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Das Ende der Geborgenheit

Das Ende der Geborgenheit

Warum Kindheit im Kapitalismus nichts zählt.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist die ultimative, in allen großen Parteien unumstrittene Forderung. Dass Frauen (und Männer sowieso) ungehindert ihrer Arbeit nachgehen können, dass Alleinerziehende eine Chance haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, dass alle Kinder
nebenbei auch noch mehr lernen als zu Hause – das ist die Geschichte, die wir alle tagtäglich hören.

Lassen Sie mich eine andere Geschichte erzählen, nämlich die der Kinder.

Um alle Missverständnisse gleich aus dem Weg zu räumen: Hier geht es nicht um die Diffamierung von Müttern, nicht um katholische Familien- und Weltbilder, nicht um radikale Lebensschützer und andere selbsternannte Kinderlobbyisten. Es geht auch nicht darum, dass Kinder nicht fremdbetreut werden sollten. Es gibt durchaus Wege und Möglichkeiten, Kinder in Gemeinschaften gesund aufwachsen zu lassen, die viel größer sind als unsere westliche Kleinfamilie.

Hier geht es darum, dass Kinder als das schwächste Glied einer Kette auf drastische Weise die Folgen einer neoliberalen Ausrichtung einer ganzen Gesellschaft spüren müssen. Irgendetwas Gravierendes muss passiert sein in den letzten Jahren, in denen sogenannte Rabeneltern mutiert sind zu sogenannten bildungsbewussten Mitbürgern, die ihr Baby täglich acht Stunden und länger in Kitas „fördern“ lassen.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine Forderung, die wohl für immer eine Forderung bleiben wird. Vereinbarkeit würde bedeuten, dass es einvernehmlich, zum Wohle aller und ohne Widerstände machbar ist, dass Eltern ohne Probleme ihren Berufen nachgehen können und es dem Nachwuchs im Gegenzug an nichts fehlt. Vereinbarkeit hieße, dass vorab verhandelt und eine gute Lösung gefunden wurde, die alle zufrieden stellt. Denn niemand wird bestreiten können, dass sehr unterschiedliche Interessen im Raum stehen. Betriebe wollen die uneingeschränkte Verfügbarkeit (räumlich, zeitlich, kräftemäßig) ihrer Mitarbeiter und zwar so billig wie möglich.

Eltern wollen ihre Ressourcen aufteilen in den Bereichen Familie und betriebliche Arbeit. Kinder wollen ihre Eltern uneingeschränkt (zeitlich, räumlich, kräftemäßig) – je jünger desto mehr. Da stehen sich Betriebe und kleine Kinder in ihren Interessen unvereinbar gegenüber. Wo sind die Konflikte, wo ist die Verhandlung, wo sind die politischen Instanzen? Wo wird darüber gesprochen, was Kinder wirklich brauchen, welches Menschenbild wir postulieren und welches unsere gemeinsamen Erziehungziele sind? Und die wichtigste Frage: Wie kann eine Arbeitswelt aussehen, die sich nach den Bedürfnissen von Familien richtet und nicht umgekehrt?

Diese Diskussion, diese Verhandlungen finden nicht statt.

Stattdessen ist etwas anderes geschehen.

Eltern wurde erfolgreich suggeriert, dass Bildung der Schlüssel für ein erfolgreiches Leben ist. Über PISA, die Allroundwaffe gegen alle Gegner der heutigen „Bildungspolitik“, erfolgte der Zugriff auf Kinder aller Lebensalter und -situationen . So früh wie möglich anfangen, die richtigen Weichen zu stellen, so früh wie möglich die Grundlagen schaffen für eine gelungene Schullaufbahn, weil ja Bildung der Schlüssel ist! Eltern wollen und müssen das glauben, da die Erfahrung, dass ihre eigene Arbeits- und Versorgungssituation (Leiharbeit, Zeitarbeit, Mieten, Renten) immer unsicherer wird, ihre Ängste um ihr eigenes Wohl und das ihrer Kinder immer wachhält.

Alle Eltern wissen, dass in Deutschland der soziale Status der Eltern ausschlaggebend ist für eine Karriere der Kinder – und nicht der Fleiß oder die Begabungen der Kinder. Alle ignorieren diese Tatsache und versuchen (nur) sich in Sicherheit zu bringen, klammern sich an die Vorstellung, dass Schulerfolge das Schlimmste, nämlich den sozialen Abstieg, verhindern werden. Und darum stimmen sie ein , wenn das hohe Lied der ganz frühen Förderung gesungen wird.

Die Bertelsmann Stiftung, meisterlich in Manipulation durch Wort und Tat, hat dann dafür gesorgt, dass Eltern ruhig schlafen können, weil in den Kitas ja das Entscheidende für die Kinder getan wird: Förderung von Anfang an – für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Dagegen kann man einfach nicht sein! Diese Gehirnwäsche hat dazu geführt, dass manche Eltern ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihr Kind erst mit drei Jahren in die Kita geben.

