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Zu Tode kommuniziert

Zu Tode kommuniziert

Mit der fortschreitenden Digitalisierung und der Atomisierung des Publikums sind wir am Ende der Erzählungen angelangt.

Szenen, Geschichten und Reflexionen aus der analogen und der digitalen Welt

In dem 1985 von Alexander Kluge gedrehten Film „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ werden wir Zeuge einer frühen Bearbeitung des Themas „Mensch und Computer.“ In einem meist unwirklich abgelichteten Frankfurt mit Hochhausfassaden lenkt uns das Auge der Kamera auf eine kleine Familie; deren ganzes Interesse gilt dem „Apparat“ — so nennt der Erzähler Kluge den Computer damals noch — und zwar bei Tag und bei Nacht. Wodurch diese totale Konzentration hervorgerufen wurde, bleibt uns verborgen: mal rattert der Drucker, wenn der Vater etwas an Text freigibt, mal starrt der Sohn auf den Screen, mal übt die Frau mit strengem Blick eine Art „Wächterfunktion“ gegenüber dem Gerät aus.

Und immer wieder wird die Tastatur vom Vater mit geradezu hörbar harten Fingerschlägen bearbeitet. Das alles hat etwas Angestrengtes; die Kleinfamilie scheint schicksalhaft vom Computer in Bann geschlagen; wie eine Notgemeinschaft wirkt sie, die jeden Augenblick als Provisorium für ein mögliches Versagen oder eine Gefahr erlebt.

Ein abendlicher Spaziergänger hätte zu dieser Zeit Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre folgende Erfahrung machen können. Er geht durch eine städtische Vorstadtstraße und liest „gewohntes“ Leben aus dem Zusammenspiel bläulicher und heller Lichtblitze, das zweifellos von einem TV Gerät in den Wohnstuben herrührt. Es signalisiert ihm damals noch, dass sich vor dem Fernseher Menschen versammelt haben — aber wenn er von draußen näher ans Fenster tritt, sieht er zwar in mehrere Gesichter, die auf einen Bildschirm starren, aber kaum noch in einem Akt gemeinsamen Schauens untereinander verbunden sind.

Aber vorerst zurück zur ersten Szene: Was bot der Computer den Menschen damals, was noch nicht? Wie weit war die Software entwickelt? Gibt es eine Verbindung zwischen der gezeigten Familie und uns? Oder ist der zeitliche Abstand schon zu groß, um eine Erzählung daraus abzuleiten, in der wir gemeinsam als Protagonisten auftreten können?

Immerhin: Eine verbindende Erzählbarkeit lässt die zweite Szene zu. Zumindest aus dem Blickwinkel einer Mentalitätsgeschichte, welche die letzten Jahrzehnte umfasst.

Was wir mit dem Spaziergänger durchs Fenster sehen, ist ja kein exotisch anmutendes Kinopublikum aus den 1950er Jahren mehr, sondern eine uns vertraute, moderne, eher atomisierte TV-Gemeinde: alle Augen sind starr gerichtet auf das damals noch dickbauchige Gerät — Glotze ist dafür der treffende Ausdruck.

Jeder für sich und zugleich außer sich vor Willen, nichts zu verpassen: keinen Werbeclip, keine Sequenz aus der Schwarzwaldklinik oder eine Nachricht aus der Tagesschau.

Fernsehen zog die Leute noch an, allerdings nicht mehr das klassische Kinopublikum, das es damals schon nicht mehr gab; eher wandte sich das massige Gerät an eine Heimkinoassemblee, die aber realiter gar kein Publikum war; sie bestand vielmehr aus Einzelnen, die den bewegten Bildern in einem latenten Alarmismus folgten. Die entsprechende Szene wirkt denn auch wie das Vorspiel zu jener Screen- und Aufmerksamkeitsökonomie, auf die wir heute zwanghaft eingeschworen werden, wenn auch das Medium Fernsehen selbst inzwischen kaum noch an diesem hocherregten Zusammenspiel aus Zeitverdichtung und fragmentierter Erfahrung teilhat, vielmehr trotz unzähliger „Tatorte“ und Terra-X-Panoramen als dosierte Schlaftablette im großen Molloch der trägen Gewohnheiten dahindümpelt, inzwischen fast so etwas wie ein mediales Nebenher in unserer „multi-task“ wahrgenommenen und organisierten Welt.

