Faschisten waren in der Stadt. Nicht so genannte, titulierte oder geschmähte Personen, nein: Faschisten, wahrhaftige Faschisten. Faschisten, die Stolz auf ihr Faschistensein ausstrahlen, die die alten Parolen skandieren, die traditionellen Lieder singen, die den Duce verehren und den Gruß zeigen, der in ihrem Heimatland als „römisch“ bezeichnet wird und hierzulande nach dem Autor des Bestsellers „Mein Kampf“ benannt ist.
Sie kamen aus Italien, aus der Capitale, der „Ewigen Stadt“, Anhänger des Fußballklubs Lazio, der vollständig gar SS Lazio heißt — was aber natürlich nicht für „Schutzstaffel“, sondern „Società Sportiva“ steht —, schlicht „Sportverein“. Nur ein Zufall, doch an vielen Wänden nahe dem Olympiastadion in Rom, das man sich mit dem verhassten Lokalrivalen AS Roma teilt, sind Lazio-Pinseleien mit „SS“ in Runenschrift zu sehen. Benito Mussolini selbst, der „Duce“, war Klubmitglied, und sein 21-jähriger Urenkel steht, nicht nur zur Freude mancher Lazio-Ultras, sondern auch zahlreicher Medien — es passt halt so schön ‒, ebenfalls bei Lazio unter Vertrag. Verwandtschaftliche Kontaktschuld gewissermaßen: Uropa war Diktator und ganz dick mit Adolf. Und dann agiert der junge Mann ausgerechnet noch als rechter Verteidiger.
Natürlich handelt es sich bei der Mehrheit der Lazio-Anhänger um normale Fußballfans; der Zuschauerschnitt liegt bei etwa 44.000. Nach Auflösung der mehrere tausend Mann umfassenden und die Nordkurve beherrschenden Gruppierung „Irriducibili“, der „Unbeugsamen“, im Februar 2020 sind spektakulär abscheuliche Vorfälle wie das gegen den Lokalrivalen gerichtete 18 Meter lange Transparent „Auschwitz ist eure Heimat, die Öfen euer Zuhause“ oder Sticker mit Fotomontagen, auf denen Anne Frank das gelb-rote Trikot der AS Roma trägt, zwar ausgeblieben, zu faschistischen und rassistischen Bekundungen kommt es aber aus der Curva Nord weiterhin.
Man schrieb den 4. März 2024. Faschisten waren in der Stadt. Etliche Faschisten. Ein Teil von ihnen traf sich in einem Bierkeller, dem Bierkeller der Stadt ─ im Hofbräuhaus. Sie labten sich am Bier, skandierten die alten Parolen, sangen die traditionellen Lieder und erhoben den rechten Arm zum römischen Gruß.
Bald, so viel war sicher, würden sie vor Ort sein, die Antifaschisten, die wehrhaften Verteidiger einer wehrhaften Demokratie. Sie würden „Nazis raus!“ skandieren, Schilder hochhalten, auf denen „München ist bunt!“ oder „Faschismus ist keine Meinung!“ steht, hätten den Kellnern vorgeworfen, Faschisten zu bedienen ‒ hatten jene doch im Nachgang geäußert:
„Wir hatten weder Kenntnis von faschistischen Liedern, die gesungen wurden, noch sind uns entsprechende Gesten der Gäste aufgefallen.“
Es würde rundgehen im und ums Hofbräuhaus, und die Demokratie würde als Sieger hervorgehen, denn sie ist bekanntlich wehrhaft. Die Zeitungen würden am nächsten Tag triumphierend darüber berichten, das Fernsehen erst recht, und in den sozialen Medien würden die Demonstranten als Helden gefeiert werden, als Verteidiger der Vielfalt und Hüter des Heiligen Demokratischen Gral.
Und so geschah es … nicht.
Es kam keiner. Tatsächlich niemand. Kein Demonstrant, kein wehrhafter Demokrat, kein tapferer Antifaschist. So konnten die Faschisten in Ruhe das berühmte Hofbräubier trinken — laut Eigenwerbung der Brauerei „goldfarben, vollmundig und mit einem feinen Hopfenaroma“ — und dazu Parolen skandieren, traditionelle Lieder singen und den römischen Gruß zeigen. Wegen Letzterem wurde ein Römer von der Münchner Polizei kurzzeitig festgenommen ‒ das war’s. Am nächsten Abend verlor Lazio in der Allianz-Arena im Achtelfinale der Champions League gegen den FC Bayern, dann flogen die Faschisten ungeschmäht und unversehrt zurück in die italienische Hauptstadt.
