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Comeback der Denunzianten

Comeback der Denunzianten

Die neueren Gesetzesvorhaben Nancy Faesers erinnern stark an die Verfolgungsbetreuung von Staatskritikern in der Zeit der 68er-Revolte.

Das Spandauer Volksblatt Berlin gehörte zu den Trägern der Deutschen Journalistenschule in München, die Mitte der Sechzigerjahre die einzige ihrer Art war in Deutschland. Gegründet wurde die Schule in der Absicht, den Unterstützermedien gut ausgebildeten journalistischen Nachwuchs zuzuführen.

Nach dem Studium hatte ich die Wahl zwischen der Süddeutschen Zeitung (SZ), dem Mannheimer Morgen und dem Spandauer Volksblatt. Ich entschied mich für Berlin.

Als Volontär erhielt ich die Aufgabe, das „Studio Neue Literatur“ vorzustellen, einen kleinen Verlag, der seinen Sitz an der Oberbaumbrücke direkt an der Mauer hatte. Die Betreiber Bernward Vesper (Triangel) und Gudrun Ensslin hatten gerade den Band „Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe“ herausgegeben, mit Texten von Stefan Andres, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Anna Seghers und vielen anderen.

Nachdem mein Artikel erschienen war, traf ich Gudrun Ensslin in einer der vielen Charlottenburger APO-Theken wieder, wie die Studentenkneipen damals genannt wurden. Sie bedankte sich für meine Unterstützung, und wir verabredeten uns für das nächste Wochenende zum Essen. Am Tag vor dem Treffen sagte sie ab, weil sie mit Freunden nach Frankfurt fahren wollte. Es war die Nacht zum 2. April 1968, als sie, Andreas Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein in den Kaufhäusern M. Schneider und Kaufhof drei Brände legten, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren. „Burn warehouse, burn!“ hieß die Devise. Der Anschlag markierte den Beginn der Roten Armee Fraktion (RAF).

Die vier Brandstifter wurden schnell gefasst. Ich sah Gudrun nie wieder. Aber ihr Gesicht verfolgte mich noch jahrelang. Zusammen mit anderen führenden Mitgliedern der ersten RAF-Generation wie Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Holger Meins oder Jan-Carl Raspe prangte es an jeder Litfaßsäule in Deutschland, an jedem Laternenpfahl und in jeder Polizeiwache. Mit den Jahren wurde ein Foto nach dem anderen auf dem Fahndungsplakat durchgekreuzt, was so viel bedeutete wie: erlegt!

Deutschland befand sich im RAF-Fieber. Die Denunziation hatte wieder Hochkonjunktur. Ich konnte ein Lied davon singen. Wir waren eine Gruppe von sieben Leuten, die sich in Niederbayern einen alten Gasthof gemietet hatten. In der ersten Nacht kampierten wir auf dem Fußboden in der Küche. Als wir morgens aus den Schlafsäcken krochen, stand eine Riege schwer bewaffneter Polizisten vor uns: „AUFSTEHEN! AUSWEISE!“ und so weiter. Die Leute im Dorf hatten uns als Terroristen denunziert, und die schwarzen Gestalten mit den Maschinengewehren im Anschlag waren nur schwer vom Gegenteil zu überzeugen.

Wusstet ihr, dass siebzig Prozent aller Verhaftungen, die von der Gestapo vorgenommen wurden, nicht auf eigenen Recherchen, sondern auf Hinweisen aus der Bevölkerung beruhten?

Diese Information in Verbindung mit den Impressionen, die ich während der RAF-Hysterie sammeln konnte, brachten mich Anfang der Achtzigerjahre auf die Idee für einen Spielfilm namens „JACKPOT“. Ich reichte das Exposé bei der Filmförderungsanstalt in Berlin ein. Im ersten Absatz heißt es:

„JACKPOT ist eine realistische Fiktion. Unter realistischer Fiktion verstehe ich eine Zukunftsperspektive, die sich aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse schon heute abzeichnet. In JACKPOT wird fortgeschrieben, was mit der Datenerfassung längst begonnen hat.“

