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Wende-Episoden

Wende-Episoden

Die Geschichte der Übernahme der DDR durch Westdeutschland ist eine Geschichte verpasster Chancen für wirklichen Wandel.

Die Opfer der DDR blieben auch später Opfer. Für sich selbst vertraten und vertreten auch heute oft wie unbewusst viele dieser Menschen diesen Anspruch, vor, während und nach der sogenannten Wende vor allem Opfer gewesen zu sein. Doch was für eine Art von Wende war das? War es nicht letztlich eine kollektive Hinwendung zu dem, das heute für Ausbeutung und Krieg verantwortlich ist?

Viele Details jener ereignisreichen Tage, in denen der Untergang der DDR — bis dahin geführt als zentralistischer Staat mit einer streng ideologischen Ausrichtung und dem absoluten Machtanspruch der „Partei der Arbeiterklasse“ — eingeleitet wurde, sind aus der Erinnerung und damit dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Aus diesem Grunde habe ich mir die Mühe gemacht, tief in meiner Erinnerung zu graben, um jene Zeit aus einer autobiografischen Sicht lebendiger zu machen.

Wenn von einer aufbegehrenden Zivilgesellschaft gesprochen wird, die als Ursache für den Sturz der SED-geführten DDR-Regierung auszumachen ist, dann geht das — so meine ich — ein Stück an der Realität vorbei. Das ignoriert keinesfalls das Engagement von Einzelpersonen und Gruppen aus der Friedens- und Umweltbewegung sowie der Kirche, die sich seit Jahren für eine andere DDR einsetzten. Doch waren diese politisch aktiven Menschen bis zum Oktober 1989 eine kleine Minderheit — und blieben es darüber hinaus auch. Eine Veränderung der DDR, dem ein Wandel im öffentlichen Bewusstsein voranging, stand trotzdem an und hatte bereits begonnen. Die Ereignisse ab Sommer 1989 gaben diesem Prozess allerdings eine andere Richtung, eine für die wir DDR-Bürger immer empfänglich waren.

Aufstand mündiger Bürger?

Am Mittwoch, dem 4. Oktober 1989, kehrten wir — ein Kollege und ich — spät abends von einer LKW-Fernfahrt zurück und durchquerten die Dresdner Innenstadt. Wir verstanden nicht wirklich, was da vor sich ging. Der Bereich zwischen Prager Straße und Hauptbahnhof war — nach 22 Uhr war das damals völlig ungewöhnlich — mit unglaublich vielen Menschen bevölkert. An in überbordender Menge auftretende Polizei oder andere Sicherheitskräfte kann ich mich nicht erinnern. Es gab auch keine Straßensperrungen. Wir fuhren direkt am Dresdner Hauptbahnhof vorbei und durch dessen beide Brücken hindurch.

Direkt am Bahnhof sahen wir Massen von Menschen — zum imposanten Bahnhofsgebäude hin eine überschaubare Anzahl Polizisten, davor „andere Leute“. Wie gesagt, war uns in diesem Augenblick unklar, was da vor sich ging. Als wir nach Passieren der Bahnbrücken links auf die Strehlener Straße abbogen, staunten wir nicht schlecht.

Auf der gesamten Straße waren Dutzende, wenn nicht Hunderte Fahrzeuge kreuz und quer, also wild geparkt. Dutzende Menschen liefen — nur mit Beuteln oder kleinen Taschen ausgerüstet — in Richtung Bahnhof. Sie und bereits früher Gekommene hatten die Autos so sinnfrei abgestellt, weil sie nicht beabsichtigten, diese jemals wieder zu nutzen. Hier lief etwas nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ ab, etwas das an eine Massenpsychose grenzte. Wir wussten nicht, dass sich Ähnliches — in etwas kleinerer Dimension — am Abend zuvor schon einmal abgespielt hatte. Die „Demonstranten“ am Bahnhof hatten in diesen Tagen nur eine Losung auf den Lippen: „Wir wollen raus!“ (1).

In dieser massenpsychologischen Befindlichkeit war kein Platz für Rationalität, für Abwägen und Reflexion des eigenen Tuns. Die Ausweisewilligen waren im wahrsten Sinne des Wortes im — per se emotionalen — Fluchtmodus und sie waren bereit, fast jeden Preis dafür zu zahlen. Sie waren auch bereit, sich und andere Menschen zu gefährden. Sie waren nicht Herr ihrer selbst.

