Liebe Freundinnen, liebe Freunde. Um Putins Rolle in der Machtstruktur, in der Politik Russlands richtig einordnen zu können, reicht es nicht, ihn als „KGBtschik" kleinreden zu wollen, ebenso wenig ihn als demokratisch gewählten Präsidenten zu verharmlosen, noch weniger allerdings ihn als Faschisten zu dämonisieren, wie es gegenwärtig in unseren Medien geschieht, die Wladimir Putin als jemand darstellen, der Russland in den Faschismus führe und durch Regime Change abgelöst werden müsse.
Nichtsdestoweniger muss man sich diesen Fragen irgendwie nähern und versuchen, Kriterien zu finden, wer Putin ist, wer er war und wer er sein könnte. Notwendig ist daher zunächst, einen kurzen Blick auf die russische Geschichte zu werfen, um zu erkennen, welchen Platz Putin jetzt darin einnimmt. Das können in der Kürze dieses Vortrags natürlich nur Stichworte sein. In diesem Sinne soll jetzt Folgendes sehr knapp skizziert werden.
Elemente der russischen Realität
Erstens: Russland ist nicht Europa. Entgegen allem, was dazu geschrieben wird, ist Russland nicht Europa. Aber Russland ist auch nicht Asien.
Russland ist das Gebiet zwischen Europa und Asien — geografisch, geschichtlich, kulturell und politisch. Es ist der Raum zwischen westlichem Individualismus und östlichem Kollektivismus.
In dieser Tatsache wird der rote Faden sichtbar, der sich durch die ganze russische Geschichte zieht, in der auch Putin steht: Russland als Hybrid zwischen Westen und Osten, zwischen westlichen und östlichen Staatsvorstellungen, als Zwischenraum für sich.
Zweitens: Russland, dieses gewaltige Gebiet zwischen Wladiwostok und Europa, ist nahezu autark. Russland hat natürliche Reichtümer, Öl, Gas, Wald, weite Ackerflächen und so weiter und so fort, von denen es ohne Fremdversorgung leben könnte. Russland hat eine Vielvölkerkultur, in der nicht nur Einzelne sich miteinander vermischt haben, sondern ganze Kulturen, ganze Völker sich im Laufe der Geschichte miteinander zu einer Gesamtheit verbunden haben. Und Russland hat eine Gemeinschaftstradition, die auf Grund ihrer Strukturen der Selbstorganisation, ihrer Datschen, ihrer eigenen Gärten, der Tradition kollektiver Selbstversorgung unter den so gewachsenen natürlichen und historischen Bedingungen die Fähigkeit entwickelt hat, in Krisen auch auf niedrigstem Niveau zu überleben, was im gegenwärtigen Sanktionskrieg gegen Russland wieder eine große Rolle spielt.
Weiterhin ist Russland entgegen dem, was immer wieder, auch jetzt wieder geschrieben wird, kein einheitlicher, schon gar kein nationalistischer, gar ethnisch einheitlicher Nationalstaat. Russland ist ein Vielvölkerorganismus, bestehend aus verschiedenen Völkern, die sich miteinander verbunden haben — verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen bis hin zu verschiedenen Religionen. Das wesentliche Organisationsprinzip dieser Völkergemeinschaft, wenn man überhaupt von Prinzipien sprechen will und nicht einfach von lebendigen Prozessen, ist die Integration, das heißt, nicht die Beherrschung von oben, von außerstaatlichen Gebieten, sondern das Verschmelzen unterschiedlicher Völker und Kulturen im Laufe der Geschichte als innerer Prozess.
So gibt es in Russland einen doppelten Patriotismus. Wenn ich, um ein Beispiel zu nennen, meine tschuwaschischen Freunde an der Wolga frage, worin ihr Patriotismus begründet ist, dann antworten sie: Ich bin vaterländischer russländischer Patriot und zugleich bin ich tschuwaschischer Patriot. Das lebt miteinander, nicht immer ganz harmonisch, salopp gesagt, aber es lebt miteinander.