Beide indes, die Filmszene und die TV-Vorstadtszene, haben eins gemein: sie lassen kaum noch erinnern an das mythische Urbild aller menschlichen Kommunikation: Da versammeln sich vor vielen tausend Jahren Hominiden um eine Feuerstelle, wo sie ihre Identität erproben, indem sie sich Geschichten erzählen, vielleicht auch schon die Figur eines Löwenmenschen umtanzen, ein Artefakt, das einer von ihnen, ein Künstler, der nicht mit auf die so gewichtige Jagd musste, kraft seiner Imagination geschaffen hatte: Unsere Urahnen übten sich dergestalt in einer vielleicht notwendigen Umdeutung des Realen, die ihnen etwas Sicherheit und kommunikativen Sinn verschaffte, einen Sinn, den sie zugleich als göttliches Geschehen veräußerten, ja in einem scheuen Pathos der Distanz verehrten.

Als mit Bewusstsein ausgestattete Wesen „in der Welt“ mussten sie diese wohl übersteigen, andernfalls hätte sie die Fremdheit einer überkomplexen, für sie kaum greifbaren Wirklichkeit getroffen und aus der Welt geschleudert, wie es der Philosoph Hans Blumenberg im Rahmen eines Vergleichs mit unserer heutigen Lage beschrieben hat.

Die Frage, die sich auch Blumenberg stellt, wäre dann: Wohin übersteigen wir heute unsere Welt, die so anders ist als die der ersten Hominiden, uns aber ebenso komplex und kaum greifbar erscheint wie den Ahnen ihre Welt vor vierzigtausend Jahren? Sind wir noch fähig, unsere Realität zu transzendieren, um ihr einen erzählbaren Sinn abzutrotzen? Oder bleiben wir heute in ihren Fallstricken aus Fakten, Kausalketten und Daten hängen — immer in der Gefahr, in die Funktionalität abzurutschen, als die Berthold Brecht eine abschüssig gewordene Moderne zeichnete?

Once upon a time...

Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre begann die eigentliche Erfolgsgeschichte des PC, während die neuen TV-Privatsender die zuvor noch medial auf zwei Kanäle geeichte Gemeinde in verschiedene Sehgruppen spaltete. Etwas verschob sich damals im ewigen Wettstreit um die Beschaffung von — kommunikativem — Sinn. Der Siegeszug des PC glich einer romantischen Volte aus dem Geist der Neunzehnhundertsiebziger Jahre, einer Zeit mit — so schien es — weit offenem Zeithorizont und hohem Sendungsbewusstsein, das eine Spezies neuer Wahrnehmungs- und Gestaltungssubjekte erschuf.

Ihre Geburtsstätte lag bekanntlich in kalifornischen Vorstadtgaragen — dort wo sich vereinzelte Visionäre, technisch versierte Nerds und kapitalistische Impulsgeber zusammenfanden, damals noch von geradezu kreuzbraven Gedanken zur Nutzung des Geräts beseelt, für das bald schon die Namen Rechner und Computer nicht mehr ausreichten. Es ging um mehr als die Erschaffung und Indienstnahme eines Geräts.

Es ging um eine Magie, die drum herum entstand: Das Kommunikative, das der schwerfällige Computer-Koloss IBM innerhalb seiner kruden Geheimdienstlogik nicht im Sinn hatte und dessen Bedeutung er demzufolge damals nicht erkannte, trat fortan in den Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung und Geltung, gepuscht von einer ganz anderen Klientel von meist jungen Pionieren, die an Geld, Macht und Kriegsspiele zunächst überhaupt nicht dachten. Dabei klang es selbst dann noch harmlos, als irgendwann später in der Folge eines globalen Hypes von „sozialen Netzwerken“ gesprochen wurde, die Grundlage wurden für Varianten der medialen Kommunikation wie Facebook, Google, Instagram, Tinder, Youtube und Whats App.

All diese „Anwendungen“ des Interaktiven konnten sich im Milieu des postmodernen Zeitgeistes erst einmal ungehindert entwickeln und zugleich verbergen hinter spielerisch „gut Gemeintem“ wie Freundschaft, Informationsreichtum begehrender Anschaulichkeit. Nebenbei lösten diese Apps das Versprechen einer allumfassenden Vernetzung ein. So etwas hatten ja Philosophen und Soziologen wie Parson, Luhmann und Habermas schon vorgedacht, entweder idealiter (Habermas) oder in lapidarem Understatement.

