„Ein zentraler Vorwurf ist hier das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung, das ein Kriegsverbrechen nach Art. 8 Abs. 2 b) xxv) Rom-Statut darstellt“, schreibt Legal Tribune Online/LTO am 21. November 2024 (1).
Der hervorragende Publizist Gideon Levy von der israelischen Tageszeitung Haaretz hat diesen rabenschwarzen Umstand so charakterisiert:
„Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wird dieses Jahr nicht der Zeremonie zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz beiwohnen, weil zu befürchten steht, dass er infolge des vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen ihn erlassenen Haftbefehls festgenommen werden könnte. Diese bittere und nicht gerade unauffällige Ironie der Geschichte beliefert uns mit einem surrealistischen Knotenpunkt, den man bis zuletzt kaum zu imaginieren vermochte. Man stelle sich bloß vor, Netanjahu landet in Krakau, gelangt zu den Toren von Auschwitz und wird unter dem Schild ‚Arbeit macht frei’ von polnischen Polizisten festgenommen (…) Die Tatsache, dass von allen Plätzen der Welt Auschwitz der erste Ort ist, den Netanjahu aus Furcht meidet, ist zutiefst symbolisch und strotzt auch vor historischer Gerechtigkeit.“ (2)
Beim Vorwurf des Völkermordes, des Genozids, geht es nicht um eine Einzigartigkeit, sondern um seine Genese.
Über Auschwitz, das Warschauer Ghetto und Gaza
Ende 2023 hat Südafrika in Den Haag den Vorwurf des Völkermordes gegen den Staat Israel erhoben. Der Klage, die sich auf den Vernichtungskrieg in Gaza bezieht, haben sich viele Länder angeschlossen.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) behandelt schwere Verbrechen, die Staaten verüben. Dazu gehört insbesondere der Vorwurf, einen Genozid zu begehen. Dabei geht es um materielle, generalisierende Elemente, die einen Völkermord substantiieren:
- Die systematische Entmenschlichung des Gegners
- Der Vernichtungswille (totaler Sieg) gegenüber einem (Groß-)Teil der Bevölkerung
- Die Missachtung von nationalem und internationalem Recht
- Die Geplantheit eines Menschheitsverbrechens
Zu Punkt Eins: Die systematische Entmenschlichung des Gegners
Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant wusste bereits am 9. Oktober 2023, gegen wen man kämpft:
„Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“
Diese Form der Entmenschlichung ist nicht neu, sondern zieht sich durch alle israelischen Kriegsrethoriken der letzten Jahrzehnte. Arundhati Roy fasst dies in ihrer Rede zur Annahme des PEN-Pinter-Preises 2024 zusammen:
„Wie jeder Staat, der ethnische Säuberungen und Völkermord in der Geschichte durchgeführt hat, haben Zionisten in Israel, die sich für ‚das auserwählte Volk‘ halten, Palästinenser entmenschlicht, bevor sie aus ihrem Land vertrieben und ermordet wurden. Premierminister Menachem Begin nannte Palästinenser ‚zweibeinige Tiere ’, Yitzhak Rabin nannte sie ‚Heuschrecken’, die ‚zerquetscht werden könnten’ und Golda Meir sagte: ‚Es gab keine solche als Palästinenser’. (…) Nachdem diese zweibeinigen Tiere, Heuschrecken, Hunde und nicht existierenden Menschen ermordet, ethnisch gereinigt und ghettoisiert worden waren, wurde ein neues Land geboren. Es wurde als ‚Land ohne Menschen für Menschen ohne Land‘ gefeiert. Der atomar bewaffnete Staat Israel sollte als militärischer Außenposten und Tor zum natürlichen Reichtum und den Ressourcen des Nahen Ostens für die USA und Europa dienen. Ein schöner Zufall von Zielen und Vorgaben.“
Zu Punkt Zwei: Der Vernichtungswille (totaler Sieg)
„Die amtierende israelische Ministerin für Soziales und Frauen, May Golan, sagte vor einigen Jahren über sich selbst, sie sei eine stolze Rassistin. Sie hetzt nicht nur rassistisch gegen Menschen aus afrikanischen Ländern, die sie als Kriminelle und Vergewaltiger beschimpft.
