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Das Drehen an der Eskalationsschraube

Das Drehen an der Eskalationsschraube

Die USA riskieren in der Ukraine einen Weltkrieg, europäische Interessen bleiben dabei auf der Strecke. Wichtig ist jetzt, zu prüfen, welche Parteien für eine Chance auf Frieden stehen.

ATACMS und Storm Shadow

Seit etwa einem Jahr gehören neue Begriffe zu unserem Sprachgebrauch, ATACMS und Storm Shadow Raketen etwa musste vorher niemand richtig aussprechen können. Mir kommen sie selbst nur schwer über die Lippen. Sie haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und sind damit auch geeignet, Russland tief im Landesinneren anzugreifen.

Im September 2023 stimmte Joe Biden der Lieferung von mehreren hundert ATACMS-Langstreckenraketen an die Ukraine zu, unter anderem, um sie auf der Halbinsel Krim einzusetzen. Zusätzlich erhielten die Ukrainer von Großbritannien und Frankreich damals schon Lieferungen von Storm Shadow- und SCALP-Raketen. Im folgenden Jahr hat die Ukraine viele dieser Raketen „in einer konzertierten Aktion gegen russische Militärziele auf der Krim und im Schwarzen Meer“ eingesetzt, so die New York Times.

Die Lieferung dieser Waffen an die Ukraine begann mit Selenskyjs Nordamerikareise im September 2023. ATACMS sind auch in der Lage, Streumunition zu transportieren. Was bedeutet das?

111 Staaten haben das Übereinkommen über Streumunition, das „Oslo-Übereinkommen“ ratifiziert. Einsatz, Herstellung, Weitergabe und Lagerung dieser Waffen sind ihnen damit verboten. Streumunition ist aus gutem Grund geächtet: Es geht hierbei um humanitäre Erwägungen und die Sorge um die Zivilbevölkerung in Ländern, die von Krieg und seinen Folgen gezeichnet sind. Der Begriff Streumunition meint „Raketengefechtsköpfe, Artilleriegranaten und Bomben, die jeweils eine hohe Anzahl kleiner Sprengkörper (sogenannte Submunition) enthalten, die nach dem Abschuss oder Abwurf über große Flächen verstreut werden und dort explodieren“ sollen.

„Kanadas Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Ausrüstung hat es uns ermöglicht, Tausende von Leben zu retten“, sagte Selenskyj bei einer Rede vor dem Parlament in der Hauptstadt Ottawa und wurde mit großem Applaus und Jubel gefeiert.

Wie aber sieht das Leben retten dann aus?

„Mindestens fünf Tote und 124 Verletzte auf der Krim“ vermeldete der Spiegel dann am 23. Juni 2024.

„Viele traf es offenbar beim Sonnenbaden: Eine ukrainische Rakete hat in der Hafenstadt Sewastopol etliche Opfer gefordert, darunter drei Kinder. Ein russischer Funktionär warf der Ukraine vor, Streumunition eingesetzt zu haben.“

Laut dem Verteidigungsministerium in Moskau habe die Ukraine fünf Raketen des Typs ATACMS (Army Tactical Missile Systems) abgefeuert — das sind ballistische Kurzstreckenraketen aus US-Produktion.

„Nach Angaben der russischen Armee feuerte die Ukraine fünf Raketen ab, von denen vier von der Flugabwehr über dem Meer abgefangen worden seien“, berichtet der Spiegel im Juni 2024. Sewastopol sei „am helllichten Tag mit ballistischen Raketen mit Streumunition“ angegriffen worden, wird der Gouverneur von Sewastopol, Michail Raswoschajew, zitiert. Trümmerteile der abgeschossenen Raketen seien in der Küstenregion herabgestürzt.

„Von russischen Medien veröffentlichte Videos zeigen Menschen an einem Strand, die nach Explosionen die Flucht ergreifen.“

Die Beschränkungen, nicht tief im Landesinneren anzugreifen, waren damals noch gegeben. Für die USA und Großbritannien sowie deren Raketen gelten diese seit November 2024 nicht mehr.

Besorgniserregende Eskalation

Seit Mitte November haben die USA der ukrainischen Armee den Einsatz von Waffen mit größerer Reichweite genehmigt, um Ziele jenseits der Grenze im russischen Hinterland angreifen zu können.