(Luhmann): Kommunikation sei alles, sei der Schlüssel, die Vollendung der wahren Aufklärung — dazu überall auffindbar: bei den Ameisen wie in der DNS, den Hirnzellen und natürlich da, wo Welt und Sinn generiert werden, in den Hippiekommunen, Selbsthilfegruppen, auf Kongressen und in Think Tanks. Wir kommunizieren und vernetzen uns all together, und das scheint ja auch gut so. Aber bald schon liefen all die Bestrebungen für die Einlösung des Versprechens auf entfesselte Kommunikation in eine fatal andere Richtung: auf ein immer kleiner werdendes Gerät zu, das Hand, Finger und Augen des Einzelnen in „Betrieb“ nahm — wir wurden User, was heißt: Nutzer, Benutzer und — Benutzte: Wer vermag das angesichts täglich stundenlanger Interaktion zwischen Mensch und Gerät heute noch auseinanderzuhalten?

Jedenfalls entstand rund um das Gerät ein Fieber, dem man sich kaum entziehen konnte. Da vermochte auch das alte Medium TV nicht mitzuhalten, das die Menschen weiter auf die „Glotze“ starren ließ und sich irgendwann, was die Zielgruppe betraf, zurückziehen musste auf die Klientel älterer TV-Konsumenten.

Die „digital natives“, von denen bald die Rede war, ließen sich so nicht mehr reintegrieren in die alte Erzählgemeinschaft, nicht einmal als Kinopublikum ließen sie sich ansprechen. Die neue Feuerstelle, wo sie einander ihre Geschichten erzählten und sie mit anderen teilten (neudeutsch: sharing), das wurde das Netz.

Das Internet: die naiv klingende Bezeichnung für ein Medium der Kommunikation, im privaten und globalen Ausmaß, übrigens von einem sehr netten Mann, Tim Berners Lee, 1993 auf den Weg gebracht: dieses flirrende Netzgeschehen sollte sich bald schon in einer Komplexität und Dynamik entwickeln, die für Verwirrungen und Irrungen sorgte — für die einen bot es eine Möglichkeit zu einem Dasein im Zwischenraum von Computer-Spiel und ökonomischer Fullspeed-Selbstoptimierung; für die anderen bedeutete es eine stetig wachsende Überforderung und das vage Bewusstsein, irgendwie vom Weltenlauf abgehängt zu werden, ja inzwischen tatsächlich abgehängt worden zu sein. Aber vorher gab es noch ein Highlight, das Erfreulicheres in Aussicht stellte als diese heute kaum noch zu leugnende Auftrennung in Sieger und Verlierer.

Steve Jobs, das Momentum und der heilige Gral

Die Szene kommt uns heute fern und surreal vor — und liegen doch nur 14 Jahre zurück. Es ist jenes Bühnengeschehen aus dem Jahre 2007, als ein von der Krebskrankheit schon schwer gezeichneter Steve Jobs das neue Smartphone von Apple vorstellte: eine Show, die man nicht Show nennen sollte, eher einen Akt der Selbstentäußerung des Daseins. Nur zum Vergleich: Sieben Jahre zuvor hatte der damals aus dem Boden schießende Internetanbieter AOL das alte Schlachtschiff Time Warner geschluckt. Auf einer Bühne sah man einen tänzelnden AOL Boss und einen steif wirkenden Repräsentanten der alten Kinokultur.

Beide boten ein Schauspiel der damals geläufigen Fusions- und Übernahmekultur — nur war alles viel beschleunigter vor sich gegangen als sonst. Der Sieger kam aus der New Economy. Und dieser Sieger nahm alles. Letztlich eine peinliche Szene, wie dann auch noch der wippende AOL-Mann den Arm seines bewegungsunfähigen Opfers in die Höhe reckte. Da schnurrte etwas zusammen auf einen Vorfall im Zeitprovisorium: unerzählbar letztlich in seiner gehypten Eventgestalt, worin alles an Vergangenheit blitzartig zersetzt wurde. Selbst die Melancholie, die aus der Geschichte des Kinos erwächst.

