Die Erzherzog-Karl-Straße in Wien-Donaustadt ist eine der längsten Straßen Wiens. Unlängst bin ich mit meinem verbrennungsmotorgetriebenen, zehn Jahre alten Pkw diese kilometerlange Straße von Wien-Donaustadt nach Groß-Enzersdorf gefahren, und dabei ist mir ein Plakat aufgefallen, welches sehr oft affichiert war. Die Botschaft auf dem Plakat besteht aus einer Wortkette, einer Aufforderung an den Betrachter in der lockeren, zeitgemäßen Du-Form. — Die höfliche, respektvolle Anrede mit „Sie“ gilt heutzutage als „spießig“ und wird nur mehr gebraucht, wenn Journalisten mit Politikern reden. Denn Medien, die oft von sich selbst behaupten, eine objektive vierte Gewalt im Staat zu sein, sollten nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich mit Politikerinnen und Politikern verbünden.
Das Plakatsujet besteht aus zwei Teilen: Das erste Sujet zeigt einen jungen Mann — oder es könnte auch eine junge Frau sein — oder transgender/queer. Egal … — jedenfalls ist auf dem Plakatsujet ein Mensch mit langen Haaren abgebildet. Das Model auf dem Plakat hat die Augen geschlossen; die Message besteht aus einer Wortkette, welcher ein Rautezeichen in Form eines Doppelkreuzes, eines Hashtags (#) vorangestellt wurde. Ein Hashtag dient zur Kommunikation innerhalb von sozialen Netzwerken, wie etwa Twitter, Facebook/Meta, Instagram. Die doppelgekreuzte Wortkette auf dem ersten Plakat besteht aus dem Befehl: #glaubandich. Beim zweiten Plakat, welches unmittelbar daneben auf ebenfalls 24 Bogen platziert ist, hat dieselbe Person die Augen geöffnet, ihr Blick ist vom Betrachter abgewendet. Die Zielgruppe wird mittels eines Wortketten-Imperativs hinter dem Hashtag #glaubanmorgen aufgefordert, an morgen zu glauben.
#glaubandich #glaubanmorgen
Bei der Suche nach dem Absender der Werbung stellt man mit einiger Überraschung fest, dass das keine Marketingkampagne ist, die etwa ein Clearance-Coaching irgendeiner Religionsgemeinschaft wie Scientology verkaufen will, sondern es sich tatsächlich um bezahlte Werbung einer Bank handelt. Die Aufforderung der beiden Plakat-Tags ist denkbar simpel: „Glaub an dich! Glaub an morgen!“ — Tag Lines, vom englischen Tagging für „anheften, etikettieren“ und Line für „Zeile“, sind kurze Claims, also Marketing-Behauptungen zur Veranschaulichung eines Gedankens oder einer dramatischen Wirkung.
„Schau auf dich, schau auf mich!“ — und ab in den Hausarrest …
Das #glaubandich #glaubanmorgen erinnert ein wenig an „Schau auf dich, schau auf mich!“, mit dem die Propagandisten die Bevölkerung in Österreich durch die Lockdowns begleitet hatten. Auch für die Hausarrest-Anweisungen — sie wurden Wochen später vom österreichischen Verfassungsgerichtshof als rechtswidrig aufgehoben — wählten die Propagandisten die Befehlsform des Imperativs. Die Zielgruppe der Zwangsmaßnahmen wurde schon damals in der respektreduzierten „Du“- Form angesprochen. Im Gegensatz zur Bankenwerbung handelte es sich bei der Lockdown-Kampagne jedoch nicht um Werbung, sondern um strafbewehrte Anordnungen der Staatsexekutive. Der Content von „Schau auf dich, schau auf mich!“ war einfach und radikal: Bleib gefälligst zu Hause und treffe keine Familienangehörigen!