Die israelische Militäroperation, die seit dem 7. Oktober 2023 im Gazastreifen stattfindet, hat nach Einschätzung der UNO-Entwicklungsagentur UNDP die schwersten Zerstörungen einer Region seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht (…).
In Bezug auf diese Zerstörung, die sie und ihre Ministerkolleg:innen zu verantworten haben, sagte May: ‚Ich bin stolz auf die Ruinen in Gaza‘“, zitiert die Rechtsanwältin Rana Issazadeh (3).
„Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist (…) Wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen.“, so Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober 2023.
Israels Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich stolz als Faschist bezeichnet, sagte am 5. August 2024 auf einer Konferenz des Mediums Israel Hayom im Interview:
„Es ist gerechtfertigt und moralisch vertretbar, zwei Millionen Zivilisten (in Gaza) auszuhungern. Aber die Welt lässt uns nicht.“
Zu Punkt drei: Die Missachtung von nationalem und internationalem Recht
„Der amtierende israelische Minister für die Nationale Sicherheit Israels, Itamar Ben-Gvir, wurde von einem israelischen Gericht wegen Volksverhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung rechtskräftig verurteilt. Ben-Gvir ist Vorsitzender der Partei Otzma Yehudit, ideologische Nachfolgerin der Kach-Partei. Die Kach-Partei war nicht nur offen faschistisch, sie verübte auch Anschläge gegen Palästinenser:innen und wurde verboten. Ben-Gvir lebt in einer Kolonie (Kolonien werden in Deutschland in euphemistischer Weise als ‚Siedlung‘ bezeichnet) im von Israel illegal besetzten Westjordanland.
In einer Ansprache im Oktober diesen Jahres verkündete er, dass Gaza zu Israel gehöre, dass Israel die Palästinenser:innen ethnisch säubern und die jüdischen Israelis das Land kolonisieren werden. Im April diesen Jahres ließ er als zuständiger Minister eine spezielle Polizeieinheit bilden, um gegen linksgerichtete jüdische Israelis vorzugehen, die ihre Solidarität mit Palästinenser:innen zum Ausdruck bringen.
Israel ist also bereits mitten in einem Prozess der Faschisierung. Die israelische Gesellschaft ist so weit nach rechts gerückt, dass offen faschistische Positionen nicht nur ausgesprochen werden können, sondern sogar Mehrheiten finden und in der Regierung sitzen“, so Rana Issazadeh.
Der amtierende israelische Finanzminister Bezalel Smotrich verbirgt seine faschistische Gesinnung nicht. In ihr existiert kein palästinensisches Volk. Das ist in Israel keine „extremistische“ Position, sondern mittlerweile die Mehrheitsmeinung im Kriegskabinett und in der Bevölkerung.
Zu den Staatsverbrechen gehören „Handlungen schwerer, willkürlicher Gewalt, sexuelle Übergriffe, Demütigung und Erniedrigung, absichtlicher Hunger, erzwungene unhygienische Bedingungen, Schlafentzug, Verbot und Strafmaßnahmen für religiöse Handlungen, Verweigerung einer angemessenen medizinischen Behandlung. B'Tselem fügte hinzu, dass sich die Zahl der Palästinenser, die in israelischen Gefängnissen festgehalten wurden, seit Beginn des Krieges gegen Gaza auf 9.623 verdoppelt hat.
„Wir appellieren an alle Nationen und an alle internationalen Institutionen und Gremien, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Grausamkeiten, die das israelische Gefängnissystem den Palästinensern auferlegt hat, sofort zu beenden, und um das israelische Regime, das dieses System betreibt, als ein Apartheidregime anzuerkennen, das ein Ende haben muss, schloss die Gruppe”, schreibt aljazeera am 6. August 2024.
„Alle reisen nach Tel Aviv und betteln, dass sie es sein lassen sollen, (…) so viele Menschen zu töten. Wie viele sind zu viel? Was ist die Messlatte? Netanjahu hört auf niemanden mehr. Die Menschen sollen evakuiert werden. Wohin denn? Zum Mond?“, äußerte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gegenüber Euronews am 13. Februar 2024.