Anders bei Jobs 2007. Er trat allein auf die Bühne und schrie auch nicht heum wie der massige Konkurrent Steve Ballmer von Microsoft. Es ging hier nicht um einen Gründer, Übernehmer, Werber oder Verkäufer und auch nicht um eine Ware, die der tödlich Gezeichnete irgendwelchen Kunden anpries; es ging um eine neue Kommunikation zwischen Jobs, dem Gerät und einer in Andacht geeinten Gemeinde, kurz: um ein Zusammenspiel aus drei Eckpfeilern gegenwärtiger Kommunikation, woraus sich sogar ein Lebensstil ableiten ließ — und all dies in einer Umgebung, die so etwas wie den heiligen Gral zu beherbergen schien.

Was man nun alles mit diesem neuen Gerät machen konnte, vor allem aber, was es mit einem machte, das interessierte damals die unterhalb der Bühne versammelte, im weitesten Sinne gläubige Community ebenso wenig wie den Zuschauer im Kluge-Film die Frage, was Menschen am Computer denn wirklich machen.

Hier — einmal mehr in Kalifornien — geschah sprichwörtlich etwas: das Ereignis triumphierte noch einmal über die Vermittlung des Ereignisses und das aus sich selbst Erzählende über die Funktion; und Steve Jobs, der schon zuvor weitaus weniger harmlos ausgesehen hatte als Bill Gates und Mark Zuckerberg, erschien in all seiner prophetisch todesaffinen Erglühung wie ein Zarathustra, ein Magier: der erste Künstler und Erzähler an den Feuern der spätmodernen Hominiden, nun mit einem Sinn schaffenden Gerät in der Hand, inmitten einer Schar von „Followern“, wie es dann später heißen sollte — wirklich ein mythisches Bild.

Wer zu Assoziationen neigt, dem könnte dazu das mythische Bild in Mutlangen in den achtziger Jahren in den Sinn kommen, mit Heinrich Böll inmitten einer Schar von gleichgesinnten Protestierern gegen Atomanlagen und allgemein gegen das „System“. Aber selbst da hatte ein Vermittler schon Hand an die Farbgebung des betreffenden Fotos gelegt. Eine bräunliche Tönung suggerierte Patina, Symbolik, beschwor den ewigen mythischen Augenblick. Das war bei Jobs Auftritt nicht nötig.

Bald sollte sich indes herausstellen, dass die Szene mit Jobs und das wundersame Ambiente dazu sich so nicht mehr wiederholen ließen. Events à la „life unlimited“ oder gar „bigger than life“, nach denen die unter chronischem Mythenmangel leidende Gesellschaft des Westens heute so sehr lechzt, hat es seither nicht mehr gegeben. Dafür aber setzte eine gegenläufige Entwicklung ein, die abstrakt wirkt, aber gerade in dieser vagen Weitgefasstheit die Realität trifft: Jeder Versuch fortan, das Ereignishafte, Unmittelbare hervorzuzaubern oder einen romantischen Rollback zurück in die siebziger Jahre wieder aufleben zu lassen, scheiterten.

Seither scheint dies unser Schicksal zu werden: Alles, was geschieht, scheint vermittelt, selbst das Unmittelbare. Womit der Philosoph Hegel recht zu haben scheint: Es gibt nichts unter der Sonne, was in einem puren Da glänzt. Es lauern immer schon im Vorraum und im Hintergrund die Mediatoren. Einen Steve Jobs wird es da nicht mehr geben, auch keine Siebziger-Jahre-Community, die ihn damals noch trug. Wie sieht die Community indes heute aus? Gibt es sie überhaupt noch?

Zuletzt schien diese Gemeinschaftsidee noch einmal aufzublühen, als für zwei Jahre die Piraten in Deutschland die Bühne der Zeit betraten, mit hohem Sendungsbewusstsein, in großen Foren sich versammelnd, bewaffnet mit dem Daseinsbeweis Laptop, immer zur Zwiesprache bereit mit dem Gerät und dem Strauß von Mikrophonen; plötzlich war man Wer, um dann doch recht bald sang- und klanglos in der schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie ins letzte Glied zurückzutreten. Es machte pfff und die Luft war raus. Ein weiterer Beweis, dass die Zeitdimension der Vergangenheit ins provisorische „Jetzt“ eingedampft wurde — der Tod für die Erzählbarkeit der Welt.