Lassen wir an dieser Stelle offen, wie und warum es so weit gekommen war. Doch was den 2. bis 4. Oktober 1989 in Dresden betrifft, kann von einer Bürger- oder Demokratiebewegung, gar einer „friedlichen Revolution“ — der Begriff allein ist schon durchaus ein Widerspruch in sich — mitnichten gesprochen werden. An diesem, den 4. Oktober, ja selbst am folgenden Tag wussten wir noch nicht, dass die Gewalt keinesfalls von Polizisten ausgegangen war (2). Der Historiker Clemens Vollnhas meinte zu den damaligen Antrieben der „Revolution“:

„Die Kirchen waren keineswegs der Motor der Revolution. Der enorme Ausreisewille so vieler Menschen mit der Wut und dem Mut der Verzweifelten war die eigentliche Sprengkraft — und das unverhältnismäßige Reagieren des Staates darauf“ (3).

Was als unverhältnismäßig eingeschätzt werden darf, ist ein zweischneidiges Schwert und eine Differenzierung tut auch hier dringend Not. Der Dresdner Hauptbahnhof wurde am 4. Oktober 1989 von 20.000 Menschen belagert, von dem ein Teil versuchte, diesen zu stürmen. Die Polizisten, die sich im Bahnhof verbarrikadiert hatten und auf die Tausende Pflastersteine geworfen wurden, fürchteten um ihr Leben. Neben 46 verletzten Demonstranten, Ausreisewilligen und Randalierern wurden folgerichtig auch 106 verletzte Polizisten gezählt. Bei solch einem Verhältnis darf man zumindest kurz innehalten, wenn es um die Frage geht, wer die Gewalt vorantrieb (4).

In blinder Wut warfen gewalttätige Randalierer Steine nicht nur auf Polizisten, sondern auch auf völlig Unbeteiligte, so auf die Insassen einer Straßenbahn (5). Wenn Emotionen durchbrennen, können sich rasch Verhältnisse einstellen, wie man sie zum Beispiel in den Wochen bis Ende Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan erleben musste. Foto- und Filmdokumente der DDR-Staatssicherheit belegen eine Orgie der Zerstörung, statt Demonstrationen gegen die DDR-Führung (6).

Wie gesagt, geht es mir hier nicht darum, Schuldige zu präsentieren, sondern den Lesern die Möglichkeit zu geben, gedanklich und emotional in die damaligen Ereignisse in Dresden einzutauchen. Als ich am 5. Oktober erstmals auf die Straße ging, hatte ich ein Wissensdefizit, das ich mit vielen anderen Demonstranten teilte. Wir wussten nichts über das Ausmaß an Gewalt, die sich an den beiden Vortagen ganz in der Nähe ausgetobt hatte (7). Heben wir uns noch kurz die Begründung auf, warum das von so großer Bedeutung ist.

Wir glaubten der damaligen Systempresse nichts mehr, auch nicht als diese über die Ereignisse vom Vortag berichtete:

„Wie das Transportpolizeiamt Dresden informierte, kam es im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten von zeitweiligen Regelungen des Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR in den Morgenstunden des gestrigen Tages durch rowdyhaftes Verhalten von Personen zu Störungen der öffentlichen Ordnung auf dem Dresdner Hauptbahnhof (...). Dabei ereignete sich ein Unfall, bei dem eine Person durch einen ausfahrenden Leerzug schwer verletzt wurde“ (8).

Das entsprach den Tatsachen. Der Mann versuchte, auf den fahrenden Zug aufzuspringen — was bekanntermaßen lebensgefährlich ist — und kam dabei mit einem Bein unter dessen Räder. Die Hysterie, die damals bei vielen Menschen ausbrach, hatte verschiedene Ursachen, die keineswegs nur in den desolaten Verhältnissen der DDR zu suchen waren.

Gelernte DDR-Bürger nahmen ihre Medien nicht mehr ernst und informierten sich über Westmedien. Dafür hatte das System in der DDR gesorgt, dessen Propaganda — verglichen mit der heutigen — einfach nur dilettantisch war. Das größte Problem aus meiner damaligen Sicht war die fehlende Offenheit in Bezug auf die unübersehbaren Probleme des Landes. Das pausenlose Schönreden des Arbeiter- und Bauernstaates kontrastierte mit der verfallenden Infrastruktur, Umweltverschmutzung und einer sich zunehmend verschlechternden Versorgungslage.

Anfang Oktober 1989 schlug diese Art der Propaganda auf den Machtapparat und seine Medien zurück. Wir glaubten ihnen nichts, rein gar nichts mehr. Aber es war eben nicht alles erlogen und erstunken, was sie da berichteten.

