Kaum hatte sich der Sänger Gil Ofarim über ein soziales Netzwerk an seine Anhängerschaft gewandt, rollte der Shitstorm auch schon an. Ofarim soll in einem Leipziger Hotel antisemitisch abgekanzelt worden sein. Sein Vorwurf hat sich später nicht bestätigt, im Gegenteil, an seinen Schilderungen gibt es starke Zweifel. Aber in diesen ersten Stunden formierte sich die Wut, beschwor erneut den Rechtsruck in der Gesellschaft — und ja, viele waren sich ganz sicher, dass es so passiert sein muss, denn immerhin habe sich die ganze Affäre in Sachsen abgespielt.
In jenem Freistaat, in dem es vor Nazis nur so wimmelt, kann es gar nicht anders geschehen sein. Sachsen sind uns doch bekannt. Ihr Dialekt, ihre Montagsdemos, Pegida, und dann wählen sie, wie andere Ostdeutsche auch, bevorzugt die AfD. Immer meckern sie, haben Einwände, fühlen sich nicht gehört und um ihre Lebensleistung getrogen. Sachsen leben im Gestern. Das sage nicht ich, das ist die gefühlte Wirklichkeit einer Republik, die Ostdeutschland — trotz ostdeutscher Ex-Bundeskanzlerin, trotz eines ehemaligen ostdeutschen Bundespräsidenten — immer noch kolonialistisch die Sichtweise auf die Geschichte vorgibt. Es wird Zeit, dass wir dieses Sächsische als Segen betrachten.
Sächsische Grundverstimmung
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Gesprächsrunde des Deutschlandradios teil. Es ging um die Ereignisse in Chemnitz. Dort soll es einen Mob gegen Flüchtlinge gegeben haben. Mit dabei damals: Historiker Norbert Frei, Publizistin Liane Bednarz und FAZ-Journalist Peter Carstens. Schnell kam man auf Carstens’ am selben Tag erschienenen Artikel zu sprechen. In dem ging es um die sächsische Grundverstimmung, die 200 Jahre zurückliege. Als Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Preußentum quasi habe man dieses Gefühl bis heute bewahrt. Eine Viertelstunde, just ein Drittel der Gesprächszeit, rang die Runde dann um die Sachsen, die man jetzt am besten per Bundeszwang und mit der fortwährenden Vermittlung westlicher Werte in den Griff bekommen sollte.
Ich merkte schüchtern und in dieser Runde irgendwie verloren an, dass der Rechtsruck nicht nur in Sachsen zu beobachten sei — und dass hier der Besserwessi einen Bundesmoralismus pflege: Keiner in unserer netten Runde kam nämlich aus dem Osten.
Indes wurde viel von Nazis gesprochen. Von den normalen Bürgern, die sich zum Beispiel auch in Chemnitz dazugesellten — aber eben nicht nur dort, sondern auch bei Demonstrationen gegen Sozialabbau —, sprach man hingegen nicht. Erst nach einer geschlagenen halben Stunde kamen die Sozialpolitik als eine mögliche Ursache aufs Tapet, die Agenda-Politik und die Verunsicherung zur Sprache. Norbert Frei ließ die Agenda-Politik jedoch nicht gelten, sie sei zu lange her. Die 200 Jahre des währenden Sachsenkomplexes ließ er als Motiv hingegen durchgehen — 15 Jahre Sparpolitik und soziale Unfairness in der jüngeren Vergangenheit allerdings nicht.
Der koloniale Sieger der Wiedervereinigung, der Westen nämlich, hat die Gemütslage der Sachsen und der Ostdeutschen ganz generell historisiert.
Dass sie aufmüpfig sind und sich nicht einordnen ins brave Deutschland mit seinen neuen weltoffenen Werten, seinen woken Vorstellungen und campy — nach Susan Sontag — Attitüden: Ganz gewagte Thesendrescher schieben das den alten Preußen unter, aber Standardanschauung in diesem Lande ist doch: Die Sozialisten haben diese Leute verbockt, für jedes Zusammenleben verkorkst.
Jammerwessi und Besserossi
Ist das so? Kann man diesen Umstand nicht genau andersherum bewerten? Ich neige häufig dazu, die Ostdeutschen eben nicht als Fremdkörper mit gefährlichen Tendenzen zu sehen, sondern als letzte Bastion des Widerstands gegen einen Zeitgeist, der drauf und dran ist, die menschliche Empfindungswelt und die Wahrnehmung einzuhegen. Lange hat man von einem Meinungskorridor gesprochen, innerhalb dessen man sich bewegen dürfe. Die Wahrheit ist aber, dass ein Korridor ganz schön viel Bewegungsfreiraum lassen müsste. Schon längst arbeiten Medien, Politik und Wirtschaft an einem Meinungsnadelöhr. Und durch dieses Nadelöhr passt kein Kamel, egal was in der Bibel steht.
Die Auffassung, wonach die Ostdeutschen ein Fremdkörper innerhalb dieses Deutschlands sein sollen, nennt der Autor und Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch „Die Übernahme“ schlicht „die Konstruktion der Ostdeutschen“, wobei er schon alleine den Begriff ostdeutsch nur verwendet, weil der sich so etabliert hat. Denn was ostdeutsch ist und was nicht, gerade auch unter dem Aspekt, dass viele aus dem Osten in den Westen und andere aus dem Westen in den Osten zogen, macht doch recht nachdenklich darüber, ob es so klare Trennungsmerkmale noch geben kann. Dass der Ostdeutsche als der „Andere“ in die gesamtdeutsche Gesellschaft „integriert“ wurde, daran hegt Kowalczuk aber keinen Zweifel.