Maul- und Tastaturhelden
So verhält es sich in der Zeit der digitalen Maul- und Tastaturhelden, die bei X und Instagram blumige Solidaritätsadressen und wüste Beschimpfungen verbreiten, die analoge Begegnung mit dem Hassobjekt jedoch meiden, außer in großer Überzahl wie jene Feministin, die beschlossen hatte, Träger von Rammstein-T-Shirts „anzupöbeln. Und ich finde, dass mehr Menschen das tun sollten. Täterschützer Konsequenzen für ihr Handeln spüren lassen, ist eine Grundlage der feministischen Praxis“. Allerdings, ganz geheuer war es ihr dann doch nicht, denn sie warnte die Nachahmer:
„Wichtig ist: Diese Kritik sollte nur an sicheren Orten geübt werden, mit anderen Menschen in direkter Umgebung. Rammstein-Fans sind ausgesprochen zarte Schneeflöckchen, die nicht gut mit Kritik an ihrem Idol umgehen können. Und Sicherheit geht immer vor.“
Oder es steigert sich zur narzisstischen Selbstüberhöhung, wenn die „Jusos in der SPD“ schreiben, sie sehen das Gedenken an den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg „kritisch. Stauffenberg handelte nicht aus antifaschistischen Werten, sondern wahrscheinlich, weil er Deutschland vor einer Niederlage im 2. Weltkrieg bewahren wollte. Stauffenberg war ein Nationalist, Antidemokrat und Antisemit, wie der Rest der Nazi-Bande auch. Das ist für uns kein anständiger Antifaschismus. Anständiger Antifaschismus ist, wenn unsere Genoss:innen (besonders im ländlichen Raum und Teilen ‚des Ostens‘) sich jeden Montag bei Wind und Wetter rechten und verschwörungsideologischen Aufmärschen entgegenstellen.“
Der unanständige Antifaschist wurde nach seinem missglückten Versuch, einen Diktator zu töten, erschossen, seine schwangere Ehefrau in ein Konzentrationslager deportiert und ihre vier Kinder in ein Kinderheim verbracht.
Die anständigen Antifaschisten demonstrieren bei auffrischendem Wind in Bautzen oder Grimma, bekommen Beleidigungen und möglicherweise einen Katarrh.
Und mehr ist dazu auch nicht zu sagen.
Panzer-Toni
Auch die Solidarität mit der Ukraine war groß, doch mittlerweile ist sie in Teilen der Bevölkerung im Abschwung begriffen, wie auch Rod Stewart bei seinen Konzerten im Juni 2024 in Leipzig und Budapest feststellen musste. Seinen Hit „Rhythm of My Heart“ kündigte er mit dem Ausruf „Fuck Putin!“ an, während des Songs waren auf der LED-Wand hinter Stewart Bilder aus dem Ukrainekrieg sowie die ukrainische Flagge zu sehen. Als am Ende ein Porträt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eingeblendet wurde und Stewart vor diesem salutierte, hagelte es Buhrufe und Pfiffe und nur eine Prise Applaus für den Sänger.
Selbstredend beschränkte sich die Solidarität mit der Ukraine meist auf Ukrainefähnchen im „X“-Account, Spenden von Kleidungsstücken und Haushaltsgegenständen, die man ohnehin nicht mehr benötigte, und breitbeinigen Sprüchen à la:
„Dieses kleine Arschloch in Russland, den soll beim Kacken der Schlag treffen.“
Im sicheren heimischen Hafen und im digitalen Gelände tummelten sich zuhauf Frontkämpfer und Militärexperten. Im analogen Sektor lehnte man sich ungern so weit aus dem Fenster — „Stay with Ukraine“ war ein Hit, „Go to Ukraine“ floppte.