Erstmals genehmigte US-Präsident Joe Biden den Einsatz von Raketen des Typs ATACMS mit dem Ziel, den ukrainischen Angriff in Kursk zu unterstützen. ATACMS haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und wurden für Angriffe tief im Hinterland, weit hinter den Frontlinien konzipiert.

„Bidens Entscheidung ist ein bedeutender Wandel in der US-Politik“, berichtet die New York Times.

„Über seine Entscheidung sind seine Berater geteilter Meinung, und der Wechsel kommt zwei Monate vor dem Amtsantritt des designierten Präsidenten Donald J. Trump, der versprochen hat, die weitere Unterstützung für die Ukraine zu begrenzen.“

Die Verantwortlichen in den USA sagten, sie würden nicht erwarten, dass die Entscheidung den Verlauf des Krieges grundlegend verändern wird. Das Ziel bestünde darin, die Nordkoreaner abzuschrecken.

Die Entscheidung wurde in den USA mit dem Wissen getroffen, „dass damit eine grundsätzliche Änderung der Lage nicht erreicht wird“, fasst auch Harald Kujat die Situation zusammen. Das bedeutet also, dass „die strategische Lage damit nicht zugunsten der Ukraine gewendet werden kann“.

Einige US-Beamte äußerten die Befürchtung, dass der Einsatz der Raketen durch die Ukraine jenseits der Grenze den russischen Präsidenten Wladimir W. Putin zu einem gewaltsamen Vergeltungsschlag gegen die Vereinigten Staaten und ihre Bündnispartner veranlassen könnte, so die New York Times. Diese Einschätzung „warnte vor mehreren möglichen russischen Reaktionen, darunter verstärkte Brandstiftungen und Sabotageakte gegen Einrichtungen in Europa sowie potenziell tödliche Angriffe auf US-amerikanische und europäische Militärstützpunkte“.

Die Ukraine hat am 19. November russisches Territorium mit US-amerikanischen ATACMS-Raketen beschossen, meldet Reuters, und damit „die kürzlich erteilte Erlaubnis der scheidenden Regierung des US-Präsidenten Joe Biden am 1.000sten Tag des Krieges genutzt“. Einer offiziellen Erklärung Russlands zufolge hätten seine Streitkräfte fünf von sechs Raketen abgeschossen, welche auf eine Militäreinrichtung in der Region Brjansk abgefeuert wurden.

Die Ukraine „feuert erstmals mehrere US-Langstreckenraketen auf Russland ab“, meldet am 19. November die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press. Nach Angaben eines US-Beamten feuerte die Ukraine etwa acht der Raketen ab, von denen nur zwei von den Russen abgefangen wurden. Die Raketen hätten einen Munitionsnachschubstandort in Karatschew, einer Stadt mit etwa 18.000 Einwohnern in der russischen Region Brjansk, getroffen. Karatschew liegt etwa 115 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt.

Es handelt sich um eine gefährliche Eskalation, deren Folgen wir nicht absehen können.

Überarbeitete Nukleardoktrin Russlands

Einen Tag, nachdem die Ukraine sechs der neu zugelassenen ATACMS-Raketen auf ein Munitionslager in der südwestlichen Region Brjansk abgefeuert hatte, erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow, Moskau werde „angemessen“ reagieren.

Stunden zuvor habe Putin eine überarbeitete Nukleardoktrin unterzeichnet, berichtet der Guardian, in welcher die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen herabgesetzt wurde, während russische Abgeordnete davor warnten, dass das Vorgehen der USA den „Dritten Weltkrieg“ näher bringe.

Lawrow betonte, dass der ukrainische Angriff in Brjansk eine Eskalation darstelle, das berichtet die Associated Press am 19. November 2024. Er forderte die USA und andere westliche Verbündete auf, die modernisierte Nukleardoktrin zu prüfen.

„Wenn die Langstreckenraketen vom Territorium der Ukraine aus gegen russisches Territorium eingesetzt werden, bedeutet dies, dass sie von amerikanischen Militärexperten kontrolliert werden, und wir werden dies als eine qualitativ neue Phase des westlichen Krieges gegen Russland betrachten und entsprechend reagieren“, sagte Lawrow am Rande des G20-Treffens in Brasilien, ohne näher darauf einzugehen.

Die Verabschiedung des Dokuments zeige, dass Putin bereit sei, sein Nukleararsenal einzusetzen, um den Westen zum Einlenken zu zwingen, so die US-Nachrichtenagentur.

