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Worthülsen statt Wissensvermittlung

Worthülsen statt Wissensvermittlung

Die „Kompetenzorientierung“ im Bildungswesen bewirkt seit mehr als 20 Jahren das Gegenteil ihres Anspruchs.

Roberto De Lapuente: Seit geraumer Zeit hört man oft, dass in Schulen Kompetenzen vermittelt werden sollen. Als ich zur Schule ging, da gab es Lehrstoff, den sie uns beibringen wollten. Haben sich nur die Begriffe verändert — oder auch die Schwerpunkte?

Aaron Richter: Es haben sich durchaus auch die Schwerpunkte verändert, nur leider nicht zum Positiven. Die „Bildungswissenschaften“, wie der universitäre Zweig der Pädagogik heute heißt, verstehen ihre Aufgabe seit circa 20 Jahren dahingehend, Schülerinnen und Schüler mit Kompetenzen auszustatten, statt ihnen bloß „totes Wissen“ zu vermitteln.

Was im Ansatz wie eine logische Entwicklung klingt, ist eigentlich ein Etikettenschwindel: Denn natürlich wurden auch in den 1970er-Jahren bereits Kompetenzen entwickelt und geschult. Es ist schließlich so, dass eine Fähigkeit — also etwa Lesen, Rechnen oder Urteile bilden — immer erst am Gegenstand reift. Für die Pädagogen vergangener Jahrzehnte lag daher der Fokus auf den Materialien: Welche Rechenaufgaben, welche historischen Quellen, welche biologischen Schaubilder führen am direktesten zu meinem Unterrichtsziel? Man hat sich darauf verlassen, dass eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung auch die dafür erforderlichen Fähigkeiten herausbilden oder verbessern wird.

Und das ist heute anders gelagert?

Ja. Während also bis in die frühen 2000er die schulischen Inhalte Vorrang hatten und ihre Bearbeitung nachgelagert war, kehrte die Kompetenzorientierung dieses Verhältnis um. Ziel des Unterrichts ist jetzt eben nicht mehr der Lehrstoff, sondern eine Fähigkeit, die man gebrauchen könnte, um ähnliche Inhalte zu bearbeiten.

Die heutigen Bildungsziele der Schule lauten also nicht mehr: binomische Formeln, Fotosynthese oder Französische Revolution, sondern „Teambuilding“, „Lesekompetenz“ und „Medienkompetenz“. Mit einem Satz: Die Kompetenzorientierung hat die Mittel des Unterrichts zu dessen Zweck erhoben.

Was hatte das für Folgen?

Damit einher ging eine Abwertung der Vorstellung, dass die Schule einen gesellschaftlichen Wissenskanon vermitteln soll; dieses Konzept gilt vielen Bildungswissenschaftlern heute als rückständig und paternalistisch. Stattdessen sieht man sich gerne in der Rolle des fortschrittlichen Pioniers, der endlich das sture Lernen überkommt.

Mächtig stolz ist man daher auf den Begriff der „Kompetenzen“, der im Grunde aussagt: Was du nicht weißt, kannst du dir dank deiner schulischen Ausbildung einfach selbst erarbeiten — angeblich ganz ohne Paukerei.

Versteht sich Schule nach diesem Konzept also als eine Art „Anleitung zum Selberlernen“? Oder gar zum „Wissen, wo man nachschlagen muss“?

Ja. Albert Einstein soll einmal lapidar gesagt haben: „Wissen heißt, wissen, wo es geschrieben steht.“ Nach diesem Motto agiert die Kompetenzpädagogik. In einer schnelllebigen, hoch technisierten Industrienation erscheint das ja auch attraktiv. Schließlich stehen junge Menschen heute vor der Paradoxie, dass die profitabelsten Branchen — Software, Medizin, Finance — Spezialwissen voraussetzen; doch der Berufsweg dorthin führt in der Regel über das Abitur, dessen eigentlicher Zweck die „Allgemeine Hochschulreife“ ist. Insofern passen der historische Anspruch des Gymnasiums und die heutige Berufswelt scheinbar nicht zusammen.

Die Kompetenzpädagogik verspricht als Antwort darauf eine breite Palette an bunten Befähigungen, die letztlich für jeden Beruf gleichermaßen qualifizieren sollen. Insofern richtet die Kompetenzpädagogik ihre Inhalte übrigens nicht an gesellschaftlichen Idealen aus, sondern an den Anforderungen der Wirtschaft.

Dass auf diese Weise letztlich weniger Inhalte gelernt werden als zuvor, ist ein Grund dafür, weshalb der Standard des deutschen Abiturs in den letzten Jahren stetig gesunken ist. Wer beispielsweise als Deutscher in der Schweiz Mathematik studieren möchte, muss einen Aufnahmetest bestehen, zu dem ein Schweizer Kandidat nicht einmal antreten muss.

Was spricht denn gegen eine Bildungsausrichtung nach wirtschaftlichen Vorstellungen?