Diese Erzählbarkeit erschien indes in großem Rahmen noch einmal möglich als im Dezember 2010 eine Hochzeit stattfand zwischen einer digital vernetzten Gemeinde und einer moralisch hochgerüsteten Weltgesellschaft, die dem Treiben in den arabischen Staaten emphatisch zusah. Junge User, in Tunis und Kairo fiebernd an ihren Geräten sitzend, von wo aus die dann auf die Straße rannten als analoge Wesen mit revolutionären Zielen.

Das mochte für kurze Zeit eine Utopie beschwören, ein Versprechen, das sich politisch einlösen ließ; aber wie einst am Ende der französischen Revolution, als Napoleon das Erbe der Umwälzung antrat, waren die Sieger, die aus dieser Geschichte hervorgingen, andere. Das Gerät hatte in seinem technisch operationalisierten Anspruch auf Unmittelbarkeit eine Dynamik entfesselt, die einen neuen ägyptischen Präsidenten aus dem Hut der Geschichte hervorzauberte, der sich fortan als Krisenbewältiger verstand — damit vielleicht die Zukunft der gesamten Politik andeutete: von einem heiß gelaufenen Jetzt aus betrachtet, zu dem das Gerät ja bedingungslos einlädt, wird alle Zeit zur Jetztzeit mit Problemlösungsaufgaben. Vergangenheit und die sie tragende Erzählbarkeit der Welt, werden außer Kraft gesetzt — und nehmen am Spiel um die Zukunft nicht mehr teil.

Seither wird viel geredet von der Community. Aber gibt es sie überhaupt jenseits von Links, Likes und Updates?

Um dafür ein Bild zu finden, könnte man eine Drone mit Kamera über Silicon Valley fliegen lassen, über gewölbte Rasenflächen und gläserne Heimstätten, in denen Personen als kleine Punkte herumwirbeln. Was tun sie da hinter den transparenten oder abgetönten Fenstern? — Will man das überhaupt noch wissen, wenn man es nicht ohnehin schon weiß?

Von analog und digital — vereinzelte Erfahrungen

Anlässlich eines Interviews irgendwo in der Provinz nördlich von Osnabrück harrt der vom Sender beauftragte Freelancer — ich — an einer Haltestelle auf einen Bus, der aber partout nicht kommen will. Um die Bushaltestelle herum erstreckt sich viel Wald und Feld und es sickert das Gefühl von Sinnlosigkeit und durch Regen verursachter Feuchtigkeit in die Kleider des Wartenden. Früher hätte der Freischaffende an den gläsernen Wänden des Haltestellenunterstands vielleicht verschmierte Sinnsprüche von Schülern lesen können oder gar überdimensioniert gezeichnete Penisse bestaunt — hätte so einen dumpfen Sinn entwickelt für das abgründig Unfassbare vergehender Zeit. Heute jedoch zeugt nichts mehr von derlei existentiellem „Hineingehaltensein ins Nichts“ (Heidegger). Der Frust im Wartenden steigt. Endlich hält dann doch noch ein Bus.

Der vor Kälte steif Gewordene steigt ein, hochgradig gereizt, wird dann aber sofort von der Wärme, die ihm entgegenschlägt, milde gestimmt; er schaut sich um und erblickt eine dicht gedrängte Schar von Schülern, bis in die hinteren Sitze des Busses verteilt; sie alle halten ein Smart-Phone in den Händen. Nach der Erfahrung einer durchfeuchteten Welt und dem Eintritt in diese so andere aus Wärme und handgerechten Geräten, entfleucht dem Eingestiegenen diese Frage: „Wo bin ich hier — bei Zombies?“ Einige Schüler in den vorderen Sitzen schauen kurz auf, eher verständnislos, bevor sie dann in den Flow des medial durchtrainierten Alltags, dem selbst der umgebende Wald nichts anhaben kann, zurücksinken — eine Schülerin glaubt den wahren Wert dieses Augenblicks zu erkennen, indem sie zu ihrer Mitschülerin sagt: „Ey, das muss ich unbedingt posten.“

Ja, ja, analog, digital — Kennen wir!! — Kennen wir?