„Auf die Frage, ob ein ukrainischer Angriff mit US-Langstreckenraketen möglicherweise eine nukleare Reaktion auslösen könnte, bejahte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag die Frage und verwies auf die Bestimmung der Doktrin, die eine solche Reaktion nach einem konventionellen Angriff zulässt, der die ‚Souveränität und territoriale Integrität‘ Russlands und seines Verbündeten Belarus bedroht.“

Putin kündigte die Änderungen an der Nukleardoktrin erstmals im September an. Zuvor hatte er die USA und andere NATO-Verbündete gewarnt, dass es einen Krieg zwischen Russland und der NATO bedeuten würde, wenn die Ukraine vom Westen gelieferte Waffen mit größerer Reichweite einsetzen dürfte, um russisches Gebiet zu treffen.

Die aktualisierte Doktrin besagt auch, dass ein Angriff gegen Russland durch eine nicht-nukleare Macht mit der „Beteiligung oder Unterstützung einer Nuklearmacht“ als „gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation“ betrachtet wird.

In dem Dokument wird zudem darauf hingewiesen, dass eine Aggression gegen Russland durch ein Mitglied eines Militärblocks oder eines Bündnisses als „eine Aggression des gesamten Blocks“ betrachtet wird, was eindeutig auf die NATO verweist.

Großbritannien und Frankreich ziehen mit

Die Ukraine hat zum ersten Mal seit Beginn des Konflikts in Großbritannien hergestellte Storm Shadow-Raketen auf Russland abgefeuert, berichtet der Guardian am 20. November. Einen Tag, nachdem Kiew von den USA gelieferte Langstreckenwaffen für einen Angriff innerhalb Russlands eingesetzt hat, feuert die Ukraine zum ersten Mal in Großbritannien hergestellte Raketen auf Russland ab. Als Begründung verweist das Magazin wiederum auf eine „Reaktion auf die Stationierung von mehr als 10.000 nordkoreanischen Truppen an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine“.

Wladimir Putin habe gewarnt, „dass der Einsatz von Raketen aus US-amerikanischer und britischer Produktion innerhalb der Grenzen Russlands einem direkten Konflikt zwischen der NATO und Moskau gleichkäme“.

Nach den USA und Großbritannien gab Ende November auch Frankreich der Ukraine die Erlaubnis, weitreichende Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet einzusetzen.

Die französische Bezeichnung für baugleiche Raketen des Typs Storm Shadow ist SCALP. Seit Juli 2023 hatte Frankreich wie auch Großbritannien damit begonnen, diese an die Ukraine zu liefern.

Die Entscheidung der USA, den Einsatz von Waffen mit größerer Reichweite tief im Landesinneren Russlands zu genehmigen, könnte nun in Deutschland erneut Druck ausüben auf eine Debatte über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. Die Haltung des Kanzler Olaf Scholz hierzu ist bisher klar: „Wenn wir das täten, wären wir beteiligt an dem Krieg“, so seine Aussage dazu. Ganz anders äußern sich Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck und CDU-Chef Friedrich Merz. Wäre Habeck Kanzler, so würde er Taurus Raketen an die Ukraine liefern. Auch Merz spricht sich generell für die „Option Taurus“ aus. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) stimmte im Bundestag sogar gegen den Kanzler und für den Unions-Antrag zu den Taurus-Lieferungen ab.

Donald Trump und der Plan zur Beendigung des Kriegs

Der designierte US-Präsident Donald Trump hatte im Wahlkampf versprochen, den Ukrainekrieg binnen 24 Stunden zu beenden. Nun hat er den Ex-General Keith Kellogg als seinen Sondergesandten für die Ukraine und Russland nominiert. In Trumps erster Amtszeit war Kellogg bereits als Sicherheitsberater tätig. Bereits im Juni legte Kellogg Trump einen Plan zur Beendigung des Krieges vor.

Kellogg zielte schon damals darauf ab, im Falle von Trumps Wahlsieg Russland und die Ukraine schnell an den Verhandlungstisch zu bringen. Der Plan sieht vor, „die Frontlinien an ihren aktuellen Positionen einzufrieren und die Regierungen in Kiew und Moskau an den Verhandlungstisch zu zwingen“.

„Der Wert eines jeden Plans liegt in den Nuancen und in der Berücksichtigung der realen Situation vor Ort“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gegenüber Reuters.

