Exemplarisch trat diese Schizophrenie schon vor Corona in den Veröffentlichungen des Historikers Yuval Noah Harari hervor: Er ist derjenige, der schon vor der Krise als engagiertester Warner gegen die vom Transhumanismus ausgehenden Entwicklungen auftrat; mit Einsetzen der Coronakrise hat er diese Warnungen noch einmal vertieft. Dabei repräsentiert er aber selbst genau das Menschenbild, von dem die Transhumanisten ausgehen. An seinem Beispiel tritt die Schizophrenie deshalb stellvertretend deutlich hervor.
Daten zu Harari
Yuval Noah Harari ist 44 Jahre alt, Veganer, bekennender Homosexueller, verheiratet, Tierfreund; als bekennender Buddhist erklärt er öffentlich, ohne intensive tägliche Meditation und regelmäßige halbjährliche „Retreats“ alle zwei Jahre hätte er das Thema überhaupt nicht „bewältigen“ können. Und er fordert seine Leserschaft dazu auf, seinem Beispiel zu folgen.
Harari ist ein moderner, kritischer, vorurteilsloser Geist, sympathisch, dem man fasziniert zuhört und dessen Ruf nach meditativer Selbstbesinnung nicht wenige Menschen erreicht.
Er veröffentlichte zwei Weltbestseller, die in 40 Sprachen übersetzt wurden: „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ 2013, dreißigste (!) Auflage 2018 und danach „Homo Deus“ im Jahr 2017. In diesen Büchern beschreibt er die Geschichte der Menschheit vom „Urknall“ bis zum Übergang ins Zeitalter der zu erwartenden Maschinenherrschaft. Mit einem dritten Buch unter dem Titel „21 Regeln für das 21. Jahrhundert“ ist er inzwischen weltweit als Vortragender auf diversen Foren als Berater, nahezu als mahnender Guru unterwegs. Unter anderem wurde er auch vom Deutschen Ethikrat eingeladen (1).
Harari — Buchhalter „der“ Wissenschaft
Harari zeichnet ein umfassendes Bild der Bedrohung, die aus der Bewusstseins- und Bio-Industrie auf die Menschheit zukomme. Indem er dies noch mit der ungebremsten Entwicklung von Big Data verbindet, bekommt sein Bild wahrhaft monumentale Dimensionen einer drohenden KI-Diktatur, die den Menschen überflüssig machen könnte. Seine Botschaft rüttelt auf — dafür ist ihm zweifellos zu danken!
Zugleich kommen Hararis Warnungen auf einer geistigen Basis und in einer Diktion daher, in der er selbst den Menschen, bei ihm kühl „Homo sapiens“ genannt, auf ein von Genen, Algorithmen und neuralen Mustern gesteuertes Programm reduziert, das in Zukunft technisch optimiert und tendenziell sogar durch höher entwickelte technische Algorithmen ersetzt werden könnte — und werde.
Damit folgt er ganz den Päpsten des Transhumanismus, die die „Optimierung“ des Menschen von der Ausrottung allgemeiner Krankheitsrisiken bis zur möglichen Unsterblichkeit Einzelner noch für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Nehmen wir als Beispiel nur Ray Kurzweil, den Direktor der technischen Abteilung bei Google im Silicon Valley. Also, eine Figur, wirksam im Zentrum der „KI-Revolution“ und des Internets.
Kurzweil gilt als Prophet der technischen Unsterblichkeit und der Optimierung des Menschen in Richtung eines übermenschlichen Maschinenwesens. In diesem Wesen werde die beschränkte Intelligenz des Menschen im Zuge der Fähigkeiten der KI zur Selbstverbesserung und in ihrer Verbindung mit Gen-, Nanotechnologie und Robotik auf eine höhere Ebene einer effektiven Superintelligenz angehoben. So werde die höchste mögliche Stufe der Evolution erreicht — die, wie Kurzweil es nennt, „Singularität“ — so der Untertitel von Kurzweils programmatischem Hauptwerk „Menschheit 2.0, Die Singularität naht“ (2).