Von der analogen und der digitalen Welt lässt sich ja inzwischen gut plaudern. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir die Unterscheidung zwischen beiden Seinsarten in unser Alltagsbewusstsein gebannt und mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes gar entschärft zu haben glauben. Virtuell, real, irreal, simulativ, künstliche Intelligenz — diese Vexierbegriffe, die einmal den durch französische Denker geführten Diskurs in den neunzehnhundertachtziger Jahren bestimmen konnten, haben wir doch auch uns einverleibt und sind daran inzwischen leidlich und relativ schmerzfrei gewöhnt! Ein gewisser Hang zum Witz hat sich gar eingestellt, wenn es zu Überschneidungen zwischen den Formen analog und digital kommt.

Zumal, wenn beide so schön ineinander geschichtet sind wie in dieser vielfach beschriebenen Szene: Man sieht eine Gruppe von weiblichen Teenagern dicht aufeinander hockend, aber jede für sich mit den Daumen über den Screen ihres I-Phones fahrend, von Fall zu Fall Texte und Bilder empfangend oder sendend. Manchmal ein Jauchzen von einem der Mädchen, vergleichbar dem Kreischen im niedersausenden Looping auf der Kirmes, danach von einem anderen Mädchen ein so schrilles wie abschätziges „der sieht echt Scheiße aus.“ — Dies ist das Signal für andere Teens, sich im Rücken der Besendeten zu versammeln und das Bild zu be-liken ... Wie würden diese Mädchen nur miteinander verkehren ohne dieses all ihre Aufmerksamkeit absorbierende Gerät? — Fast so etwas wie eine Hamletfrage: Like or dislike — thats the question.

Und welche Assoziation weckt diese Szene: Sie sitzt mir schräg gegenüber im Zug, das Gerät in der Hand und vollzieht die üblich gewordene Screen-Behandlung entlang einer gerade empfangenen Whats-App-Nachricht. Und plötzlich überzieht ein leichtes Lächeln ihr Gesicht. Früher hieß das einmal: Jemand lächelt in sich hinein in Gedanken an etwas Schönes, das aus der Vergangenheit ins Jetzt hineinragt oder aus räumlicher und zeitlicher Distanz eine Erwartung spiegelte, dabei hinter der leicht gefalteten Stirn eine Exstase hütend — nach Heidegger ein Seins- und Wahrheitsvollzug. Früher waren derlei Mienenspiele nicht gerade häufig zu beobachten, aber umso anmutiger wirkte dann dieses madonnenähnliche Spiel der Gesichtszüge, das den Beobachter entzückte und einen Hauch von Nähe in die Fremdheit der Welt brachte.

Nun jedoch — das weiß der Zugfahrer — ist dieses Lächeln viel zu häufig anzutreffen, als dass Anmut sich dahinter verbergen könnte oder ein in den Augenblick gehobenes Geheimnis. Und richtig: Im plötzlichen Abbruch oder Einfrieren des Lächelns erkennt der Fahrgast, dass sich keine Mythen des Alltags dahinter auftun, eher ein bald schon vergessener Reflex ankündigt, die bloße Variation eines medial ausgelösten Mienenspiels, nichts als eine Like-Ranking-Bekundung, mit tausenden Facebookern und Youtubern gesharet, womöglich gilt es wieder einmal einem heftig sich aufdrängenden Katzen-Video.

Finger-Anwendungen im Wandel der Zeit

Was ging der digitalen — ja eigentlich fingerfertigen — Kommunikationstechnologie voraus? Ein paar kurze Cuts dazu, Erinnerungsstücke, Fingerübungen aus einer noch nicht geschriebenen Geschichte des Körpers.

In meiner Kindheit gab es auf dem Land die Kartoffelferien: Zahlreiche Menschen waren auf dem Feldern und lasen aus den gepflügten Furchen die Kartoffeln auf. Eine flirrende Gemeinschaft, ein Enssemble von Fingern und gebeugten Körpern. Ein soziales Miteinander jedenfalls, das später fast abrupt verloren ging — was mir zu Bewusstsein kam, als ich dann als Zuschauer eines Karnevalzuges eine alte Frau sah, die sich in ähnlicher Weise zur Erde beugte, um die Kamellen aufzulesen. Mit gekrümmten Fingern über den Betonboden fahrend, um der Welt ein bisschen abzutrotzen.