„Präsident Putin hat wiederholt gesagt, dass Russland offen für Verhandlungen ist und bleibt, unter Berücksichtigung der realen Situation vor Ort.“

Bei seinem Staatsbesuch in Kasachstan am 27. November äußerte sich Präsident Putin zur aktuellen Lage, hier übersetzt von Thomas Röper auf Antispiegel:

„Verschiedene Optionen sind möglich. Wenn der derzeitige Präsident Biden glaubt, dass er durch die Verschärfung der Situation und die Erhöhung des Ausmaßes der Konfrontation Bedingungen für die künftige Regierung schafft, ist es einfach, aus dieser Situation herauszukommen, denn der neu gewählte Präsident wird sagen: ‚Das bin nicht ich, das sind die Leute, die völlig verrückt sind. Ich habe damit nichts zu tun. Lass uns reden.‘ Natürlich ist das eine Option.“

Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, legt im Gespräch mit dem Militäranalysten und Historiker Markus Reisner eine Möglichkeit für den Frieden dar:

„Ich halte das, was sein Stellvertreter, Vance, gesagt hat, für das Naheliegendste. (...) Wir werden sozusagen die Front einfrieren. Wir werden eine demilitarisierte Zone einrichten, links und rechts dieser Front. Die Ukraine wird auf die Gebiete verzichten, die Russland jetzt besetzt hat, die bleiben bei Russland. (…) Die Ukraine wird nicht der NATO beitreten. Und sie wird, und das finde ich eine interessante Formulierung, gegenüber Russland ihre Neutralität erklären. (…) Es gibt einen kritischen Punkt dabei: Das ist diese demilitarisierte Zone. Da sagt Vance: Da werden auf keinen Fall Amerikaner die Überwachung übernehmen, sondern das müssen Europäer machen“ (1).

Einschätzungen von Experten zur gegenwärtigen Eskalation

Im Talk des österreichischen Fernsehsenders Servus TV spricht Moderator Michael Fleischhacker mit Harald Kujat und Markus Reisner über die aktuelle Lage. Das Gespräch ist trotz unterschiedlicher Ansichten von Respekt, Ruhe und Fachwissen geprägt, wie man es sich im deutschen Fernsehen zu dem Thema nur erträumen kann.

„Wir sehen jetzt, dass der Krieg nach über tausend Tagen tatsächlich eine Wendung nimmt, die man im Zusammenhang zu sehen hat mit der sogenannten russischen Sommeroffensive“, berichtet Markus Reisner zur aktuellen Lage.

„Es ist tatsächlich gelungen, die ukrainischen Stellungen an Punkten zu durchbrechen, und tatsächlich vorzumarschieren.“

Die Situation an der über 1.200 Kilometer langen Front spitze sich immer mehr zu. Es sei ein Abnutzungskrieg, und damit verbunden komme „das Dilemma, dass dann die Seite gewinnt, die die besseren Ressourcen hat“. Russland habe „materialseitig den längeren Atem“, bedingt durch seine Ressourcen und seine Verbündeten (2).

Der Moderator fragt Kujat (3), ob er einer massiven, eigentlich uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine zustimme, weil man dort die Sicherheit und die Werte des Westens verteidige, und erhält eine deutliche Antwort:

„Also die westliche Sicherheit wird dort auf keinen Fall verteidigt. Ob die westlichen Werte dort verteidigt werden, da habe ich meine Zweifel. Und das ist auch eigentlich nicht der entscheidende Faktor. Sie (zu Reisner) haben ja einen entscheidenden Faktor vorher genannt. Das ist die Frage der Völkerrechtsverletzung durch Russland. Das ist ja nun eindeutig. Nun haben wir das ja in der Geschichte schon häufiger erlebt, dass andere Staaten völkerrechtswidrig angegriffen wurden, und es hat dann auch immer eine Regelung gegeben. Ob die dann tragfähig war oder nicht. Wir sehen ja heute noch, dass es Staaten gibt, bei denen das nicht geheilt ist, ich nenne jetzt den Irak, oder nehmen Sie Libyen, oder nehmen Sie Syrien. Es muss natürlich eine Regelung geben. Ein Krieg entsteht immer aus einer bestimmten politischen Situation heraus und er führt zu einer neuen politischen Situation. Und wenn diese neue Lage Bestand haben soll, dann muss sie politisch, vertraglich möglichst vereinbart sein.“

Zu der Frage, ob die Grenzen der Ukraine von 1991 wieder herzustellen seien, antwortet Kujat: „Das ist nicht gelungen und wird auch nicht gelingen.“

Aus eigener Erfahrung berichtet er, dass es immer russisches Interesse gewesen war, zwischen NATO und Russland eine Pufferzone einzurichten, um ein Aufeinandertreffen zu verhindern, das habe man ihm Mitte der 1990er Jahre offen gesagt (5).