Hinzu kam in jenen Tagen eine unglaubliche Arroganz der DDR-Führung, die nämlich darauf bestand, dass die Fluchtwilligen — jene, die seit Tagen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag campierten — „ausgewiesen“, „ausgebürgert“ werden und zu diesem Zweck über das Gebiet der DDR ausreisen müssten (9, b1).

Bild

Diese völlig von der Realität abgehobene Forderung der DDR — durchgesetzt in Verhandlungen mit den Außenministerien der BRD, der UdSSR und der ČSSR — machte die folgenden chaotischen Zustände an der Eisenbahnstrecke der DDR erst möglich. An jenem Abend, als ich eine ferne Ahnung beim Vorbeifahren am Bahnhof bekam, fuhren noch vier proppenvolle Personenzüge — aus Prag kommend, mit dem bundesdeutschen Ziel Hof — ohne Halt durch den Dresdner Hauptbahnhof. Auf diese Züge wollten Tausende aufspringen — völlig irrsinnig.

Extrem verschärfend kam hinzu, dass die DDR-Führung — um dem Strom an Ausreisewilligen in Richtung der bundesdeutschen Botschaft in Prag Einhalt zu gebieten — die Visa-Freiheit im Grenzverkehr zwischen der DDR und der ČSSR aussetzte. Das war zwar nachvollziehbar, doch verstärkte es in vielen Menschen — mich eingeschlossen — das Gefühl, im Staat DDR eingesperrt zu sein.

Zudem empörte uns — Kollegen, Freunde und Verwandte — fast einhellig die Selektierung in der Berichterstattung der DDR-Medien auf Gewalttäter sowie die Art und Weise des Umgangs mit dem Problem, dass Abertausende Menschen das Land verließen. Wenige Tage zuvor — nachdem die Entscheidung gefallen war, die in der Prager Botschaft der BRD ausharrenden Menschen in die BRD ausreisen zu lassen — hatte Staatschef Erich Honecker über die DDR-Nachrichtenagentur ADN verlauten lassen: „Wir weinen ihnen keine Träne nach!“ (10).

Das sagte dieser zunehmend senile Mann im Angesicht der Tatsache, dass die DDR in Massen das Wertvollste verlor: ihre Menschen. Doch gab es da noch mehr.

Die Tatsache, dass man den eigenen Medien nichts mehr glaubte und im Gegenzug westlichen Medien fast alles abnahm, blieb für unser Denken, Fühlen und Handeln nicht folgenlos.

Wir hatten — und für viele trifft das heute noch zu — keine blasse Ahnung, warum, wie und welche Informationen durch westliche Massenmedien verbreitet wurden. Das führte dazu, dass viele Menschen zunehmend Angst vor einer „chinesischen Lösung“ bekamen.

Wir — mich eingeschlossen — glaubten an die Berichterstattung über ein angebliches „Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens“. Für viele Menschen war diese Angst Grund genug, mit der ganzen Familie auf abenteuerlichem Wege die Flucht aus der DDR zu wagen. Oppositionelle Jugendgruppen, wie auch die Bewegung „Neues Forum“, die vom Repressionsapparat der DDR verfolgt wurde, verbreiteten aktiv die Mär vom Massaker in Peking (11). Inwieweit sie ebenfalls der westlichen Propaganda aufgesessen waren oder ob sie eine bewusste, aktive Rolle für Interessen auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze spielten, ist für mich offen.

Dass ein Machtapparat, wenn er in die Enge getrieben wird, zur Gewalt greift, ist keine sensationelle Erkenntnis und gilt systemübergreifend. Eine solche Gefahr bestand also in der DDR des Herbstes 1989 zweifellos. Doch die westliche Propaganda zu den Unruhen in China — die auch von kirchlichen Gruppen verbreitet wurde — spielte eine erhebliche Rolle beim Schüren von Ängsten (12). Wir waren schon damals sehr empfänglich für Propaganda und unterschieden uns da nicht von den „Brüdern und Schwestern“ im Westen.

Auch wenn ich mich nicht mit den Ausreisenden solidarisieren konnte — ich beurteilte ein solches Verhalten bereits damals als Flucht vor der Verantwortung —, so war es doch trotzdem das Hauptmotiv für mich, am nächsten Abend in die Stadt zu gehen. Dazu gesellten sich an diesem, meinem ersten Demonstrationstag Neugier, ja vielleicht sogar ein Hauch von Ahnung, dass diese Tage von besonderer Bedeutung werden würden. Nicht zufällig habe ich deshalb bis heute diverse Ausgaben des Dresdner Regionalblattes Sächsische Zeitung aus jener Zeit in meinem Fundus aufbewahrt.