Das eurasische Wagenrad
Das alles, was ich hier schildere, ist in ein Bild zu fassen. Das Bild, das ich selbst in meinen Beschreibungen Russlands dafür gewählt habe, ist ein großes Wagenrad, das alte Wagenrad mit der Nabe in der Mitte und den Speichen nach allen Seiten: Das Zentrum, das sich da herausgebildet hat, von dem die Entwicklung ausgegangen ist, ist Moskau. Die Speichen führen in die Peripherien, nach Norden bis zur Ostsee, nach Osten bis Wladiwostok, nach Süden in den Kaukasus und auch nach Westen. Dieses Bild bitte ich euch, vor Augen zu haben bei allem, was ich hier noch über Russland sagen werde: Zar und Dorf bilden eine Polarität, in der sich die Pole gegenseitig stützen, Zar als Selbstherrschaft, Dorf im Prinzip als Selbstverwaltung, sogar Selbstversorgung. Das sind polare Gegensätze, die aber verbunden sind in untrennbarer Abhängigkeit voneinander. Das eine kann ohne das andere nicht sein.
Man kann auch sagen: Zentralismus in Moskau und herrschaftsferne Elemente im Land, Selbstherrschaft und Oligarchie, das sind so diese traditionellen Gegensätze. Verbunden sind sie nicht durch verfassungsmäßige Organe, sondern in einer personalen Struktur, ich betone das: in einer personalen Struktur! Man hört, wenn man in Russland unterwegs ist: Guter Natschalnik, also guter Chef, gute Verhältnisse; schlechter Natschalnik, schlechte Verhältnisse. Guter Präsident, gute Gesellschaft; schlechter Präsident, schlechte Zeiten.
Guter Zar, gute Zeit; schlechter Zar, schlechte Zeit. Das ist etwas, was den Menschen in Russland tief im Blut liegt, dieses personale Verständnis ihrer Gesellschaft.
Dieses Verständnis wurde, um es gleich dazu zu sagen, auch durch die Sowjetunion nicht aufgehoben, sondern genau in diesen Strukturen übernommen. Die Sowjetunion hat sich auf dieser Basis weiterentwickelt: Parteizentrum und Sowchosen/Kolchosen, die ganze kollektive Organisation des Arbeitslebens, des Alltags im Land. Das ist die gleiche Polarität wie in den Jahrhunderten zuvor, nur ins Moderne, ins Bolschewistische übertragen. Das muss man sich klarmachen, um zu begreifen, wohin sich dieses Land in Anknüpfung an diese doppelte, an diese zweimal gebrochene Tradition jetzt zurück oder vorwärts bewegt.
Der Kapitalismus, der sich in diesem Lande entwickelt hat, schon in der Zarenzeit und natürlich jetzt umso mehr, ist ebenfalls ein hybrider. Das heißt, wir haben keine rein kapitalistischen, monopolkapitalistischen Verhältnisse, die sich in Russland entwickelt haben, keine reine Fremdversorgung. Wir haben eine ressourcengestützte Wirtschaft, gewissermaßen sogar eine Ressourcenverwaltung, bis hin zu Formen der individuellen und kollektiven Selbstversorgung in den einzelnen Betrieben, Dörfern und so weiter auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber entwickelte Monopolkapitale, die sehr wohl im internationalen Zusammenhang des Monopolkapitalismus stehen und Supermärkte. Auch hier, ich betone das, zeigt sich wieder diese hybride Grundstruktur der russischen Gesellschaft, dieses russischen gesellschaftlichen Organismus.