In Gesprächen bekommen wir derzeit immer wieder zu hören, ein Staat solle doch einfach in die NATO eintreten, wenn Land und Leute das beschließen. Ganz abgesehen von der Thematik des massiven Informationskriegs über Jahrzehnte sowie der versuchten oder vollzogenen Regime Changes, welche hierbei eine zentrale Rolle spielen, wird hier eine grundsätzliche inhärente Eigenschaft der NATO übergangen, was Kujat erklärt:

„Wir müssen uns genau auf Artikel 10 des NATO-Vertrages beziehen. Und da gibt es zwei entscheidende Aspekte. Der erste Aspekt ist der, dass kein Land sagen kann: ‚Ich will jetzt NATO-Mitglied werden‘ und dann wird es NATO-Mitglied. Sondern jedes Mitglied muss von allen Mitgliedstaaten im Konsens dazu eingeladen werden. Und dazu muss dieses Land bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ich habe ja die ersten Beitrittsverhandlungen mit Ungarn, Tschechien und Polen geführt. Das ist eine große Bandbreite von Qualifikationen, die erfüllt werden müssen. Aber die entscheidende ist eigentlich, dass dieses Land einen Mehrwert der Sicherheit für die bestehenden Mitgliedstaaten leisten muss. Die NATO ist ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. (…) Das erste ist, dass das viele NATO-Staaten nicht so sehen. Zweitens, dass sie auch der Meinung sind dass wir nicht nur ein neues Mitglied gewinnen, sondern dass wir mit dieser Mitgliedschaft im Grunde einen Konflikt in die NATO importieren“ (6).

Die Rolle Deutschlands im Ukrainekrieg

Zur Rolle und zur Situation Deutschlands erfahren wir von Harald Kujat mehr im Interview vom 26. November mit Roger Köppel in der Weltwoche.

Der Taurus ist nicht vergleichbar mit Storm Shadows oder ATACMS, betont Kujat, sondern eine völlig andere Kategorie, ein anderes System, und leistungsfähiger von der strategischen Wirkung her:

„Das muss den Leuten klar werden. (…) Diese Entscheidung bedeutet einen grundlegenden Wandel des Krieges. Wenn wir diese Entscheidung treffen, sieht die Welt am nächsten Tag anders aus als davor.“

Außerdem können die Ukrainer Taurus nicht selbst einsetzen:

„Wir müssen die Planung, die Vorbereitung, die gesamte Durchführung dieses Einsatzes in die Hand nehmen. Das heißt: Wir machen den Schritt von der indirekten Kriegsbeteiligung zur direkten Kriegsbeteiligung. Wer das nicht versteht, der hat es nicht verdient, irgendein politisches Amt auszuüben. Und wer dann trotzdem sagt: Wir machen das. Was auch immer die Konsequenzen sind. Auch wenn wir nichts erreichen damit für die Ukraine. Der gehört eigentlich völlig aus der Politik zurückgezogen“.

Es sei nicht nur eine Frage der Inkompetenz oder der Ideologie oder der Ignoranz.

„Es ist im Grunde auch eine sträfliche Verantwortungslosigkeit gegenüber der Sicherheit der eigenen Bevölkerung des eigenen Landes. (…) Das dürfen wir nicht erlauben“ (7).

Der Spielraum eines deutschen Bundeskanzlers sei hierbei „so groß, wie er selbst diesen Spielraum haben will“, das macht Kujat deutlich.

„Ich kann zwei Beispiele dafür nehmen. Das jüngste Beispiel ist der damalige Bundeskanzler Schröder, der gesagt hat, an dem Irak-Krieg nehme ich nicht teil. (…) Wir können schon den Spielraum unserer Souveränität voll ausnutzen“ (8).