Demonstration der anderen Art

Trotz der Uninformiertheit über das dahin in Dresden Geschehene war ich durchaus nicht naiv und wusste, dass die Teilnahme an Demonstrationen „außer der Reihe“ mit einem respektablen Risiko behaftet war. Man musste ernsthaft damit rechnen, verhaftet und für unbestimmte Zeit an einen für die Nächsten unbekannten Ort gebracht zu werden. Damals waren unsere Kinder gerade vier Jahre alt geworden und wir suchten eine Lösung, die auch diesen Schatz angemessen berücksichtigte. Deshalb entschieden meine damalige Frau und ich, wechselweise demonstrieren zu gehen. Das zogen wir bis zum Sonntag, den 8. Oktober durch.

Aber ohne Frage öffnete sich hier ein Ventil, um sich zu artikulieren — so wie knappe 25 Jahre später im Frühsommer 2014, als ich das erste Mal wieder eine Montagsdemonstration besuchte. Wobei „artikulieren“ nicht so recht beschreibt, mit welchen Vorstellungen man damals demonstrieren ging. Bis in das Jahr 1988 hatte ich an jeder Demonstration zum 1. Mai teilgenommen, als sehr junger Mann bekennend, später aus Opportunismus. Es machten schließlich (fast) alle so. Danach konnte man ja noch gemeinsam ein Bier trinken gehen. Aktive politische Teilhabe sieht anders aus.

1989 fand ich es — ich kann mich an dieses Gefühl tatsächlich noch gut erinnern — einfach sinnlos und ließ das Ereignis weg. Auch die Kommunalwahlen ließ ich weg. Das war kein mutiger Schritt in die Opposition, sondern nur ein nüchterner Entschluss, angesichts der Tatsache, dass es schlichtweg keine Rolle spielte, ob man wählt oder nicht. Letztlich entschieden sich doch eh immer 99,8 Prozent aller Wähler für die Kandidaten der Nationalen Front. Ich fand dieses Spiel albern und stieg aus. Mehr war da nicht (a1). Auch erlebte ich in der Folge keinerlei Repressionen als Folge dieses Entschlusses.

Die Psychologie der Gewalt

Viele der Szenen jener Tage, die sich dauerhaft in meinem Kopf verankerten, hatten — sowohl damals, als ich sie erlebte, als auch jetzt in der Erinnerung — surreale Züge. Wie fragil und irrational das Alles war, ist mir erst Jahrzehnte später richtig bewusst geworden.

Am Abend des 5. Oktober war ich Teil einer Masse Tausender Dresdner, die an den Vortagen weder demonstriert noch zu flüchten versucht oder randaliert hatten. Das Publikum hatte sich gewandelt. Doch war das anfangs weder uns noch der „anderen Seite“ bewusst. Beide Seiten hatten also ein Informationsdefizit.

Um zu verstehen, benötigen wir Wissen und Empathie. Ohne Wissen lässt sich unsere Empathie verführen und neigt zur Ablehnung auf der einen oder zum Solidarisieren auf der anderen Seite. Ohne Wissen werden Objekte eher als fremd und gesichtslos wahrgenommen. Wir nehmen ihre Menschlichkeit reduziert wahr. Das ist sehr gefährlich, weil sie auf diese Weise schnell als Feindbild erkannt werden können.

Ganz sicher — und das ist eben auch kein Sonderfall der DDR — tobten sich in jenen Tagen auch ideologisch fest gebriefte Überzeugungstäter aus dem Sicherheitsapparat an friedlichen Menschen aus. Doch nach den Ereignissen der Vortage grassierte in Dresden die blanke Angst — und das eben nicht nur bei demonstrierenden Bürgern. Ein Offizier der Volkspolizei erzählte:

„Am Bahnhof haben junge Kollegen um ihr Leben gebangt. Da hat kaum einer daran gedacht: Ich rette hier den Sozialismus. Wir dachten nur: Wenn hier Zehntausende in den Bahnhof reinkommen, werden wir gelyncht. Drinnen waren wir nur 200 Polizisten. Die Steine, die von draußen flogen, haben wir zurückgeworfen. Es hat sich hochgeschaukelt“ (13).