Der Hintergrund für diese Geschichte ist ebenso schnell erzählt. Ich hatte mir vorzustellen versucht, wie es einem Staat gelingen könnte, das Denunziantentum so spielerisch in die Gesellschaft zu integrieren, dass niemand Skrupel zu haben braucht, wenn er am Nachbarn, unter Freunden oder in der Familie Verrat übt. Das geschieht in JACKPOT über eine staatliche Lotterie, in der jede Woche eine siebenstellige Gewinnzahl ermittelt wird. Pro Runde werden zehn Millionen — Mark, Euro, Dollar, egal — ausgeschüttet. Sollte sich kein Gewinner finden, erhöht sich der Jackpot automatisch um weitere fünf Millionen. In unserem Fall ist die auszuschüttende Summe auf achtzig Millionen angeschwollen. Das Land liegt im Jackpot-Fieber. Die Spielregeln besagen, dass der Gewinner des Jackpots lediglich 50 Prozent des Gewinns ausbezahlt bekommt. Die anderen 50 Prozent erhält er, wenn es ihm gelungen ist, das ihm ausbezahlte Geld innerhalb eines Jahres unerkannt auszugeben.

Der Reiz der Lotterie besteht darin, dass jeder Teilnehmer im Spiel bleibt, und zwar über die sogenannte Tipp-Stimme. Mit dieser Stimme kann er der Zentrale melden, wenn jemand in seinem Umfeld verhaltensauffällig geworden ist. Allerdings muss der Denunziation immer eine Begründung beigefügt werden. Diese Begründungen sind es letztlich, mit denen die Persönlichkeitsprofile gemästet werden, die der Staat von seinen Bürgern anlegt. Wer mit seinem Tipp richtigliegt, bekommt den gesamten Betrag ausbezahlt, der eigentlich dem Gewinner zugestanden hätte, welcher — Risiko! — nun verpflichtet ist, die ausgegebene Summe der Zentrale zurückzuerstatten.

In JACKPOT wird die Geschichte eines Gewinners erzählt, der von potenziellen Denunzianten umgeben ist und versucht, unter ihnen ein gewonnenes Vermögen auszugeben, ohne aufzufallen. Es wird das Bild einer sich selbst zerfleischenden Gesellschaft gezeichnet, in der Angst, Neid und Missgunst alles an zwischenmenschlicher Kommunikation zertrümmern, was ein friedliches Miteinander möglich macht.

Nach Monaten des Wartens fand ich folgenden Bescheid der Filmförderungsanstalt in meinem Briefkasten:

„Der Antrag auf Zuerkennung von Förderungshilfen (Zuschuss zur Herstellung eines Drehbuchs) für das Projekt PD 306/85 JACKPOT wird abgelehnt. Der Bescheid ergeht gebührenfrei. Begründung: Jackpot ist eine zu kleine Geschichte, um für einen abendfüllenden Spielfilm auszureichen. Zudem stellt die Kommission fest, dass Jackpot keine realistische Fiktion ist. Die Geschichte ist grässlich überzogen und viel zu unglaubwürdig. Die Ablehnung der Kommission erfolgte einstimmig.“

Na ja, 24 Jahre später ist der Begriff „realistische Fiktion“ durchaus angebracht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat ein „Gesetz zur Deradikalisierung der Republik“ in Vorbereitung, wie die Bild-Zeitung im Oktober letzten Jahres berichtete. Die SZ nannte den Plan eine „Lizenz zum Anschwärzen“. Faesers Entwurf sieht vor, dem Verfassungsschutz deutlich mehr Macht zu geben. Künftig sollen die Schlapphüte ihre Erkenntnisse an Unternehmen und Privatpersonen weitergeben dürfen, wenn sich ein Bürger radikaler Ansichten verdächtig gemacht hat. Heißt:

Sucht eine bespitzelte Person eine Wohnung oder einen Job, dann hätte der Verfassungsschutz das Recht, ihn beim potenziellen Vermieter oder Arbeitgeber anzuschwärzen. Genau das war bislang nicht möglich. Der Verfassungsschutz konnte zwar die Polizei über konkrete Anschlagspläne einzelner Personen informieren, Infos über politische Ansichten, die gegen kein Gesetz verstoßen, mussten die Geheimdienstler aber für sich behalten.

Dass die EU gerade beschlossen hat, Kritik an dem Gender-Wahnsinn mit Terrorismus und Menschenhandel gleichzustellen, ist ebenfalls mehr als eine realistische Fiktion, die aber noch vor wenigen Jahren von der Filmförderungsanstalt als grässlich überzogen, unglaubwürdig, zu klein und zu unbedeutend eingestuft worden wäre.

Das Problem von uns Schreibern ist, dass wir vorgreifen müssen, wenn wir auf gesellschaftspolitische Entwicklungen und Gefahren hinweisen wollen. Aber selbst ein Science-Fiction-Autor sieht die Realität sehr schnell im Rückspiegel auf die Überholspur wechseln.


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