„Geht‘s impfen!“
Die nächste Grenzlinie für Höflichkeit und Respekt in der Werbung wurde seit Anfang Oktober 2021 durch die Kampagne „Geht‘s impfen!“ der Initiative „Österreich impft“ überschritten. — Hier adressiert man die Zielgruppe der Bevölkerung, gemäß der österreichischen Bundesverfassung den „Souverän“, nicht mehr als selbstbestimmtes, freies Individuum, sondern geht die Menschen gleich frontal und schnörkellos im Kollektiv an. — „Geht‘s impfen! Bevor es zu spät ist!“ Für was ist es zu spät? Zu spät für Höflichkeit und Respekt, die man den Bürgerinnen und Bürgern, die arbeiten und Steuern für den Staat erwirtschaften, in der präcoronalen Zeit als Selbstverständlichkeit immer entgegengebracht hat?
Der alte, weiße Mann mit dem bösen Verbrennungsmotor
Wenn ein „alter weißer Mann“ mit dem Marketingbackground von dreieinhalb Jahrzehnten in der Lebensmittelindustrie in seinem Pkw mit einem alten, bösen Verbrennungsmotor die kilometerlange Erzherzog-Karl-Straße entlangfährt und dabei durchschnittlich alle 500 Meter mit dem großen Doppelplakat der Morgenglaubenbank konfrontiert wird, wo er bedeutungsschwer in Befehlsform aufgefordert wird, an sich selbst und an morgen zu glauben, erschließt sich ihm als Marketingprofi ausreichend Zeit, über den Zweck dieses Plakates zu rätseln, vor allem über das Konzept, das hinter der Kampagne steht, insbesondere den möglichen Nutzen für die Zielgruppen, also die potenziellen oder derzeitigen Kundinnen und Kunden der Bank.
Tante Jolesch und das Erzherzogspiel
In der Erzherzog-Karl-Straße in Verbindung mit dieser Bankenwerbung musste ich zunächst an das amüsante Erzherzogspiel der Wiener Kaffeehausliteraten denken, welches Friedrich Torberg in seiner Literatursammlung der Tante Jolesch beschrieb, wo es darum ging, dem Erzherzog eine möglichst einfache Testfrage zu stellen und die zumeist unsäglich falsche Antwort des Erzherzogs vom Fragenden mit einer möglichst noch unsinnigeren Begründung in humorvoller Auflösung als „richtig“ zu bewerten. Die Moral des Spiels: Der Erzherzog, der Mächtige, hat immer recht, selbst wenn er ein Trottel wäre. Ein Spiel für Intellektuelle mit hohem Spaßfaktor.
Wo bleibt das Nutzenversprechen der Bank?
Aber im Ernst: Sehr geehrte Bankiers, liebe „Sparkasse“: Was, bitte, wollen Sie uns denn mit dieser Marketingkampagne sagen? — Ich verwende bewusst das respektvolle „Sie“ für diese Frage, denn Banken sind mächtig und schlau und können Giralgeld und Fiatgeld aus dem Nichts schaffen.
Nochmals, politisch voll korrekt und gegendert: Verehrte BankierInnen: „Glaub an dich — glaub an morgen“. Ist das ein Nutzenversprechen an eure KundInnen? Bis zum Auftauchen Eures Plakates dachte ich immer, dass das Geschäftsmodell einer Geschäftsbank, der Revenue-Stream, darauf beruht, Geld an Kreditnehmer gegen Zinsen zu verleihen.
Glücklicherweise handelt es sich bei der Morgenglaubenbank um ein seriöses Kreditinstitut mit jahrhundertelangem Renommee und nicht um eine jener Hedgefonds Banken, Marke „too big to fail“, die 2008, um einen globalen Finanzcrash zu vermeiden, mit Steuergeldern gerettet werden mussten, weil sie sich mit Derivaten (Wetten) und Leerverkäufen — man verkauft Wertpapiere zum Termin, die man selbst beim Datum des Vertragsabschlusses nicht besitzt — verspekuliert hatten.