Diese Gehirnwäsche hat dazu geführt, dass in den Kitas altershomogene Gruppen eingerichtet wurden, weil man dann angeblich gezielter fördern kann. Das bedeutet u. a., dass bis zu fünfzehn zweijährige Kinder in eine Gruppe gesteckt werden, die dann ein Jahr lang nicht nach draußen gehen dürfen, weil die Erzieherinnen nicht so viele Kinder anziehen können. Auf die Frage, wie man denn so viele Zweijährige verteilt auf zwei Zimmer mit drei Erzieherinnen fördern würde, antwortet die Leiterin der Kita, dass „die eh noch nicht viel“ könnten und sie ja dann im nächsten Jahr richtig gefördert würden, wenn sie in die neuen Gruppen (der drei- bis vierjährigen Kinder) wechseln .

Falls es jemand vergessen haben sollte: Kinder brauchen Fürsorge, bestes Essen, viel Bewegung an frischer Luft in freier Wildbahn, große und kleine Spielkameraden sowie vertrauensvolle Beziehungen zu Erwachsenen, die sie schützen und ihnen einen altersentsprechenden Rahmen für ihr Spiel und ihre kindlichen Aktivitäten und Initiativen zur Verfügung stellen.

Die obengenannten Bedingungen in Kitas machen Kinder krank, seelisch und körperlich.

Es gibt viele Missstände in den Kitas, über die niemand spricht. Wie kann es sein, dass eine Mutter, die bei herrlichem Sommerwetter ihr zweijähriges Kind eher von der Kita abholen möchte, das Kind nicht mitnehmen darf mit der Begründung, das Kind säße gerade an einer Bildungseinheit. Wieso ist es erlaubt, dass der (ohnehin zu geringe Betreuungsschlüssel) immer unterlaufen wird, weil die Fehlzeiten durch Krankheit, Urlaub und Fortbildung nicht eingerechnet werden.

Das bedeutet, dass jede Kita zu wenig Personal hat! Ein Kind kann nicht vier Stunden warten bis es gewickelt, getröstet oder gefüttert wird, nur weil eine Erzieherin krank geworden ist. Wie kann es sein, dass Erzieherinnen wochenlang allein in Gruppen mit zwanzig 2- bis 6-jährigen Kindern arbeiten? Wieso gehen Eltern nicht auf die Barrikaden, wenn sie derartige Notstände erleben? Wieso decken Leiterinnen solche Zustände? Warum sind die Gruppen so voll, warum so laut, so eng? Wieso können monatelang, jahrelang Bewegungsräume mit Notgruppen belegt werden?
Warum wechselt in manchen Kitas ständig das Personal? Warum müssen in vielen Kitas alle Kinder mittags schlafen, obwohl sie schon viel zu alt dafür sind?

Curriculares Lernen mit entsprechenden Lernkontrollen hat längst Einzug gehalten in Kitas. Es wird nur anders genannt, Bertelsmann sei Dank. Kinder werden danach beurteilt, ob sie in bestimmten Entwicklungsrastern die Zeit einhalten und Fähigkeiten haben, die bis ins Kleinste beschrieben und auf Checklisten abgehakt werden. Eltern erfahren regelmäßig, welche Inkompetenzen und Macken ihrer Kinder noch zu beseitigen sind und gehen mit gesenkten Köpfen aus den Elterngesprächen. Das Wettrennen um die vorderen Plätze hat längst begonnen.

Offensichtlich sind Kinder nicht mehr kleine menschliche Wesen, die besondere Bedürfnisse haben und unsere Unterstützung brauchen. Dass Kinder in ihrem ureigenen Tempo lernen, sich die Welt aneignen über eigene Initiativen, ihre Neugier, ihren Mut und ihren grenzenlosen Optimismus. Man nennt diesen Vorgang auch Spiel. Spiel ist vollkommen zweckfrei, sonst ist es kein Spiel, sondern Arbeit. Spiel und Muße sind Geschwister.

Die Kinder in den Kitas arbeiten heute länger als sie spielen. Das „Fördern“ der Kinder hat nämlich einen Zweck: das Ausmerzen von Defiziten.

Damit Kinder sich entfalten können, brauchen sie Fürsorge, vertrauensvolle, verlässliche Beziehungen, kindgerechte Strukturen und wirksame Erwachsene, die für etwas stehen, was sie Kindern mitgeben möchten. Kinder in ihrer Entwicklung liebevoll, wohlwollend und geduldig zu begleiten steht in keinem Bildungsprogramm der Regierung.

Fürsorge und Liebe sind Begriffe, die noch nicht umgedreht und gegen Kinder gewendet werden konnten, darum sollten wir sie nutzen. Man wird ausgelacht oder als hoffnungslos von Gestern, als unwissenschaftlich oder romantisch abgetan, wenn man in fachlichen oder politischen Diskussionen solche Worte benutzt, um zu beschreiben, worum es eigentlich geht.

Sei‘s drum.

Wie sonst soll man dafür werben, Kinder nicht zu verraten, sondern mit ihnen in echte Beziehung zu gehen, geprägt von Respekt, Vertrauen, Fürsorge und wirklichem Interesse an ihrem Wohlergehen. Daraus kann eine Lobby für Kinder entstehen, die sich tatsächlich für ihre Rechte einsetzt und stellvertretend für sie verhandelt.

Diese Verhandlungen, die bisher sehr geschickt verhindert wurden, müssen endlich kommen, denn weder die Bertelsmann Stiftung noch andere Industrie- und Wirtschaftsverbände haben das politische Mandat, über das Leben unserer Kinder zu verfügen. Die Politik hat es nur, wenn wir ihr als Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, Nachbarn, Erzieher/innnen und Lehrer das Mandat geben.


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