Am Anfang war die Schuld. Die Geschichte unserer Zivilisation beginnt mit einer Sünde, die uns seit Jahrtausenden den Zugang zum irdischen Paradies verschließt. Seitdem versuchen wir, es besser zu machen. Mehr oder weniger zahm folgen wir den Anweisungen eines strafenden Vatergottes selbst dann noch, wenn nicht einmal mehr gute Taten oder Ablasszahlungen das Tor zur Erlösung öffnen, sondern allein die Hoffnung auf eine Gnade, die nur wenigen Auserwählten zuteil kommen soll.
Es ist die Scham, laut dem amerikanischen Psychiater David R. Hawkins die am niedrigsten schwingende Energie (1), die unser Leben bestimmt. Wir schämen uns dafür, weiß zu sein, „nur“ Mann oder „nur“ Frau oder dafür, den falschen Begriff oder die falsche Endung zu verwenden. Wir schämen uns, wenn es uns schlecht geht, und wir schämen uns dafür, dass es uns vielleicht zu gut geht.
Wir schämen uns für unseren Körper, vor allem für den Schambereich, für unpassende Kleidung oder peinliche Verwandte. Wir schämen uns, wenn wir vermeintlichen Unsinn reden, wenn wir kritisiert werden oder jemanden kränken. Wir schämen uns dann, wenn uns vor anderen Missgeschicke passieren oder wenn wir ein Versprechen nicht einhalten. Wir schämen uns, wenn wir zu viel fliegen, zu viel oder zu wenig essen, zu viel oder zu wenig Sex haben oder sonst wie nicht dem entsprechen, was als „normal“ angesetzt wird.
Zerstörerische Selbstzensur
Auch in meiner Erziehung spielte die Scham eine große Rolle. Sie machte mich gefügig. Ich schämte mich dafür, es den Eltern nicht recht zu machen, in der Schule nur mittelmäßig zu sein und am Daumen zu lutschen. Nie freute ich mich zu früh. Beziehungsweise ich freute mich nur selten. Ich habe kaum Erinnerungen an eine wirklich ausgelassene Freude, ein fröhliches Hüpfen, ein übermütiges Lachen, das nicht mit den Worten gedeckelt wurde: Du bist albern.
So bin ich als Kind meiner Zivilisation durchaus empfänglich für die aktuellen Beschämungskampagnen. Darf ich zum Beispiel in meinen Artikeln Freude zeigen? Darf ich zum Thema Sommer einen Text schreiben, in dem ich den drohenden Hitzetod nonchalent beiseiteschiebe und, anstatt auf die gravierenden Umweltprobleme und ihre eventuellen Lösungen einzugehen, zu sommerlichen Freuden aufrufe (2)?
Darf ich mich, nachdem ich in den vergangenen Jahren Krankheit und Tod erfahren habe, nachdem ich selbst an Krebs erkrankt war und meinen Mann zu Beginn des Jahres nach langer Leidenszeit an diese Krankheit verloren habe (3), nachdem ich alle möglichen Formen existenzieller Sorgen, Trennungen und Verluste erlebt habe, in diesem Sommer einfach so freuen?
Muss ich mich dafür schämen, mit einem Lächeln im Gesicht an einem Grab zu stehen und eine neue Lebenslust zu empfinden?
Durfte Etty Hillesum an den Stacheldrähten von Auschwitz entlanglaufen und trotz des sie umgebenden Grauens eine helle, unbändige und nahezu unerschöpfliche Freude empfinden (4)? Durfte man in Konzentrationslagern singen? Darf man lachen, obwohl anderswo Krieg ist? Darf man frei und unbeherrscht tanzen, während anderswo die Bomben fallen? Oder müssen wir uns beherrschen lassen von woken Moralayatollas, die darüber wachen, dass wir ständig darauf bedacht sind, bloß niemandem auf die Füße zu treten?
Vom Mitleid zur Mitfreude
Müssen wir uns immerzu darum bemühen, alles richtig zu machen, oder können wir es einfach mal gut sein lassen, rausgehen und uns am Leben erfreuen? Meinen wir, anderen sei geholfen, wenn wir uns mit ihnen grämen und fürchten? Glauben wir, Mitleid sei eine gute Sache? Denken wir, wir tun anderen einen Gefallen damit, wenn wir uns selbst nach unten ziehen lassen und ebenfalls niedergeschlagen sind?
Was mir in den dunklen Momenten meines Lebens geholfen hat, waren Präsenz, Verbindung und Verständnis. Doch nicht Mitleid. Wer sein eigenes Licht abdunkelt und erlöschen lässt, der trägt nicht dazu bei, dass etwas besser wird, ebenso wenig wie derjenige, der alles problematisieren muss und ständig anderen auf die Finger guckt, ob sie sich auch korrekt verhalten.
Wenn wir wollen, dass diese Welt besser wird, dann müssen wir uns an der Freude orientieren und nicht am Leid. Das ist gar nicht so schwer. Der Sommer ist eine wunderbare Gelegenheit dafür.
Insekten schwirren, Vögel zwitschern, Wind rauscht leise im Blattwerk. Es fühlt sich leicht an, nicht unerträglich leicht, sondern wundervoll leicht.
Spüren wir uns in diesen Sommertag hinein, in diese laue Nacht, in diesen klaren Sternenhimmel. Ja, wir erleben gerade einen unerhörten Zivilisationswandel. Ja, die Lage ist ernst. Ja, es geht um unser aller Leben. Doch nein, Ohnmacht, Frust, Resignation und Angst bringen uns nicht weiter. Allein die Freude ist der Kompass. Wo sie ist, da geht es lang.
Diese Freude bedeutet nicht Verdrängen oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer, sondern ein Gespür dafür, was uns nach oben zieht. Lassen wir uns anstecken von der Sonne. Machen wir es ihr gleich. Lassen wir es aus uns herausstrahlen. Machen wir uns keinen Kopf darum, ob es anderen gefällt oder nicht. Scheinen wir in die Welt hinaus. Es kann ja jeder selbst entscheiden, ob er in den Schatten geht oder nicht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) David R. Hawkins: Die Ebenen des Bewusstseins. Von der Kraft, die wir ausstrahlen. VAK Verlag 2014
(2) https://zeitpunkt.ch/summertime
(3) https://www.manova.news/artikel/der-anfang-im-ende
(4) https://www.manova.news/artikel/licht-am-ende-des-tunnels-2
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