Etwas Aufgelesenes, Lesbares, Erlesenes. Zuletzt dann noch Finger in anderer Funktion: über eine Schreibmaschine gebeugt so, dass jeder Finger separat in abgespreiztem Winkel zur Hand auf Einsatz lauert, auf dass sich eine Art sperriger „digitaler“ Gesamtkomposition ergibt, wobei ein Teil des Gehirns die Befehle gibt für den Einsatz der Finger, die mal langsamer, mal schneller herunterfahren auf die Tasten, von Unterarmsehnen zusätzlich angetrieben, die selbst schmerzen, so dass der Schreibende kurz beide Hände über der Maschine schweben lässt, sie dann leicht schüttelt, um sie zu entlasten. Da kommt mir ein Walter-Benjamin-Zitat in den Sinn — wie immer in dieser Benjaminschen Heftigkeit, aus der plötzlich Klarheit hervorgeht:

„Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variabler Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der befehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen.“

Frage an uns: Können wir ermessen, wie diese Innervation der befehlenden Finger heute noch einwirkt auf den Prozess des Schreibens, zumal wenn sich, ohne dass sich nennenswert Widerspruch regt, das „Texten“ immer mehr durchsetzt und an die Stelle des Schreibens tritt?

Und sich sogleich spezifiziert und limitiert mit Ausprägungen wie „antexten“, „zutexten“ oder „vertexten“. Gibt es auch schon „abtexten“? Die Welt wird zum Text — so hieß es nach der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg schon einmal; heute besagt das: die Welt wird gesendet, empfangen, gelöscht und wieder hergestellt.

Wer vermag sie in dieser Fluktuation noch zu entziffern, so wie es die Denker wollten? Spiegelt sich in diesem Geschehen überhaupt noch das bekannte Diktum Ludwig Wittgensteins: Die Welt ist alles, was der Fall ist ? — Was ist der Fall ? Wie steht der Text zum Denken und zum Gefühl? Irgendwo in einem Zeitungstext aufgeschnappt dies: „Früher war es so: Ich hatte ein Gefühl und sendete einen Text. Heute ist es so: ich möchte ein Gefühl bekommen und deshalb sende ich einen Text.“

Was macht aus digital Digitalisierung ?

Noch einmal Tim Berners Lee: der Mann erfand 1993 das Internet, um im engen Kreis der Universität leichtere Verbindungen zwischen Fachkollegen herzustellen. Das endete in einer weltweiten Community und unzähligen Anwendungen, in denen sich menschliche Intentionen und Medien kreuzten — ja bis zur Unkenntlichkeit einander assimilierten. Je mehr das gelang, desto mehr lief das auf einen Prozess hinaus, der mit dem Wort „Digitalisierung“ gekennzeichnet wurde. Digitalisierung: einmal mehr ein scheinbar harmloser Begriff. Er hat inzwischen die Oberhoheit im Diskurs um den Lauf der Welt übernommen.

Als Paradigma einer Zeitenwende, einem Strom gleich, in dem alles mitgerissen wird. Es ist nicht mehr der Strom Heraklits, der bedächtig fließt und der doch nie derselbe bleibt, aus dessen Differenz sich also die Zeit speist. Wer lenkt heute diesen Strom? Wie lässt sich darauf surfen? Wer ist das Subjekt dieses Prozesses? Der Mensch, die Maschine oder der Algorithmus? Wer kommt diesen Prozessen bei — bringt sie in eine Analogie zu dem, was wir waren, wer wir sind und wohin wir gehen, zu dem, was wir als die Welt kennen ?

Kommen wir dem bei mit den alten Werkzeuge der Aufklärung, die sich in ihrer Kritik an der Digitalisierung auf politisch Verwertbares beschränken, auf Datenmissbrauch und Kontrollverlust — oder in ihrer Hoffnung an die Möglichkeiten erinnert, die sich dadurch auftun?