Wie werden Einsatzkräfte und deren Führung sich auf den nächsten Abend vorbereiten, nach dem sie solche traumatischen Erfahrungen gemacht haben? Dort standen Hunderte blutjunge Menschen in Reih und Glied vor uns, bewaffnet mit Schlagstock, Helm und Schild — einer Ausrüstung, die ich bei DDR-Sicherheitskräften zuvor noch nie gesehen hatte —, denen diese Angst regelrecht ins Gesicht geschrieben stand.

Einige von ihnen versuchten, sich dem Einsatz zu entziehen. Sie wurden mit Gewalt und Gebrüll von Offizieren, die hinter dem Kordon standen, wieder zurückgetrieben. Wir Demonstranten quittierten das mit Gejohle und Pfeifen. Eigentlich hatte keiner von uns einen richtigen Plan. Man gab sich betont locker und fühlte sich in der Menge Gleichgesinnter stärker und damit sicherer. Das Gefährliche war die konsequente Trennung zwischen den Einsatzkräften und Demonstranten.

Dadurch wurde auf beiden Seiten die feindbetonte Haltung beibehalten und gepflegt. Der explizit ausgedrückte Wille zur Verständigung war am 5. Oktober 1989 für mich nicht erkennbar und wurde auch nicht durch mich selbst gepflegt.

Und so erlebte ich diverse Provokationen, von denen jede Einzelne genügte, um das Fass zum überlaufen zu bringen. An meinem ersten Demonstrationstag schätzte ich die Anzahl der Demonstranten auf vielleicht 5.000. Damit kamen die Sicherheitskräfte gut zurecht. Ihr Auftrag lautete wohl in etwa: Demonstration auflösen und Rädelsführer festnehmen. Systematisch filetierten sie die Menschenmenge, schnitten so große Gruppen voneinander ab und bildeten sodann Kessel mit einem Kordon, als quasi „Abfluss“, aus dem die Menschen aus dem Kessel entweichen konnten.

Wenn es so weit war — Kessel gebildet und der „Abfluss“ offen —, schlugen Hunderte Gummiknüppel auf Schilde. Das machte den Polizisten Mut und uns Angst. Zweimal bin ich aus so einem Kessel entwichen und ich weiß noch heute, dass mein Herz bis zum Hals schlug. Innerhalb des „Abflusses“ prasselten die Hiebe von Gummiknüppeln auf uns ein und „Greifer“ zogen sich „Rädelsführer“ aus der Menge heraus. In diesen Situationen denkt man nicht mehr. Man funktioniert, erlebt dabei alles wie in einem Film und streift — mit Adrenalin zugedröhnt — die Angst aus dem Bewusstsein.

Danach fanden und sammelten wir uns wieder, und das Spiel begann von Neuem. Zwei Stunden genügten mir, um danach völlig erschöpft, aber gesund den Heimweg anzutreten. Unsere einzigen politischen Botschaften an jenem Tag waren nach meiner Erinnerung: „Keine Gewalt!“ und „Wir bleiben hier!“. Es kamen hinzu: „Wir sind das Volk!“ und „StaaSi raus!“ (a2).

Das war das — im Nachhinein — fast Normale dieser Tage. Irgendwann gewöhnte man sich instinktiv an den Verfolgungsdruck und wurde gewissermaßen gelassen. Dass das ohne schwerwiegende Folgen für uns verlief, war aber auch reines Glück. An jenem 5. Oktober erlebte ich auch Szenen, die mich daran erinnerten, dass dieses Spiel sehr, sehr ernst genommen werden musste. Schließlich wurden in jenen Tagen allein in Dresden mehr als 1.000 Menschen „zugeführt“: Randalierer, Verzweifelte und Menschen, die nicht weiter wie bis dahin ihr Leben in der DDR gestalten wollten.

Die Macht der Provokateure

Provokateure kapern Veranstaltungen und deren Botschaften für eigene oder beauftragte Ziele. Sie biegen über emotionale Trigger den Zweck einer politischen Kundgebung de facto um, entreißen den Initiatoren die Gestaltung. Sie schaffen eine Situation, eine Realität, über die nachfolgend berichtet werden kann und die den Zweck der politischen Kundgebung ersetzt durch die von den Provokateuren erschaffene Realität. Dann kann darüber auch im Prinzip wahrheitsgemäß in den Systemblättern berichtet werden und so war das auch damals in Dresden:

„In Dresden haben sich in den vergangenen Tagen größere Gruppen junger Menschen zu rowdyhaften, staatsfeindlichen und verfassungswidrigen Aktionen zusammengerottet. Sie verwüsteten Einrichtung und Anlagen auf dem Hauptbahnhof sowie in der Innenstadt, schrien antisozialistische Losungen und Beschimpfungen, die bis zur Mordhetze reichten“ (14).