So hat sich zum Beispiel der frühere westdeutsche Historiker und Medienliebling Arnulf Baring um einen eindimensionalen Blick auf die Ostdeutschen verdient gemacht. Er warnte bei der Wiedervereinigung dringend vor der „Verwahrlosung“ des neu entstehenden Deutschlands, denn im Osten gearbeitet zu haben, so meinte er, sei wohl ungeheuer bequem gewesen, weil man eigentlich nichts zu tun hatte. „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt“, analysierte Baring und ergänzte weiter, dass die DDR „hirnlose Rädchen im Getriebe (...) willenlose Gehilfen“ benötigte — außerdem seien viele Menschen „wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar“. Kowalczuk übersetzt diese letzte Passage mit anderen Worten so: Ostdeutsche waren für Baring offenbar „Ausschuss“.
Baring war dabei nur die prominenteste, die sich am intellektuellsten gebende Stimme, die das „westdeutsche Selbstbild im Spiegel ostdeutscher Konstruktionen“ schadlos hielt. All diese westdeutschen Vorurteile haben das Klima in dieser Republik über Jahre geprägt und zum Teil auch vergiftet.
Natürlich sind sich West- und Ostdeutsche in den letzten drei Dekaden nähergekommen. Aber final merkt man an den politischen Debatten immer noch, dass es einen westdeutschen Hang dazu gibt, Ostdeutsche als Querulanten, Jammerlappen und Hassfratzen einzuordnen.
Das hat sich in den Jahren seit der Wiedervereinigung schließlich als recht bequeme Einstellung erwiesen, um gar nicht erst auf die Anliegen der Ostdeutschen eingehen zu müssen.
Hochgradig sächsy!
Dabei wäre eine ganz andere Lesart der letzten Jahre der DDR möglich. Damals gingen eben nicht „willenlose Gehilfen“, „Rädchen im Getriebe“ und „nicht weiter verwendbare“ Dummköpfe auf die Straße, um für einen anderen Staat, mehr Freiheitsrechte und politische Teilhabe zu demonstrieren, sondern es waren im klassischen Sinne autonome Staatsbürger, die sich formiert haben. Menschen also, die sich eine diesem Staat diametral entgegengesetzte Meinung bildeten, die sich organisierten, friedlich trafen, später friedlich demonstrierten und sich als absolut mündige Wesen mit politischem Gespür erwiesen.
Für Botschaften zwischen den Zeilen war man im Osten stets sensibilisiert. Die Rockmusik der DDR wurde natürlich kontrolliert und bei Bedarf zensiert, aber immer blieben an sich unverdächtige Zeilen im Songtext erhalten — und das Publikum wusste sehr wohl, was damit gemeint sein könnte.
Der Staat machte die Leute nicht per se dumm, wie Baring und andere das nach 1989 der westdeutschen Öffentlichkeit verklickerten: Er sensibilisierte sie, kitzelte deren Geist und Widerstandskraft, schuf erschwerte Bedingungen, in denen man als politisch tickender Zeitgenosse nur überlebte, wenn man mit Bauernschläue und Bildung aufwarten konnte.
Wenn ich heute Proteste im Osten sehe, selbst jene Leute, die in Dresden bei Pegida mitmischen, dann denke ich nicht in erster Linie an Rechtsradikale, sondern an Bürger, die sich trauen, gegen einen Staat, der ihnen vorgibt, was sie denken sollen und was lieber nicht, aufzustehen — und die das aus ihrer historischen Erfahrung heraus tun. Auch wenn es unpopulär ist. Ob diese Menschen mit ihrer Angst vor der Überfremdung recht haben oder nicht, spielt für mich nur eine untergeordnete Rolle.
Mir ist wichtig, dass sie ein Grundrecht in Anspruch nehmen. Dass sie es tun, halte ich nicht, wie das „westdeutsche Spiegelbild“ es gerne publiziert, für ein Anzeichen des Rechtsruckes: Für mich beweist es, dass die Demokratie hier wirkt. Denn Bürger dieses Landes dürfen eine Meinung haben, auch eine falsche. Und die dürfen sie auf die Straße tragen — alles andere halte ich für Gegenaufklärung.
Insofern ist Sächsisch, die ostdeutscheste aller Mundarten, das Sinnbild des Ostdeutschen schlechthin, wie es die Lederhose im Ausland für das Deutsche allgemein ist, gar nicht mal so unsexy, wie man das zuweilen in chauvinistischen Umfragen zu Dialekten erklärt.
Sächsisch ist sexy, weil der Mut, sich auch eine Meinung neben dem Mainstream zu erlauben, einen gewissen Sexappeal hat: Nämlich die Anziehungskraft der Demokratie.
Dass sich dieser Mut immer wieder mal in Ostdeutschland zeigt, ist keine Schande für den Osten, sondern im Grunde nur ein Beleg dafür, wie eingeschlafen das Westdeutsche mittlerweile ist — und wie verdammt unsexy.
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