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen im Bankmarketing: Was ist der Consumer Benefit, der Nutzen für einen Bankkunden, der Aufforderung der Bank zu folgen und an sich und an morgen zu glauben? Ist der Selbst- und Morgenglaube die Unique Service Proposition (USP) — das einzigartige Dienstleistungsversprechen — einer Bank? Ist es einer Bank tatsächlich wichtiger, dass ihre Kreditnehmer an morgen „glauben“ als dass sie ihre Bankkredite zurückzahlen können? Man kann über morgen nachdenken, man kann für morgen planen. Das kann sinnvoll sein, etwa um sich auf einen Blackout vorzubereiten, vor dem uns die Medien und das Bundesheer in jüngster Zeit auffallend oft warnen. Aber worin besteht bitte der Nutzen, an „morgen“ zu glauben?
Schöne neue Welt der öffentlich-privaten Zusammenarbeit
Was bedeutet das Wort „glauben“ in diesem Zusammenhang? Im Online-Lexikon findet mehr als 500 Synonyme, die meisten in den Kategorien „Ideologie — Überzeugung — Weltanschauung — Religion“.
Bekommt man einen Bankkredit neuerdings schon deshalb, bloß weil man an sich glaubt?
Oder ist dieser Glaube an sich selbst und an „morgen“, der Morgenglaube nur eine Façon de parler, eine bloße Redensart, ein neues Framing, wie wir es so oft seit fast zwei Jahren in der politischen und wirtschaftlichen Welt der Private-Public-Partnerships beobachten können? Seit der Coronakrise erleben wir in steigender Intensität und Ausformung, dass private Unternehmen öffentliche Aufgaben des Staates übernommen haben, beispielsweise die Zensur von Inhalten durch private, marktbeherrschende, globale Plattformunternehmen wie Facebook/Meta und YouTube. Fangen jetzt auch Banken und Versicherungen an, uns Unterricht in Glaubenshaltungen zu geben?
In der vorcoronalen Zeit gab noch es eine klare Trennung zwischen den Glaubenssätzen der politischen Welt und dem Privaten. Diese Trennung der Realwelt der Wirtschaft von der Ideologie politischer Visionen wurde durch Corona aufgehoben. Verschiebt sich da gerade etwas, wie Welt-am-Sonntag-Herausgeber Stefan Aust Ende November 2020 in dem Artikel „Der Angriff des Staates auf das Private“ vermutete?
Gehört der Morgenglaube zu den Key Performance Indicators einer Bank?
Wäre es nach dem Beinahezusammenbruch des Finanzsystems 2007/2008, steigender Geldentwertung, Wettbewerbsverzerrungen durch „Quantitative Easing“ (Kauf bestimmter Unternehmensanleihen durch die EZB) und Negativzinsen für Spareinlagen für die Öffentlichkeit nach den Erfahrungen von 2007/2008 und der Hype Alpe Adria Pleite — Privatisierung von Bankgewinnen und Sozialisierung von Bankverlusten — nicht ein wesentlicher Key Performance Indicator, zu wissen, ob die Bank, der man sein Geld anvertraut, seriös finanziert ist?
Wie hoch das Eigenkapital einer Morgenglaubenbank in Prozent von der Gesamtsumme? Wie hoch ist der Zinssatz für Investitionskredite? Und was passiert, wenn der morgen- und selbstgläubige Kreditnehmer den Kredit nicht zurückzahlen kann? Reicht es zu einem erfolgreichen Leben, an sich selbst und an morgen zu glauben? Oder sollte ein Unternehmer, der ein Start-up gründen möchte, anstatt an sich selbst und „morgen“ zu glauben besser an einem innovativen Geschäftsmodell mit einzigartigem Customer Benefit und einem soliden Business Plan arbeiten — sodass nicht nur der Kreditnehmer selbst, sondern auch eine Geschäftsbank oder Investor überzeugt werden kann, dass der Business Plan auch morgen noch funktioniert?
An welches „Morgen“ möchte unsere Bank uns glauben lassen?