„Verwirrte Zeiten“ — und ihre immer neue Überwindung
Und nun schauen wir uns das Ganze noch einmal in der historischen Abfolge an. Da gibt es einen russischen Begriff, den zu verstehen zum Verständnis dessen, was gegenwärtig in Russland geschieht, sehr wichtig ist. Der Begriff heißt „Smuta“. Smuta, das ist die große, verwirrte Zeit. Eine Smuta hat es nach dem Tod Iwans IV. am Ende des 16. Jahrhunderts gegeben, genauer von seinem Tod 1584 bis zum Jahre 1613. Da wurde ein junger Mann, Michael aus dem Hause Romanow, siebzehn Jahre alt, von den Einzelfürsten, den Bojaren dazu gekürt, das Erbe des Wagenrades zu übernehmen, dessen Speichen seit dem Tod Iwans IV. in separate Fürstentümer zerfallen waren. Da glaubten die Bojaren, sie hätten jetzt einen jungen Burschen gefunden, den sie kujonieren könnten, mit dem sie machen könnten, was wollten, um so ihren separaten Interessen nachzugehen.
Dann zeigte sich aber, dass dieser junge Bursche in der Lage war, eine Dynastie aufzubauen, eben die der Romanows, die dieses Wagenrad nicht nur wieder restaurierte, sondern darüber hinaus stärkte und weiter ausbaute. Diese Dynastie regierte bis zur Februarrevolution beziehungsweise Oktoberrevolution 1917. Bis dahin hat sie das Rad des russischen Zarentums beständig ausgeweitet, immer in derselben Formation, die ich eben geschildert habe. Daran haben auch zwischenzeitliche regionale Unruhen nichts geändert. Na ja, blutig waren diese schon, aber an der Struktur des Wagenrades, der Polarität von Selbstherrschaft und Dorf haben sie nichts geändert.
Die zweite große Smuta, die Russland erlebte, erstreckte sich von der Revolution 1905, die eine erste Schwächung des Zaren brachte, über die Februarrevolution, danach die Oktoberrevolution 1917, den darauffolgenden Bürgerkrieg bis zur Stabilisierung der Sowjetunion in den Jahren 1920/22. Was ist da geschehen? Es entstand eine Wiederholung des Gleichen auf neuem Niveau: Das Land war wieder ins Chaotische abgesunken und die Bolschewisten, Lenin, dann Stalin haben die Speichen des Rades unter der Parteiherrschaft wieder zusammengeführt. Es hatte sich im Wesentlichen nichts geändert. Es hatte sich etwas in der Ideologie geändert, aber nicht in der Struktur des Landes.
Nach dem Ende der Sowjetunion hat sich eine dritte Smuta in diesem Großraum ereignet, die Putin nicht zu Unrecht als eine der größten Katastrophen des vorigen Jahrhunderts bezeichnet hat, nämlich der Zerfall des sowjetischen Reiches, der wieder einmal einen chaotisierten Raum bis an die Grenzen Europas hinterließ.
Dies alles muss man sich klar machen, wenn man begreifen will, wer Putin heute ist und warum er so sein kann, wie er ist. Er ist in dieses Erbe eingetreten.
Mister Nobody übernimmt das Erbe
Das ist wichtig anzuschauen, bevor darüber geredet wird, ob Putin etwas verborgen hat, als er antrat, ob er die Welt getäuscht hat, ob er sich verändert hat, ob er verrückt geworden ist, ob er ein Diktator ist wie Hitler oder Stalin oder dergleichen, wie es gegenwärtig durch die Medien der westlichen Welt geht. Und ob er so leicht aus dem Zentrum der Macht entfernt und ersetzt werden kann, wie manche westliche Schlauköpfe das meinen.
Zu all diesen Fragen kann man sagen, auch dies der Kürze wegen nur in Stichworten und ganz einfach: Putin ist angetreten, genau wie seinerzeit Michael Romanow, als Mister Nobody. So wurde er in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Er war ein unbekannter Aufsteiger. Die Oligarchen, die unter Boris Jelzin das gesellschaftliche Ruder in der Hand hielten, glaubten damals, mit diesem Nobody machen zu können, was sie wollten.