Man stellte also einen für die Gemeinschaft unakzeptablen Zustand her und nutzte dann das Mittel der Kontaktschuld — alles kleine Helferchen, die wir auch im heutigen System antreffen. Am 5. Oktober habe ich einen Provokateur in Echtzeit erlebt. Er positionierte sich in Höhe des damaligen monumentalen Lenin-Denkmals zwischen Prager Straße und Hauptbahnhof und brüllte Parolen wie: „Schlagt die Kommunistenschweine tot“ und weitere, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann.

Dichtung und Wahrheit, Weglassen und das gewünschte Hervorheben zur emotionalen Ausrichtung des Rezipienten beherrschten auch Redakteure in DDR-Medien. Ganz einfach deshalb, weil solche Neigungen in jedem von uns angelegt sind! In der Sächsischen Zeitung klang das am 9. Oktober 1989 so:

„So grölten sie unter anderem ‚Schlagt die Kommunistenschweine und hängt sie auf!‘ oder ‚Wir wollen eine grüne Leiche sehen‘. In ihrer Zerstörungswut warfen sie mit Eisenstangen, Stahlkugeln und benutzten Luftdruckpistolen“ (15).

Dass dies geschehen ist, schließe ich nicht aus. Trotzdem vermittelt es ein grundsätzlich falsches Bild. Es vermischt — in Ermangelung weiterer Argumente — die Ereignisse vom 2. bis 4. Oktober 1989 mit den Demonstrationen der folgenden Tage, in denen all das auf keinen Fall mehr zutraf. Schon deshalb, weil ab dem Morgen des 5. Oktober keine Züge mehr Flüchtlinge durch Dresden gen Westen transportierten.

Aber den Provokateur, den gab es — ich habe ihn gesehen und gehört — und ein tendenziös gefasster Bericht kann ihn leicht als Teil der Bewegung verhackstücken. Wirklich beeindruckend war für mich jedoch etwas ganz anderes: Jedem von uns war sofort und instinktiv bewusst, dass dieser Mensch in der Rolle des Provokateurs auftrat und so bildete sich in kürzester Zeit zwischen ihm und den Teilnehmern der Demonstration ein Bannkreis der Leere. Der Mann war völlig isoliert, dem Schutz der Menge beraubt und mehr noch: Er wurde nicht festgenommen. Er war enttarnt.

Im Nachhinein werte ich auch die Szene, als man den Polizisten kleine DDR-Münzen — Pfennige oder Groschen — zuwarf und sie mit den Worten „Nimm deinen Judas-Lohn“ aufforderte, diese Münzen aufzuheben, als äußerst hässliche Provokation. Heute fühle ich mich ziemlich ungemütlich, wenn ich mich an mein blödes Lachen angesichts dieses zweifelhaften „Spaßes“ erinnere. Nun, damals war ich keine 30 und ziemlich unreif. Da liegt die Chance der Provokateure. Denn junge Menschen sind naturgemäß unreif und so am besten ausnutzbar.

Provokateure reden zuerst nach dem Mund, um eine Vertrauensstellung einnehmen zu können. Sie nehmen Witterung zur Stimmung auf, selektieren daraus deren destruktiven Elemente und verstärken sie sodann. Stimmungen stehen für Emotionen. Emotionen sind unterbewusste Signale unseres Ichs und nicht so ohne Weiteres kontrollierbar. Daher an dieser Stelle mein Appell: Hüten Sie sich vor Provokateuren, denn diese können in kürzester Zeit Konstruktivität in Destruktivität kippen lassen.

Mir sind die Strukturen des Sicherheitsapparates der DDR bis heute nicht im Detail bekannt. Innerhalb dieser waren Provokateure sicher ein legitimes Mittel. Wer sich provozieren ließ, war eben ein Rädelsführer und konnte „zugeführt“ werden, wie es damals hieß. Was aber auch bedeutet, dass im Prinzip JEDER hätte zugeführt werden können, weil auch jeder Mensch — gerade in einer aufgeheizten Atmosphäre auf seine spezielle Weise empfänglich für Provokationen ist. So war es dann auch. Denn die „Zuführungen“ erschienen mir willkürlich. Damals konnte auch einfach ein „dummes Gesicht“ genügen, um verhaftet zu werden.