Zu Punkt Vier: Die Geplantheit eines Menschheitsverbrechens
Der vor Kurzem entlassene israelische ‚Verteidigungs‘minister Joaw Galant sagte am 9. Oktober 2023, also zu Beginn des Krieges in Gaza:
„Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“
„Ich möchte der Welt sagen, was man über mich in Israel längst weiß: Gaza ist mir egal. Gaza ist mir im wahrsten Sinne egal. Sie können im Meer schwimmen gehen“, sagte May Golan, Ministerin für die Förderung des Status von Frauen von Israel, am 13. Oktober 2023 im Interview mit ILTV.
„Epidemien in Gaza sind gut für Israel! ‚Schließlich werden schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens den Sieg Israels erleichtern und die Zahl der Todesopfer unter den IDF-Soldaten verringern‘, schrieb er diese Woche wörtlich in der Zeitung Yedioth Ahronoth. (…) ‚„Und nein, es ist keine Grausamkeit ihnen gegenüber‘, betonte er, als ob jemand so etwas hätte denken können. In Wirklichkeit sei es seltene Freundlichkeit und Menschlichkeit, da sie ja israelische Menschenleben retten würde. Giora Eiland, mit diesem Vorschlag gleichzeitig in der Rolle von Mutter Theresa, in der Rolle eines Offiziers und eines Gentlemans in der moralischsten Armee der Welt, machte einen klaren Nazi-Vorschlag — aber in der Bevölkerung brach trotzdem kein Sturm aus!“
Das sagte der ehemalige Leiter der Operations- und Planungsabteilung des Militärs und Chef des Nationalen Sicherheitsrats Giora Eiland.
„Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen“, so Premierminister Netanjahu am 8. Oktober 2023.
Der amtierende israelische Finanzminister Bezalel Smotrich sagte im letzten Jahr über sich selbst, er sei ein Faschist. Teil seiner faschistischen Ideologie ist die Überzeugung, ein palästinensisches Volk existiere nicht.
Als Finanzminister ist er auch für das illegal besetzte Westjordanland zuständig und forciert die Kolonialisierung massiv. Diese Haltung teilt er mit vielen Ministerkollegen — eine Haltung, die seit Langem existiert und nun planvoll umgesetzt wird.
Ariel Kallner ist Knesset-Abgeordneter der Regierungspartei Likud und twitterte/x-te am 7. Oktober 2023:
„Jetzt gibt es nur ein Ziel: Nakba! Ein Nakba in Gaza, die die Nakba von 48 in den Schatten stellen wird.“
Wie nahe kommt man der Vergangenheit?
In Erich Fried sehen viele von uns einen behutsamen und feinsinnigen Mann. Wir waren in den 1970er und 1980er Jahren nicht besonders poetisch. Gedichte, Romane und sonstige schöne Künste interessierten mich nicht. Dennoch gab es Ausnahmen. Dazu zählte Peter-Paul Zahl mit seinen köstlichen „Schelmenromanen“.
Und ganz besonders Erich Fried. Ich habe ihn auf Teach-ins in den 1970er Jahren kennen gelernt. Es war eine sehr aufgewühlte, wilde, aber auch hoffnungsvolle Zeit. Fast jede Woche gab es ein Teach-in, zu Hausbesetzungen, zu Betriebskämpfen, Befreiungsbewegungen, zu Chile, wo 1972 eine Militärdiktatur „die Demokratie im Blut baden“ wollte. Es ging also um Frankfurt, um Santiago de Chile, um Kapitalismus und Refaschisierung, um Diktatur und Revolution.
Neben den vielen Reden, die sich um Analysen und Strategien drehten, kam auch Erich Fried zu Wort. Er unterbrach den zum Teil großspurigen Redefluss und brillierte mit ganz knappen Gedanken und Wendungen — eine Art Explosionszeichnung.
Dann verlor ich ihn aus den Augen. Ein glücklicher Zufall führte mich zu einem Gedicht aus dem Jahr 1988. Damals war für uns Palästina weit weg — und — um ehrlich zu sein, zu schwierig. Denn kaum ein Land ist so weit weg und so nah an deutscher Geschichte — wie Israel — und Palästina.
Soweit ich das gut rekapitulieren kann, blieben wir ab den 1980er Jahren hin- und hergerissen zwischen Israel, als Land der Überlebenden der Shoa, der Kibbuzim und sozialistischen Träume, und Palästina, als Ort des antikolonialistischen, bewaffneten Kampfes gegen die Besatzung.