Tatsächlich hat dieser Putin dann mit wenigen Sätzen zwar kein großes Programm formuliert, aber seine Absichten sehr deutlich gemacht, nämlich: Ich will erstens eine Diktatur des Gesetzes einführen.
Das hieß, ich will das Chaos beenden, das die Zeit Jelzins im Lande hinterlassen hat, in dem sämtliche Solidarstrukturen, überhaupt sämtliche verlässlichen gesellschaftlichen Strukturen, Parteistrukturen sowieso, zerfallen sind und die Mafia herrscht. Ich will, hieß das im Klartext, dass wieder Steuern, dass wieder Löhne gezahlt werden, dass wieder soziale Verhältnisse eintreten, Versicherungen aufgebaut werden, kurz, dass wieder Regeln, und zwar unsere eigenen, nicht fremde im Lande herrschen.
Das war seine erste Ansage. Seine zweite Ansage war: Ich will, dass dieses Russland wieder in die Funktion eintritt, die seiner historischen Rolle entspricht, nämlich Integrationsknoten in Eurasien zu sein. Das waren die beiden Ansagen, mit denen Putin antrat, kurze Mitteilungen nur, kein ausgearbeitetes Programm, nur der erklärte Wille ein starkes Russland wiederaufzubauen.
Wenn man von heute aus zurückschaut, dann sieht man, dass sich diese Vorstellungen Putins auch damals schon auf konservative Denker bezogen, nämlich auf solche, die die traditionellen Organisationsformen Russlands für optimal hielten, ein Iwan Iljin, der die monarchischen Strukturen für optimal hielt, um Eurasien regieren zu können, auch ein Anton Denikin, weißrussischer General, der die bolschewistische Revolution bekämpfte. Als Präsident ließ Putin die sterblichen Überreste beider ins Land zurückholen, um sie dort zu erneut bestatten. Diese beiden historischen Gestalten repräsentieren zweifellos politische Vorstellungen, die heute in Putin leben. Putin ist eben, wie schon gesagt, nicht nur einfach ein KGBler, sondern greift mit seinen Vorstellungen von der Gesundung Russlands weit in die zaristische Zeit zurück.
Wichtig ist aber, auch zu wissen: Putin ist kein Stalinist, auch kein Leninist, im Gegenteil, er ist ein Antikommunist, zugleich ist er Neoliberaler, also im Ergebnis ein Modernisierer, der sich auf die zaristischen Traditionen stützt. Dies nur kurz zur Einschätzung von Putins persönlichem politischen Herkommen. Man könnte ihn einen modernen Wahlmonarchen nennen oder wie es in Russland halb scherzend, halb sarkastisch zu hören ist: Putin ist unser neuer Zar, ganz einfach. Ich selbst nenne ihn einen autoritären Modernisierer, der im Spagat zwischen Neoliberalismus und monarchistischer Tradition steht und aus dieser Haltung heraus das Land sanieren will.
Putins Maßnahmen
Entsprechend diesem Programm, mit dem er angetreten ist, bestand Putins erste Aktion in der Einrichtung einer siebenstrahligen Supervision über die Regionen Russlands, die er auf diese Weise dem Kreml, sich selbst direkt unterstellte. Diese Kontrolle lief quer zu den föderalen und regionalen, quer zu den gewachsenen organischen Strukturen des Landes.
Der zweite Schritt zur Sicherung dieser neu eingezogenen Struktur war der Tschetschenienkrieg; es war der zweite, nachdem Jelzin sich aus dem ersten zurückziehen musste. Der zweite Tschetschenienkrieg war sehr brutal. Er war gegen den tschetschenischen islamistischen Separatismus gerichtet. Aber die Brutalität ging nicht nur von Putin aus, sondern war auch durch das gegeben, was sich vorher in diesem Krieg aufgebaut hatte, nämlich eine Gesetzlosigkeit, die sich über die ganze Russische Föderation ausbreitete. Ich habe das seinerzeit selbst erlebt, als ich mich zu Recherchen in Kasan und der tatarischen Republik aufhielt. Von dort zogen Freiwillige nach Tschetschenien, um sich an den Kämpfen für die Einrichtung eines islamischen Gottesstaates zu beteiligen. Die Kämpfe wurden von außen durch Saudiarabien und nicht zuletzt auch durch Zbigniew Brzeziński unterstützt. Der wurde dort wieder aktiv, nachdem er schon dazu beigetragen hatte, dass die Sowjetunion über Afghanistan gestolpert war.