Unauslöschbar ist mir eine Episode in Erinnerung, bei der — als ich sie erlebte — in mir wie ein Blitz der Gedanke hochschoss: Ist das nicht Faschismus?! Als nämlich in kaum 50 Meter Entfernung Sicherheitskräfte — immer zwei für einen — Menschen wie Stückgut auf einen LKW warfen. Auf diesem saßen Polizisten, Wehrpflichtige, wer auch immer, deren Stiefel auf diesen nun auf dem LKW halb liegenden, halb sitzenden Menschen standen. Als ich das sah, keimte in mir tatsächlich das erste Mal konkret der Gedanke, dass die DDR auf dem Weg in den Untergang ist.

Täglich demonstrierten nun mehr Menschen. Am Samstag, meinem zweiten Demonstrationstag schätzte ich die Anzahl auf etwa 10.000. Jeden Tag erfasste der Protest neue Stadtgebiete und jeden Tag wurden mehr Menschen verhaftet und verschwanden einfach. Es musste etwas geschehen.

Was ist Mut?

Gehen wir gedanklich zum Abend des 8. Oktober 1989 zurück und begeben uns auf die Dresdner Prager Straße. Im schwarzen Priestergewand steht auch der Kaplan Frank Richter inmitten Tausender Demonstranten. Das Prozedere der vergangenen drei Tage nimmt seinen erneuten Lauf. Die Menschen formieren sich, rufen ihre Forderungen, werden auseinandergetrieben, eingekesselt, Verhaftungen erfolgen, Gewalt tobt sich aus ... Wiederum formieren sich die Protestierenden und stehen den Polizeikräften erneut, wenn auch in respektvoller Distanz gegenüber.

Kurz nach 20 Uhr entschließt sich der Geistliche, diese Distanz wie auch seine Angst zu überwinden und geht allein auf die Polizeikette zu. Ruhig spricht er der Reihe nach mehrere der mit Helm, Schild und Stock Bewaffneten an und bittet sie, mit dem Einsatzleiter sprechen zu dürfen. Zunächst reagiert keiner, doch schließlich öffnet sich der Wall der Bewaffneten und lässt den Mann hindurch. Einer der Polizisten führt Frank Richter zu einem Mann in Zivilkleidung.

Diesen bittet Richter in einem ersten Gespräch, keine Gewalt anzuwenden, da solche auch nicht von den Demonstranten ausgeht und ausgehen werde. Danach drängt er auf „einen kompetenten Gesprächspartner von staatlicher Seite“ für ein weiteres Gespräch. Sein Erstkontakt heißt Detlev Pappermann und ist als Offizier der Volkspolizei bei einer Spezialeinheit tätig. Der zögert, geht dann aber auf den Wunsch Kaplans ein (16,17).

Eigentlich war es das schon: der entscheidende erste, mutige Schritt BEIDER Seiten, um die feindselige Distanz aufzulösen und für die anderen Vertrauen aufzubauen. Er war damit getan. Das können nur Menschen leisten, kein System, keine Struktur, keine Ideologie.

Frank Richter geht zurück zu den Demonstranten, die in der Nähe eines Springbrunnens ausharren. Als ob Teil der Dramaturgie, versiegt dieser und es tritt eine plötzliche Stille ein. In diese hinein, teilt Richter den Menschen mit, dass ein Dialog mit dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer zustande kommen könne. Er bittet um Mitstreiter, welche die Courage besitzen, an diesem Gespräch teilzunehmen. Es melden sich etwa 25 Personen, welche im Kern später die sogenannte Gruppe der 20 bilden werden. Der Beifall der Menge ist ihre Legitimation (18). Es wird in den nachfolgenden, turbulenten Wochen keinerlei Ausschreitungen mehr gegenüber friedlichen Demonstranten geben.

DAS ist das bis dahin Einmalige, das ganz Besondere und mich noch heute tief Bewegende jener Tage gewesen. In diesen Stunden wagten mündige Menschen, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Rolle im bestehenden System einen Neuanfang — einfach großartig.

Fazit

Niemand, der die damalige Zeit miterlebte, muss sich nach Lesen dieses Textes schlecht fühlen. Erstens beschreibt er zuallererst die Sicht des Autors und zweitens rückt er die Dinge in ein menschlicheres Licht. Denn wir sind per se keine Helden und eben so wenig sind wir Versager. Als Menschen leben wir den Alltag und arrangieren uns mit den Gegebenheiten. Wir sind keine Revolutionäre und auch nicht jeden Tag aufs Neue mutig bis zur Selbstaufgabe. Wir sind manipulierbar und in unseren Sehnsüchten oft sehr schlicht.