Furore machte in diesem Zusammenhang Anton Hofreiter, Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Aufgrund seines Äußeren und seiner Mitgliedschaft bei den Grünen als klassischer Alternativer und Pazifist eingestuft, überraschte er mit seiner Forderung, deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine auszuweiten; er forderte:
„Wir müssen auch schwere Waffen liefern. Das ist Realpolitik in ihrer brutalsten Ausprägung.“ Seiner Einschätzung nach könnte die schnelle Lieferung von Panzern an die Ukraine den Krieg beenden und eine Ausweitung auf das Baltikum oder die Republik Moldau verhindern. Auch mit zusammengegoogeltem Wissen über Panzer versuchte Hofreiter zu glänzen, was an die typischen Fahrberichte aus Automagazinen erinnerte à la:
„Die grundsätzlich vom XM bekannte Kombi aus dem 585 PS starken 4,4-Liter großen Biturbo-V8 plus 197 PS starker E-Maschine im Achtgang-Automaten wirft maximal 727 PS und 1.000 Newtonmeter Systemleitung aus.“
Hofreiter:
„Der T-72 ist ein Kampfpanzer aus sowjetischer Entwicklung. Die Turmpanzerung ist bei späteren Modellen durch aufgesetzte Taschen mit Keramikeinlage verstärkt worden. Die übrige Panzerung besteht im Wesentlichen aus Panzerstahl.“
Dies alles brachte Hofreiter bald den Spitznamen „Panzer-Toni“ ein und die Frage, ob er denn selbst „gedient“, also bei der Bundeswehr Wehrdienst geleistet habe. Hofreiter antwortete, nein, er sei 1990 vom Bundeswehrarzt ausgemustert worden, weil sein rechtes Bein vier Zentimeter kürzer sei als das linke. Bei der Musterungskommission habe man ihm gesagt: „Sie können ja nicht einmal gerade stehen.“
Hofreiter betonte, er sei „immer sehr kritisch gegenüber militärischen Interventionen eingestellt, aber er sei nie Pazifist“ gewesen, und erzählte in einem Interview mit der Zeit, aus dem die Welt zitierte:
„Als Student der Botanik etwa sei er monatelang in Südamerika unterwegs gewesen und mehrmals von Banditen überrascht worden, die ihn mit Gewehren bedroht und seine Fotoapparate verlangt hätten. ‚Ich hatte immer eine Machete dabei und wollte natürlich meine Kameras nicht hergeben‘, sagt Hofreiter. ‚Einmal habe ich mein Stemmeisen aus der Tasche genommen und auf den Kopf des Anführers gerichtet. Seine Bande war stärker als ich, aber dem Anführer war sofort klar: Ihn hätte ich erwischt. So war der Konflikt schnell beendet.‘“
Da stellt sich bei der Lektüre doch Skepsis ein: Eine Machete gegen mehrere Gewehre? Und ein Stemmeisen gegen eine Bande, die beim Anblick des Werkzeugs und ihres bedrohten Anführers hastig kehrtmacht und auch nicht besser gerüstet zurückkehrt, um den bärtigen Gringo aufzumischen?
Es klingt — ohne dem tapferen Studenten der Botanik Unrecht tun zu wollen — ein wenig nach Stammtisch zu vorgerückter Stunde und vollgestrichenem Deckel. Mehr Räuber Hotzenplotz als Al Capone.
Kommentierende Helden
Aber wie auch immer. Jedenfalls wurde in so mancher Kommentarleiste unter Hofreiter-Artikeln und -Interviews die Frage gestellt, weshalb der wackere Bayer und all jene, die ähnlich argumentieren und viertel- bis halbgebildete Militärkenntnisse Gassi führen, sich nicht aufmachen Richtung Ostukraine, um den Russen mal zu zeigen, was ein wehrhafter Demokrat ist.
Ein vier Zentimeter kürzeres rechtes Bein ist kein Hindernis. In Kiew wären auch vierzig Zentimeter unproblematisch, denn allzu lange ist die Lebenserwartung der ukrainischen Soldaten nicht. Bei den Kämpfen in Bachmutbetrug sie vier Stunden, und momentan, wo wohl das letzte und kaum ausgebildete Aufgebot in den großen Menschenschredder namens Krieg geworfen wird, hat sich nicht viel verändert.