Tschetschenien war zu der Zeit ein schwarzes Loch, in das man nicht mehr reisen konnte, ohne sich der Gefahr auszusetzen, als Geisel genommen, verkauft oder gar getötet zu werden. Grosny, die Hauptstadt der Region, lag nach dem Krieg in Trümmern. Die Bilder werden jetzt wieder ausgegraben, um damit Putins generelle Bereitschaft zur expansiven Aggression zu beweisen. Aber der Vergleich zum jetzigen Krieg in der Ukraine macht keinen Sinn. Es war ein anderer Prozess, der da in Tschetschenien seinerzeit stattfand: Es war die Verteidigung der inneren Situation, nicht zuletzt auch gegen Eingriffe von außen, und nicht etwa ein Angriff nach außen.
Die zweite Aktion, nicht zeitlich, sondern von der Rangfolge ihrer Bedeutung her, bestand darin, dass Putin dafür sorgte, dass Russland die Altschulden der Sowjetunion bei der Weltbank beglich und die weitere Annahme von Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) kündigte, die unter Jelzin astronomische Höhen erklommen hatten.
Das war eine klare Ansage: Wir lassen uns von euch nicht in die Schuldenfalle treiben. Wir wollen unseren eigenen selbstständigen Weg gehen.
Das dritte Element zur Sicherung der putinschen Herrschaft war die Einbindung der Oligarchen — also Boris Beresowskis, Wladimir Gussinskis, Michail Chodorkowskis und anderer —, die sich in der Zeit Jelzins das Kollektiveigentum der Gesellschaft als Privateigentümer angeeignet hatten und als Privateigentümer Staatspolitik machten. Putin gelang es, ohne dass ich jetzt im Einzelnen darauf eingehen kann, wie ihm das gelungen ist, diese privaten oligarchischen Korporationen in eine neue Verantwortung einzubinden, sie zu veranlassen, wieder Steuern, wieder Löhne zu zahlen, sich wieder für soziale Strukturen verantwortlich zu fühlen und so weiter. Der private Charakter des unter Jelzin entstandenen oligarchischen Eigentums blieb erhalten, wurde aber ergänzt durch Einführung staatlicher Aufseher in diese Korporationen. Diese Aufseher waren nicht selten Vertreter des russischen Inlandgeheimdiensts FSB. Auf diese Weise entstand eine Verflechtung zwischen Privatkapital und Staat. Diese Verbindung ist ein wesentliches Element der putinschen Herrschaft.
Ein weiterer Schritt, der noch benannt werden muss, ist Putins Auftreten nach außen, mit dem er die Stabilität, die er nach innen geschaffen hatte, auch nach außen trug. Ich erinnere hier nur kurz an Putins Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007. Dem folgten seine Aktivitäten im Ausland, in denen er dem Militarismus der USA als Kritiker entgegentrat, bis hin zu seinem Wirken als Krisenmanager in Syrien und so weiter. Das erwähne ich hier nur in der durch die Zeitvorgaben gebotenen Kürze.
Mit dieser Agenda, das sei hier abschließend klar gesagt, war Putin innenpolitisch wie außenpolitisch der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz.