So die Helden vom Sockel und die Bösen aus der Verbannung holend, haben uns die bewegten Wochen im Herbst 1989 durch ein Fenster schauen lassen; ein Fenster, das wir durch unser eigenes Wollen geöffnet hatten. Für eine kurze Zeit sahen wir völlig neue, zuvor ungeahnte Möglichkeiten, die für ein tatsächlich selbstbestimmtes, verantwortungsvolles und in friedlicher Kooperation Probleme angehendes Leben Voraussetzung sind. Das ist der für mich lohnendste Aspekt, wenn ich mich an das erinnere, was heute — ich denke eher unpassend — als Wende bezeichnet wird.

Lassen Sie mich diesen Text mit einer Metapher beenden.

Dass die DDR damals nicht in einem Bürgerkrieg versank, hat sie ihren Menschen zu verdanken.

Keiner — weder die oben noch die unten — wollten so weitermachen wie bisher. Es benötigte Zeit, bis genug Mutige auf allen Seiten vorangingen und entschieden, den Karren DDR, so wie er beladen war, einfach nicht mehr weiter zu ziehen. Das ist etwas anderes, als den Karren umzukippen. Als es darum ging, diesen Karren zu reparieren oder neu aufzubauen, gewann rasch wieder die Verzagtheit die Oberhand. Deshalb wurde die DDR auch nicht übernommen. Sie verschwand einfach. Heute ziehen wir auch wieder einen Karren. Nichts muss, alles kann.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam.



Quellen und Anmerkungen:

(a1) 30 Jahre später wiederholte sich für mich die Erkenntnis, dass es keine Rolle spielt, wen man wählt, und ich stieg — was das betraf — ein zweites Mal aus.
(a2) StaaSi wurde damals im allgemeinen Sprachgebrauch als Abkürzung für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR genutzt.
(b1) Züge, Flüchtlinge, DDR, Route, 1989, http://revolution89.de/revolution/revolten-entlang-der-strecke/, entnommen: 24. Oktober 2019.
(1) https://www.dnn.de/Mehr/Bilder/Bilderstrecken/2019/10/Zusammenstoesse-am-Hauptbahnhof-Dresden-1989/2, 2. Oktober 2019.
(2) https://www.stasi-mediathek.de/medien/fotodokumentation-ueber-schaeden-am-dresdner-hauptbahnhof-nach-durchfahrt-der-botschaftsfluechtlinge/blatt/21/, abgerufen: 25. Oktober 2019.
(3) Andreas Roth, https://www.sonntag-sachsen.de/2016/40/die-unfriedliche-revolution, September 2016.
(4) Ebenda.
(5) https://twitter.com/Mauerfall89/status/518494658541150208, entnommen: 26. Oktober 2019, Primärquelle: https://www.bstu.de/.
(6) https://www.dnn.de/Mehr/Bilder/Bilderstrecken/2019/10/Zusammenstoesse-am-Hauptbahnhof-Dresden-1989/2, abgerufen: 25. Oktober 2019.
(7) Tilman Steffen, https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2014-10/dresden-unruhen-hauptbahnhof-stasi-1989-mauerfall/komplettansicht, 6. Oktober 2014.
(8) Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden Stadt, 4. Oktober 1989.
(9) http://revolution89.de/revolution/revolten-entlang-der-strecke/, abgerufen: 25. Oktober 2019.
(10) https://www.jenakultur.de/de/projekte_und_festivals/30_jahre_friedliche_revolution/857873, entnommen: 26. Oktober 2019.
(11) https://www.jugendopposition.de/themen/herbst89/145315/die-chinesische-loesung, abgerufen: 26. Oktober 2019.
(12) https://www.chronikderwende.de/lexikon/glossar/glossar_jsp/key=cglchinesische+l%25f6sung.html; abgerufen: 26. Oktober 2019.
(13) https://www.tagesspiegel.de/politik/die-wende-in-der-ddr-das-wunder-von-dresden-warum-die-revolution-friedlich-blieb/7168480-all.html, 8. Oktober 2014.
(14) Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden Stadt, 9. Oktober 1989, Seite 8.
(15) Ebenda.
(16) Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden Stadt, 6. Oktober 1994, Seite 3.
(17) https://www.tagesspiegel.de/politik/die-wende-in-der-ddr-das-wunder-von-dresden-warum-die-revolution-friedlich-blieb/7168480-all.html, 8. Oktober 2014.
(18) https://www.ddr89.de/g20/G20_5.html, abgerufen: 27. Oktober 2019.


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