Mehr als die Hälfte der neu rekrutierten Kämpfer stirbt innerhalb weniger Tage nach ihrer Ankunft an der Front. Und oft sind es, wie in Bachmut, nur einige Stunden, bis die Männer euphemistisch als „Gefallene“ kategorisiert werden. Kein Wunder, dass die noch nicht zum Kriegsdienst eingezogenen ukrainischen Männer mit allen Mitteln versuchen, der Rekrutierung zu entgehen, denn unzählige Videos kursieren, die zeigen, wie Zivilisten auf der Straße von Uniformierten festgenommen und brutal in Autos gezerrt werden. Die Männer verstecken sich, bewegen sich nur mit Spähern aus dem Familienkreis in der Öffentlichkeit oder warnen sich in Chat-Gruppen auf Telegram vor den Patrouillen der Rekrutierungsbeamten. Und als letztes Mittel bleibt immer noch die Bestechung, wobei sich die Summen zwischen 800 und 5.000 Euro bewegen.
Nun, niemand hierzulande muss sich in den fast sicheren Tod in der Ukraine begeben oder sich mit faschistischen Fußballultras prügeln. Was allerdings abstößt, ist dieser martialische Scheinmut der Internet-Polterer und Digital-Wutbürger, der Demonstranten mit Pappschildern, die weit über 2.000 Kilometer von Moskau entfernt „Fuck Putin!“ rufen und sich in Lichterketten an sich selbst berauschen — oder gar, wie im Kommentarbereich der verlinkten Artikel, über ukrainische Männer, die der Rekrutierung entkommen wollen, äußern: „Die Helden des Landes (...) Feiglinge und korrupt.“ Oder das Massensterben der ukrainischen Soldaten betreffend: „Ist doch völlig egal. Hauptsache, sie gewinnen gegen die russischen Terroristen. Egal, wie!“
Wäre der kommentierende Leser einer der vielen toten Soldaten — und dies betrifft natürlich auch den Schützen Arsch im letzten Glied auf russischer Seite —, wäre es ihm eventuell doch nicht „völlig egal“. All jene, die unaufhörlich fordern, „die Ukraine muss den Krieg gewinnen“, die auf Feiglinge und Deserteure schimpfen und den fehlenden Heldenmut geißeln, würden, beträfe die Realität des Krieges einmal sie selbst, alles unternehmen, dass sie sich dem entziehen könnten. Ihr „Mut“ scheut jedes Risiko. Ihr „Mut“ beweist sich im Nahkampf aus sicherer Entfernung. Ihr „Mut“ ist ein So-tun-als-ob. Wie es schon in einem Lied von Heinz Rudolf Kunze heißt: „Lass mich nur so tun als ob, nur bis hierhin und dann stopp.“ Die westlichen Werte werden in der Ukraine verteidigt, heißt es im amtlichen Narrativ ─ doch nicht durch den Westen selbst, der lässt verteidigen. Und viele seiner Bewohner, die friedlich und sicher leben, zetern dekadent aus der Ferne über Ukrainer, die keine Lust haben, sich zeitnah die Radieschen von unten anzusehen.
Aber kein Wunder — des Deutschen Front ist die Couch. So sagt es ein gewisser Anton Lehmann, „im Einsatz 2020 in Chemnitz, Sachsen“, der an den „Corona-Winter 2020“ zurückdenkt in oft parodierten, aber nie erreichten Videos der Bundesregierung:
„Also fassten wir alle unseren Mut zusammen und taten, was von uns erwartet wurde ─ das einzig Richtige: Wir taten nichts, absolut gar nichts. Wir waren faul wie die Waschbären. Tage- und nächtelang blieben wir auf unserem Arsch zu Hause und kämpften gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Unsere Couch war die Front (…). So wurden wir zu Helden.“
In einem weiteren Video erinnert sich die Frau des Mannes, genannt Luise Lehmann, ebenfalls angeblich „im Einsatz 2020 in Chemnitz, Sachsen“:
„Wir fassten uns ein Herz und taten nix. (…) Wenn Sie mich heute fragen, wie wir jungen Leute das damals ausgehalten haben und so tapfer zu Hause rumgammeln konnten ─ vielleicht stimmte es, wenn die Leute damals sagten, besondere Zeiten brauchen besondere Helden. Und weiß Gott, ja, das waren wir. Wir waren besondere Helden.“
All die demonstrierenden Elitekämpfer auf deutschen Markt- und Rathausplätzen, all die scharf schießenden Schützen in den Kommentarbereichen — die dabei sogar noch die Netiquette beachten — und all die Daumen drückenden Pioniere mit gelb-blauen Fähnchen, ja, sie sind in der Tat besondere Helden. Ganz besondere Helden.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.