Der ehemalige US-Waffen-Inspekteur Scott Ritter (9) spricht im Interview mit Gegenpol am 26. November über den Ukrainekrieg, die Situation in den USA und Deutschland. Ihm zufolge drängen jene Institutionen in den USA, welche „auf der Vorstellung basieren, dass sie in einer feindlichen Beziehung zu Russland stehen“, gegenwärtig „sehr aggressiv darauf, die Situation in der Ukraine sehr kompliziert zu machen, die Beziehungen zwischen den USA und Russland kompliziert zu machen“. Sie versuchen, Trumps Pläne zu durchkreuzen (10).

Mit Bezug auf die Oreshnik Mittelstreckenrakete aus Russland wendet Scott Ritter sich an die Deutschen und spricht eine eindringliche Warnung aus. Deutschland müsse verstehen, wenn die Zeit käme, dass Russland die Entscheidung trifft, Ziele der NATO anzugreifen, werde Deutschland die Hauptlast des russischen Zorns tragen.

„Ramstein, die verschiedenen Luftwaffenstützpunkte, die Amerika mit Ausrüstung anfliegt, Rheinmetall-Fabriken, wo die Taurus-Rakete gebaut wird, wo der Leopard-Panzer gebaut wird, wo der Marder gebaut wird, wo eure Waffen gebaut werden, die in die Ukraine geschickt werden, um Russen zu töten. All das wird zerstört werden, und ihr könnt nichts dagegen tun, nichts. (…) Das ist Deutschland, das buchstäblich Selbstmord begeht auf dem Altar der NATO, im Namen der Ukraine“ (11).

Übertreibt Scott Ritter? Wer sind jene Institutionen, welche Trumps Pläne gegenwärtig zu durchkreuzen versuchen? Wer könnte solche Interessen verfolgen und weshalb? Offensichtlich zu erkennen ist, dass in unseren hoch bezahlten und konzernabhängigen Medien weiterhin der Krieg beworben und Trump beschimpft wird. Wir sollen Trump fürchten, nicht den Taurus. Das wird immer wieder in immer neuen Talkshows mit altem Strickmuster deutlich, und es hatte sich auch während der ersten Amtszeit Trumps ähnlich gezeigt. Es gibt natürlich Profiteure des Kriegs, und das sind immer nur wenige, etwa in der Rüstungsindustrie. Und selbstverständlich gibt es imperiale Interessen in den USA. Wer über Scott Ritters Äußerung gestolpert ist, wird hierzu beispielsweise fündig in dem Buch „Die einzige Weltmacht“ von Zbigniew Brzezinski aus dem Jahr 1997. Für den langjährigen und einflussreichen Sicherheitsberater in den USA war die imperiale Logik unverzichtbar. Er beschreibt es unter anderem so:

„Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen sowie dafür zu sorgen, dass die ‚Barbarenvölker‘ sich nicht zusammenschließen“ (12).

In Deutschland stehen Ende Februar 2025 Wahlen an.

Mir scheint es von zentraler Bedeutung, sich zu diesen Wahlen ein genaues Bild davon zu machen, welche Parteien uns tiefer in diesen Krieg hineinziehen wollen und welche für eine rasche und diplomatische Beendigung stehen.

Unsere Aufgabe ist es, sich nicht von der fortwährenden Kriegspropaganda beeinflussen zu lassen und dem eigenen Gewissen folgend zu denken, zu handeln und auch zu wählen. In diesem Sinne hoffe ich, dass die gegenwärtige Eskalation als heilsamer Schrecken dient, wir als Gesellschaft uns auf unsere tatsächlichen Werte besinnen und die Neuwahlen zum Anlass nehmen, einen friedlicheren Kurs einzuschlagen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Minute 01:00:40 im Talk bei Servus TV
(2) Minute 20:40 im Talk bei Servus TV
(3) Harald Kujat war als Generalinspekteur der Bundeswehr der höchste Offizier Deutschlands. Er war 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses und damit auch des NATO-Russland-Rats.
(4) Minute 24:45 im Talk bei Servus TV
(5) Minute 43:40 im Talk bei Servus TV
(6) Minute 33:19 im Talk bei Servus TV
(7) Minute 36:05 im Weltwoche Interview
(8) Minute 28:10 im Weltwoche Interview
(9) Scott Ritter ist ehemaliger US-Waffen Inspekteur und war im Zusammenhang mit dem Irakkrieg tätig für die Vereinten Nationen.
(10) Minute 08:52 im Interview bei Gegenpol
(11) Minute 05:48 im Interview bei Gegenpol
(12) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien, 2024, Seite 62

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