Können Opfer den Tätern ähnlich werden?
Die Frage zu stellen, ob der Staat Israel ein notwendiger Ort ist, um die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen, oder ein Staat ist, der mit dem Verweis auf den Holocaust nicht nur die nationalen Staatsgründungs„opfer“ wie Vertreibung und Homogenisierung rechtfertigt, sondern darüber hinausgehen „darf“, war für uns ein inneres Tabu.
Erich Fried tat dies 1988 mit nachstehendem Gedicht. (4) Wenn wir dieses Gedicht mit den Augen und dem Wissen von heute, mit dem Vernichtungskrieg in Gaza ab 2023 lesen, dann spüren wir, wie nah uns das kommen muss, was man auch vor dem „7. Oktober“ 2023 wissen konnte, also lange vor dem „7. Oktober“ angelegt war.
Ein Jude an die zionistischen Kämpfer
Was wollt ihr eigentlich?
Wollt ihr wirklich die übertreffen
die euch niedergetreten haben
vor einem Menschenalter
in euer eigenes Blut
und in euren eigenen Kot?
Wollt ihr die alten Foltern
jetzt an die anderen weitergeben
mit allen blutigen
dreckigen Einzelheiten
mit allem brutalen Genuss
der Folterknechte
wie unsere Väter sie damals
erlitten haben?
Wollt jetzt wirklich ihr
die neue Gestapo sein
die neue Wehrmacht
die neue SA und S.S.
und aus den Palästinensern
die neuen Juden machen?
Aber dann will auch ich
weil ich damals vor fünfzig Jahren
selbst als ein Judenkind
gepeinigt wurde
von euren Peinigern
ein neuer Jude sein
mit diesen neuen Juden
zu denen ihr
die Palästinenser macht
Und ich will sie zurückführen helfen
als freie Menschen
in ihr eigenes Land Palästina
aus dem ihr sie vertrieben habt
oder in dem ihr sie quält
ihr Hakenkreuzlehrlinge
ihr Narren und Wechselbälge
der Weltgeschichte
denen der Davidstern
auf euren Fahnen
sich immer schneller verwandelt
in das verfluchte Zeichen
mit den vier Füßen das
ihr nun nicht sehen wollt
aber dessen Weg ihr heut geht!*
(Erich Fried, 1988)
Wenn ich seine Worte lesen, fühlen kann und mit den zahllosen Bildern und Videosequenzen aus Gaza abgleiche, dann kann ich sehr gut verstehen, dass das Warschauer Ghetto, die Niederschlagung des Aufstandes, an das heranreicht, was die Menschen in Gaza erleben — was wir mit dem Verweis auf die Einzigartigkeit dieser Verbrechen nicht erträglicher machen können.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Details zu den Haftbefehlen gegen Netan¬jahu und Galant, Dr. Franziska Kring, LTO vom 21. November 2024: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/internationaler-strafgerichtshof-was-bedeuten-die-haftbefehle-gegen-netanjahu-galant-hamas-fuehrer
(2) Netanjahu wird nicht in Auschwitz sein, Gideon Levy, Haaretz vom 22. Dezember 2024: https://www.haaretz.co.il/opinions/2024-12-22/ty-article-opinion/.premium/00000193-ea42-d17a-a193-fb639ffb0000
Israel, Netanjahu und der Auschwitz-Gedenktag, Moshe Zuckermann, Overton vom 28. Dezember 2024: https://overton-magazin.de/top-story/israel-netanjahu-und-der-auschwitz-gedenktag/
(3) Rana Issazadeh, Rechtsanwältin für internationales Recht: https://www.facebook.com/rana.issazadeh
(4) Ein Jude an die zionistischen Kämpfer, Erich Fried, 1988: https://www.no-to-nato.org/2023/12/ein-jude-an-die-zionistischen-kampfer-erich-fried-1988/
sowie
Wer hat zum x-ten Mal angefangen? Gaza — ein Gefängnis ohne Wärter, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/10/16/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/
Der eliminatorische Nationalismus. Zwischen Krieg und Krieg in Gaza um Palästina, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/11/29/der-eliminatorische-nationalismus-zwischen-krieg-und-krieg-in-gaza-um-palaestina/