Das „System Putin“ — sichern des Konsenses
All dies, was ich zu Putins Herrschaft gesagt habe, wird von westlichen Soziologen unter dem Stichwort „Politbüro 2.0“ gefasst, um das sich eine Reihe von „Selektoraten“ gruppiere, in denen Putin als „Schiedsrichter“ fungiere. Gemeint sind mit den „Selektoraten“ ganz unterschiedliche Organe der Gesellschaft, also die diversen Exekutivorgane, zudem die „Silowiki“, also die Machtorgane, die Geheimdienste, das Militär, die Justiz, dann die Oligarchen, die föderalen Kräfte, die Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und schließlich auch solche Organe wie der „Isborski Club“, eine Vereinigung von gemäßigt Konservativen wie Alexander Prochanow bis hin zu extrem Rechten wie dem berüchtigten Machtmystiker Alexander Dugin. Dem Präsidenten direkt unterstellt sind zudem diverse Einsatztruppen: die Präsidentengarde, der föderale Wachdienst, der FSB, also der Geheimdienst, seit 2016 auch die Nationalgarde.
Also, das ist eine Herrschaftsform, die ist abgesichert, sie ist auch föderal und verfassungsmäßig untergliedert. Es ist dennoch kaum möglich, diese Struktur exakt nach föderal-demokratischen Prinzipien zu beschreiben.
Putin ist einfach oberster Kriegsherr. Er bestimmt die Richtlinien der Politik. Er hat praktisch in allen Fällen die Möglichkeit, in die unteren Organe einzugreifen, die diesem „Politbüro 2.0“ beigeordnet sind. Er garantiert als oberste Instanz den Konsens der widerstreitenden Interessen.
Die Definition, mit der westliche Soziologen diese Herrschaftsform beschreiben, lautet: Bonapartismus. Das ist nicht schlecht. Das kann man so sagen. Bonapartismus ist ja eine Herrschaftsform der fürstlichen, obrigkeitlichen Zentralisierung bei gleichzeitiger Freiheit für die bürgerlichen Kräfte und Träger des Kapitals, sich, so weit sie sich in Übereinstimmung, im Konsens mit den Staatszielen halten, selbstverantwortlich zu entwickeln.
Bleibt nur ein Unterschied zum klassischen Bonapartismus, nämlich, dass Putin diesen Konsens stetig aufs Neue wieder sichern muss. Und bleibt als Letztes die Frage, und damit komme ich schon zum Schluss: Hat Putin sich bei dieser Machtfülle, die er hat, mit dem Krieg, der jetzt in seinem Namen gegen die Ukraine geführt wird, verzockt? Hat er einen Schritt gemacht, der den Konsens sprengen könnte? Droht ihm von innen aus dem Lande Widerstand, der ihn zur Aufgabe seiner Rolle als „Schiedsrichter“ zwingen könnte?
Ist der Konsens gefährdet?
Ich würde sagen, aktuell nein. Zu rund 80 Prozent ist die Bevölkerung zwar nicht für diesen Krieg, aber sie spricht sich auch nicht gegen ihn aus. Vielleicht 20 bis 25 Prozent der Befragten protestieren gegen diesen Krieg wie überhaupt gegen Krieg schlechthin. Die Zahlen der Umfragen sind unter dem aktuellen Druck des Krieges nicht sehr verlässlich. Die ganze Situation aber so zu beschreiben, wie das in den deutschen Medien gegenwärtig geschieht, nämlich dass Putin das Land in einen Faschismus hineinführe, ist einfach vordergründig, oberflächlich, ist westliches Wunschdenken. Das geht an den realen Verhältnissen in Russland vorbei, weil es all diese Strukturen, die ich in meinem Vortrag aufgezeigt habe, nach Kriterien misst, die wir aus den westlichen Gesellschaften kennen. Denen zufolge kann von Faschismus dann gesprochen werden, wenn die Masse der Bevölkerung mit Teilen der Bevölkerung von oben unterdrückt wird.
Diese Art von Vorstellung kann man sich aber abschminken. Das ist nicht das, was gegenwärtig in Russland geschieht. Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine findet letzten Endes eine geduldete Zustimmung seitens der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn der Westen glaubt, man könnte Putin in einem Regime Change ersetzen, dann ist das ebenfalls ein großer Irrtum. Putins Umgebung, das „Politbüro 2.0“ und sein Umfeld sind dazu nicht bereit, jedenfalls nicht solange der Krieg noch stattfindet. Zu tief sitzt die Angst vor einer neuen Smuta nicht nur in der russländischen Bevölkerung allgemein, sondern auch in den herrschenden Kreisen.