Offensichtlich geht es darum, in einer gänzlich durchdigitalisierten Welt Orientierungen zu finden, die den Menschen nicht als Opfer zurücklassen, sondern als eine Art artistisches Subjekt retten wollen — besser noch als Lebenskünstler, der in einem bestimmten Milieu beheimatet ist. Das Kontinuum der Zeit wird dabei allerdings aufgelöst. Sie strebt für diesen Lebenskünstler keinem Telos mehr zu, keiner Wiederkehr des Gleichen, orientiert sich an keinem mythischen Ursprung mehr, ein paradoxes Krisenphänomen vom Provisorium der Gegenwart aus betrachtet, „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“— so lautete der Titel von Alexander Kluges Film, in dem wir eine Familie vor ihrem Computer sitzen sahen, verbunden mit ihm in der Magie einer teilbaren Einsamkeit.

Allerdings war auch dies nur noch ein Abklatsch der Erzählrunde bei den Hominiden. Und heute? Ist unsere Welt unerzählbar geworden ? Und wenn nicht erzählbar, besser aufgehoben bei den Moderatoren und Mediatoren, den neuen Artisten des Daseins, die auf dem Flow der Gegenwart surfen, gestählt gegen die Wellen des Paradoxen und die Anmutungen der Geschichte. Was bedeutet dann Erinnerung, wenn alles zusammenschnurrt auf ein hochgefahrenes, hocherhitztes Jetzt, in dem alles mit allem kommuniziert?

Ein letztes Bild gegen den Strom der unerzählbaren Welt

Wer den Menschen in seinem tiefsten Wesen erkennen will, sollte sich auf eines seiner Augen konzentrieren, am besten in der Perspektive einer handlichen Digital-Kamera, die heute schon für interessierte Laien ohne allzu großen finanziellen Aufwand zu erwerben ist. Glücklicherweise kommt sie dem Auge sehr nahe und kann so auch ihren Fokus nur wenige Zoll unterhalb des oberen Backenknochens gelegen auf das besagte Auge richten. So etwas gab es früher noch nicht.

So späht der Kameramann und später der Zuschauer über eine leichte blaßroserne Wölbung unmittelbar in ein durchfurchtes, fast netzförmiges leicht befeuchtetes Haut-Tal direkt unterhalb des Auges und schon erhebt sich der Augapfel, leicht verdeckt vom Augenlid, in einer erschütternden Größe und zugleich Hilflosigkeit, die noch an kreatürlicher Wucht gewinnt, weil im beobachteten Auge eine flackernde Unruhe aufkommt durch die zuckenden Pupillen und ein Licht-Schattenspiel darauf. Das einfallende Licht wird durch die durchsichtige Hornhaut geleitet, die die Lichtstreuung schon minimiert. Durch die Pupille treffen die elektromagnetischen Wellen auf die flexible Linse und auf die Netzhaut mit ihrem Netzwerk aus sechs verschiedenen Nervenzelltypen.

Nach einer Verarbeitung und Neuausrichtung durch die Neuronen verlassen die elektrischen Signale das Auge über den Sehnerv. Von dort gelangen sie in den Thalamus. Von dort weiter über die Sehbahn zum primären visuellen Cortex, dem Zwischenhirn. Der die Kamera Führende ermüdet durch die ungünstige Stellung, die er bei der Aufnahme des Auges einnimmt, er reißt schließlich gereizt die Kamera herum — und es ist genau dieser Augenblick, in dem das Auge, das er im Fokus hat, zum Augentier wird, wo durch die überrissene Bewegung der Kamera eine animalische Verletzlichkeit sichtbar wird und im Auge des Betrachters, des Kameramanns jetzt, auch des Zuschauers später, ein Wesen sich offenbart, ein Wesen, vor dem der Unterschied zwischen Mensch und Tier, Oben und Unten in sich zusammenfällt und aus Bildern ganz plötzlich wieder Geschichten werden.

„An den Flüssen Babylons, da saßen wir und weinten“, beginnt ein alter Text, der mit den Texten heute kaum noch etwas gemein hat. Er zeigt schon in seiner Melodik eine Erzählhaltung an, die auf beschwörenden Sinn zielt. Wie einst.

Wir sehnen uns nach Mythen — somit nach etwas, dessen wir heute am meisten ermangeln. Wie geht der unaufhaltsame Prozess der Digitalisierung mit diesem Mangel um? Bringt er ihn zum Verschwinden, indem wir ihn nicht mehr spüren? — Oder ersetzt er die alten Mythen durch neue?


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