unterschiedlichen Quellorte oder Feldstrukturen der Aufmerksamkeit auf. Ändert sich der innere Ort, von dem heraus wir zuhören, dann ändert sich unser Leben.

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  • Die erste Art des Zuhörens nennt Scharmer Downloading(Runterladen). Sie ist nur wenig hilfreich. Denn hier lade ich die immer gleichen mentalen Programme herunter, spule die immer gleichen Denkmuster, Urteile und Annahmen ab. Damit bleibe ich in meiner Vorstellungswelt gefangen und erfahre nichts Neues. „Ach, der schon wieder! Ich weiß doch schon, was der sagen will.“
  • Um zur zweiten Art des Zuhörens, dem Hinhören oder faktenbezogenen Zuhören zu gelangen, muss ich aus dem Downloading aussteigen und mein Denken öffnen. Ich höre nun mit wachen Ohren hin und nehme neue, objektive Fakten wahr. „Oh, jetzt hör dir das mal an!“
  • Auf der dritten Ebene, dem Hinspüren oder empathischen Zuhören ist meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf die dingliche Welt gerichtet. Hier geht es darum, das Herz zu öffnen und die Gefühle zu Antennen der Wahrnehmung zu machen. Das Bewusstsein stülpt sich um, wenn ich meinen eigenen Standpunkt verlasse und mich an den inneren Ort begebe, von dem aus der andere spricht. „Ja, ich weiß jetzt, wie du dich fühlst. Ich verstehe, was du sagst.“
  • Das vierte Feld des Zuhörens nennt Scharmer Presencing (Anwesendwerden) oder schöpferisches Zuhören (8). Hier bin ich aufgefordert, meinen Willen zu öffnen und mich mit den tieferen Ebenen des Wissens, des eigenen Selbst und der Kreativität zu verbinden. Der Ort der Wahrnehmung verlagert sich hin zu dem, was im Entstehen begriffen ist. Das Zuhören wird zu einem schützenden Raum, in dem das Neue ankommen kann. Hier beginne ich zu ahnen, dass ich viel mehr bin, als ich bisher dachte, meine Möglichkeiten weit über das hinausreichen, was ich mir bisher zugetraut habe. „Ich verlasse den Ort auf dem Grund des U mit einem Selbst, das mehr ist — das präsenter und stärker ist — als das Selbst, das an diesen Ort kam.“

Das Neue in die Welt bringen

Oft lässt sich das Neue, das im Presencing aufscheint, nur erahnen. Aber selbst wenn es uns mit großer Klarheit entgegentritt, ist diese Klarheit meist nicht von langer Dauer. Es bedarf vieler Wege durch das U, bis das Neue in Worte gefasst, zu einem Bild oder zu einer Absicht verdichtet werden kann.

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Der neuen Idee muss — wie einem kleinen Kind – behutsam und mit Achtsamkeit der Weg in die Welt geebnet werden.

„Bleibe deiner Idee gegenüber offen. Lerne aus den Feedbacks, die du erhältst. Nutze den Austausch mit anderen, um die Idee zu verfeinern oder zu verändern. Erprobe sie in einem geschützten Raum, bevor du sie im Großen verwirklichst.

Rückkehr zur Vernunft

Die Reduzierung der Vernunft auf eine technokratisch-ökonomische Rationalität hat tiefe Risse im Gefüge unserer Welt hinterlassen: Risse zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur und Risse im Individuum.

  • Die soziale Kluft zeigt sich unter anderem an der Schere zwischen Arm und Reich. Im Jahr 2019 besaß das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung knapp 44 Prozent des gesamten Geldvermögens (9).
  • Die ökologische Kluft lässt sich am Erdüberlastungstag ermessen. Das ist der Tag im Jahr, an dem die Ressourcen, die uns die Erde jährlich zur Verfügung stellt, aufgebraucht sind. Für Deutschland war das in diesem Jahr der 4. Mai (10).
  • Die intrapersonale oder spirituelle Kluft, die unser Selbst von unserem Höheren Selbst trennt, führt zu Sinnverlust und zur Entfremdung von unseren Zukunftsmöglichkeiten. Die Folgen zeigen sich beispielsweise an der Zunahme von Angststörungen und Depressionen (11).

Indem wir aus einem offenen Denken, einem offenen Herzen und einem offenen Willen heraus handeln, heilen wir die Risse, die das technokratisch-ökonomische Zweckdenken verursacht hat. Gleichzeitig bringen wir das Neue in die Welt. Dieses Neue ist immer ein „Dreierpack“, eine Verbindung aus einem veränderten Selbst (Ich), einer neuen Qualität des Miteinanders (Wir) und neuer äußerer Strukturen oder Institutionen (Es). Ich kann die Welt nicht verändern, ohne mich selbst und meine Beziehungen zu verändern. Das ist die herausfordernde und befreiende Botschaft zugleich!



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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Scharmer
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Edwin_Abbott_Abbott
(3) Wilber, Ken: Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Wissen und Weisheit. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main, 1998, Seite 114 bis 117.
(4) Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1988.
(5) Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, 2005.
(6) Wilber, Ken: Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Frankfurt am Main, Wolfgang Krüger Verlag, 1996.
(7) Scharmer, Claus Otto: Theorie U. Von der Zukunft her führen. Heidelberg, Carl-Auer Verlag GmbH, 2007.
(8) Presencing ist eine Wortschöpfung, die sich aus den englischen Wörtern „presence“ (Gegenwart) und „to sense“ (spüren) zusammensetzt.
(9) https://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverteilung#Im_Jahr_2019
(10) https://www.ardalpha.de/wissen/umwelt/nachhaltigkeit/earth-overshoot-day-welterschoepfungstag-klima-oekologischer-fussabdruck-100.html
(11) https://unric.org/de/who17062022/


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