Wie sieht „das Morgen“, an das wir glauben sollen, eigentlich aus? Ist die Welt, in der wir morgen leben sollen, eine lineare Extrapolation der neuen Normalität? Wird es morgen, in der Welt der vierten industriellen Revolution, der künstlichen Intelligenz, der Simulation der Realität durch mediale Narrative, der Plattformökonomie und einem Dutzend weiterer Megatrends überhaupt noch einen Mittelstand geben? Wie sieht eine Welt ohne Klein- und Mittelbetriebe aus, nach einem Great Reset, wie es das World Economic Forum (WEF) auf seiner Website und WEF-Gründer Klaus Schwab in seinem Buch „Covid-19: The Great Reset“ erläutert?
Droht uns die Abschaffung der Geschäftsbanken und des Bargelds und ein „bedingungsloses (sic!) Grundeinkommen“ in Form eines Zentralbankkontos, welches an Bedingungen und soziales Wohlverhalten nach dem Chinesischem Social Credit System gekoppelt ist? Kommt der digital-korporative Sozialismus „You will own nothing and you‘ll be happy“, wie es das WEF in einem seiner Videos in verblüffender Deutlichkeit erläutert?
#glaubandich — Das Ego als Glaubensbekenntnis?
Ist das eigene Ego als Glaubensbekenntnis ausreichend bankentauglich? Was würde sich ändern, wenn man an einen morgigen Tag nicht „glauben“ würde, sondern stattdessen an morgen denken, für morgen planen würde? Wird „morgen“ nicht ohne den Glauben daran ohnehin stattfinden? Macht es Sinn, der Zukunft „morgengläubig“ und passiv anstatt aktiv planend und kritisch, aber in optimistischer Grundhaltung, entgegenzutreten?
Für jedes Wort gibt es ein Gegenwort, ein Antonym, welches das Gegenteil ausdrückt. Was wäre das Gegenwort zum Morgenglauben? … — #abendwissen?
Dass Geschäftsbanken mit der derzeitigen Zinspolitik und der Digitalisierung der Geschäftsmodelle für das Banking mit der analogen Kostenstruktur als Geschäftsbank mit dem Kreditgeschäft nicht mehr so profitabel sein können wie seit dem Beinahezusammenbruch des Finanzsystems vor 13 Jahren und durch ihre analoge Struktur unter enormen Kostendruck stehen, ist logisch. Aber die Morgenkampagne wirft die Frage auf, ob die Geschäftsbanken unter den derzeitigen Bedingungen auch „morgen“ überleben können. Und falls ja, welche Funktion werden sie ausüben? Werden Sie zum Vollzugsorgan ideologischer Transformationen in die Zeit der Voraufklärung, indem sie die Menschen mittels teurer Werbekampagnen auffordern, etwas zu glauben, anstatt etwas zu wissen?
Geld für Kredite der Realwirtschaft oder Glaube als Simulation?
Banken sind volkswirtschaftlich bedeutsame, profane, gewinnorientierte Unternehmen, die durch die Bankkonzession, die sie vom Staat erhalten haben, das Recht besitzen, Kredit zu schaffen und gegen Zinsen zu verleihen. Geschäftsbanken und Sparkassen erfüllen eine wichtige Funktion in einer freien Wirtschaft, vor allem für den Mittelstand, dem Rückgrat unserer Wirtschaft. Bleibt also zu hoffen, dass es Geschäftsbanken auch in Zukunft geben wird und Banken mit oder ohne den „Great Reset“ ihr Geschäftsmodell als Serviceorganisationen der Realwirtschaft in Zuge der Coronakrise nicht zu einer Art „Religionsgemeinschaft“ modellieren, um passives Glauben anstelle von aktivem, eigenverantwortlichem Denken zu propagieren.
Wohlstand kommt durch innovative, wohlüberlegte Geschäftskonzepte, die nicht durch „Glauben“, sondern durch kritisches, selbstbestimmtes Denken entstehen.
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