Eine klassische humanistische Bildung würde nicht nur die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Wer Autoren wie Immanuel Kant gelesen und verstanden hat, dem darf man auch eine gewisse „Lesekompetenz“ unterstellen. Lesekompetenz ist hier nur die Begleiterscheinung einer inhaltlich-philosophischen Beschäftigung.

Wer so gebildet wird, verfügt am Ende über beides: Wissen und Können. Wer aber nach den Maßstäben der Kompetenzpädagogik gebildet wird, der lernt nur eines: Im Zweifelsfall kann ich ja googeln. Ich überspitze etwas, aber das Prinzip bleibt gleich; die Kompetenzorientierung entschuldigt letztlich die Kapitulation vor der Komplexität.

Wie kam es zur Kompetenzschulung? Wer hat dieses Konzept entwickelt?

Die Kompetenzschulung geht auf ein circa 200 Seiten umfassendes Richtungspapier zurück, das 2003 unter dem Titel „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ unter Federführung des Bildungswissenschaftlers Eckhard Klieme entwickelt wurde. Impulsgeberin war die damals amtierende Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD).

Die erste PISA-Studie war kurz zuvor veröffentlicht worden und hatte eine Schockwelle in Deutschland ausgelöst: „Die neue Bildungskatastrophe“ titelte beispielsweise der SPIEGEL. Da deutsche Schüler im europäischen Vergleich bemerkenswert schlecht abgeschnitten hatten, sah die Politik sich im Zugzwang, mit neuen Konzepten nachzuziehen. Alte Lehrpläne sollten „entschlackt“ und die Bildungsziele neu formuliert werden. Die Stunde der Kompetenzorientierung hatte geschlagen.

Hat sich das auf den Beruf des Lehrers ausgewirkt?

Vor allem schlägt es sich in der Lehrerbildung nieder. Das geht, wie angedeutet, schon in der Universität los. Auch die Lehrpläne enthalten oft nur noch grobe Beschreibungen von Kompetenzzielen statt konkreter Themenfelder. Vor allem aber regiert die Kompetenzorientierung das Referendariat. Statt — wie in den späten 1990er-Jahren — konkrete Lernziele einzeln aufzulisten, müssen Referendare ihre Unterrichtsentwürfe heutzutage mit Kompetenzen rechtfertigen. Das klingt dann beispielsweise so:

„Indem die Schülerinnen und Schüler erklären können, inwiefern Staatsbankrott, ungerechtes Steuersystem, politische Machtlosigkeit des Dritten Standes und Reformunfähigkeit des absolutistischen Königs zur Staatskrise in Frankreich führen, erweitern sie ihre Fähigkeit zu multifaktoriellem Sachurteil als Bestandteil von Urteilskompetenz“ (1).

Man merkt: Ein solches Ziel ist nicht nur unhandlich, es bleibt auch vage. Für keine der gängigen Kompetenzen, die im Unterricht geschult werden sollen, gibt es eine einheitliche Definition. Im Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg von 2004 finden sich beispielsweise mehr als 1.800 Kompetenzbegriffe. Ich habe in der Praxis selbst erlebt, dass Referendare sich diese Beschreibungen auch heute noch aus den Fingern saugen. Daraus resultiert eine frappierende Beliebigkeit der Zielsetzungen, die deshalb auch schlechter überprüft werden können.

Das klingt nach einer Spirale des Bildungsniedergangs.

Es ist tatsächlich ein Teufelskreis. Dass mit der Kompetenzorientierung Mittel und Zweck des Unterrichts vertauscht wurden, hat für angehende Lehrer eine verhängnisvolle Entwicklung in Gang gesetzt:

Das Lehramtsstudium gibt kaum noch Anreize zur eigenständigen Materialerstellung, aber viele Anreize für schwammige Kompetenzbegriffe; frischgebackene Referendare sind daher mit unterrichtspraktischen Fragen oft überfordert.

In dieser Not wird die Orientierung an Schulbüchern wichtiger; diese richten sich aber an den sinkenden Standards der Lehrpläne aus. Also nimmt das Niveau der Inhalte insgesamt ab, und so verschlechtern sich auch die Fähigkeiten zur Bearbeitung solcher Inhalte. Wenn man diese systemischen Zusammenhänge betrachtet, wird der Rückgang des Bildungsniveaus in Deutschland begreiflich. Von den Lehrern der 1970er, die ihre Materialien mit deutlich weniger technischen Möglichkeiten als heute selbst erstellten, ist jedenfalls kaum etwas übriggeblieben.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Die Kompetenzorientierung hat die Mittel des Unterrichts zu dessen Zweck erhoben“ beim Overton-Magazin, dem Onlineformat des Westend-Verlags.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Meyer, Helmut (2014): Von den Lernzielen über die Kompetenzen zu den Lernzielen? Der Fall Lena B. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 65 7/8, Seiten 472 bis 481, hier Seite 479.

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