Selbst wenn es gelänge, Putin unter den gegebenen Umständen durch einen Regime Change zu ersetzen, wäre das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ziemliches Chaos, was sich kein russischer Politiker, auch kein möglicher Nachfolger Putins wünschen kann. Die Nabe, deren Zusammenführung Putin in dem neuen Zentralismus repräsentiert, würde gefährdet und zerschlagen. Sie zu restaurieren wäre zu Kriegszeiten kaum und wenn doch, dann nur mit Gewalt möglich. Das weiß man im Übrigen nicht nur in Russland, das wissen auch die US-Amerikaner, jedenfalls einige klügere Köpfe, die inzwischen vor einer Zerstörung Russlands warnen, wie man etwa von Henry Kissinger neuerdings hören konnte.
Diese Amerikaner wollen zwar, dass Russland auf dem Bauch kriecht und sich wie unter Jelzin wieder für die westliche, die amerikanische Kolonisierung öffnet, aber sie wollen Putin nicht einfach abschießen, Russland nicht einfach „zerstören“, weil sie wissen, wie gefährlich das Chaos wäre, das daraus resultieren würde. Der deutschen und europäischen Politik fehlen offenbar solche Einsichten und es wird noch etwas dauern, bis die vorsichtigeren amerikanischen Botschaften hier nachgesprochen werden.
Kommen wir zum Schluss:
Was zu wünschen ist, wie immer der Krieg in der Ukraine ausgehen mag, gleich, von welcher Seite sein Ausgang betrachtet wird, ist die Vermeidung einer neuen Smuta, eines chaotisierten Eurasiens, das heißt letztlich nicht nur Russlands, sondern Russlands und Europas.
Das bedeutet, mit Russland zu reden, mit der Ukraine zu reden, Waffenstillstandsverhandlungen sofort einzuleiten, Ziele für eine Befriedung der Ukraine zu entwickeln und und und. Darauf gilt es mit allen Kräften von allen Seiten hinzuwirken. Auf die einzelnen Schritte, die in diese Richtung führen könnten, kann ich mich in der Kürze jetzt hier nicht einlassen. Dafür braucht es mehr als nur einen Vortrag.
Redaktioneller Anmerkung: Dieser Vortrag wurde auf der Tagung „Russlands Krieg in der Ukraine“ der Marx-Engels-Stiftung am 14. Mai 2022 in Kassel als einer von vieren gehalten. Drei weitere Vorträge befassten sich mit den Zielen des Krieges, mit den Positionen der russischen Linken zu diesem Krieg und schließlich mit den Auswirkungen, die der Krieg für den Alltag der russischen Bevölkerung hat. Die Veranstaltung wurde als Präsenzereignis unter Zuschaltung digitaler Teilnehmer/innen durchgeführt. Die Zeit pro Referat war auf fünfundzwanzig Minuten beschränkt.
Alle vier Beiträge sind unter dem Link
im beigefügten Video dokumentiert.
Quellen und Anmerkungen:
Zur weiteren Befassung mit dem Thema verweise ich auf meine Website, dort insbesondere auf die Texte:
„Wer will welchen Frieden? Zur Frage nach den Zielen im Ukrainischen Krieg“ vom 23. Mai 2022 und
„Neue Sicherheitsarchitektur“? Warum nur für Europa? Warum erst jetzt? Warum nicht gleich?“ vom 27. April 2022.
Zum tieferen Verständnis Russlands verweise ich außerdem auf mein Buch: „Russland — Herzschlag einer Weltmacht“, zu bestellen unter https://kai-ehlers.de/buch/russland-herzschlag-einer-weltmacht/.
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