Kurzweil nennt sich einen „Patternisten“, der die Welt durch die „Macht der Ideen“ — so die Überschrift in der Einleitung des genannten Buches — neu modellieren und neu schaffen wolle. Die Welt, erklärt Kurzweil, baue sich auf Mustern auf, die sich im Laufe der Evolution zu immer komplizierteren Kombinationen verbunden hätten. Durch Übertragung der Gehirnmuster des Menschen in die Programme der Künstlichen Intelligenz lasse sich dessen Intelligenz zur „Superintelligenz“ steigern.
So werde der jetzige Mensch als organische Entwicklungsstufe für die Maschinenintelligenz dienen, werde dann allerdings gegenüber der neuen Stufe der Evolution als „Organwesen“ zurückbleiben.
Die Superintelligenz werde schließlich den an sich „dummen“ Kosmos mit Intelligenz fluten. Dies könne man letztlich auch als den Weg zu Gott verstehen. — Wörtlich:
„In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Singularität das Universum mit Geist erfüllen wird. (…) Evolution bewegt sich unaufhaltsam in Richtung des Gottesbegriffs, ohne dieses Ideal je ganz erreichen zu können. Wir können die Befreiung unseres Denkens aus den engen Banden seiner biologischen Form somit als spirituelles Unternehmen auffassen“ (3).
Die Frage nach dem Bewusstsein „klärt“ Kurzweil mit einem Selbstexperiment: Indem er nämlich an seinem eigenen Beispiel die Frage durchspielt, ob er, wenn er geklont würde, „noch ICH, Ray oder ICH 2 ein anderer Ray, oder doch ICH 1 und ICH 2 zugleich“ wäre, wo dann sein Bewusstsein von sich selber wäre und so weiter (4).
Er findet keine Antwort, aber statt das Nichtwissen zu konstatieren und die Klärung als Forschungsfrage zu formulieren, wechselt er kurzerhand zu der Prognose über, dass das Bewusstsein — da es ja, wie alles in der Welt, aus Mustern bestehe — mithilfe der Künstlichen Intelligenz potenziell weiter effektiviert und dann auch erkannt werden könne.
„Trotz dieser Dilemmata“, schreibt er, „beruht meine persönliche Philosophie weiterhin auf Patternismus: Ich bin ein über die Zeit hinweg beständiges Muster. Ich bin ein sich entwickelndes Muster und ich kann die Richtung meiner Entwicklung beeinflussen“ (5).
Wer selbst Zitate sucht, die dieses Denken noch am Original illustrieren, der möge auf den unter dieser Anmerkung angegebenen Seiten von Kurzweils „Singularität“ blättern (6).
Hararis Kurzfassung des aktuellen „Menschheitsprojektes“:
In der Einführung zu „Homo Deus“ spiegelt sich die Sicht des Transhumanismus in Hararis Beschreibung unserer Welt als einem Ort, an dem Hunger, Seuchen und Krieg weitgehend überwunden worden, zumindest aber inzwischen „keine unkontrollierbaren Kräfte der Natur“ mehr, sondern nur noch Herausforderungen seien, „die sich bewältigen lassen.“
„Und zum ersten Mal in der Geschichte“, fährt er fort, „sterben mehr Menschen, weil sie zu viel essen und nicht weil sie zu wenig essen. Und mehr Menschen sterben an Altersschwäche als an ansteckenden Krankheiten. Und mehr Menschen begehen Selbstmord, als von Soldaten, Terroristen und Kriminellen zusammen getötet werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stirbt der Durchschnittsmensch mit größerer Wahrscheinlichkeit, weil er sich bei McDonalds vollstopft, als durch eine Dürre, Ebola oder einen Anschlag von al Qaida“ (7).
Nun muss man Harari zugutehalten, dass er diese Sätze vor der jetzigen Krise schrieb, auch wenn das wenig an der Grundbotschaft ändern kann, zu der er sich steigert:
„Und nachdem wir die Menschheit über die animalische Ebene des Überlebenskampfes hinausgehoben haben, werden wir nun danach streben, Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo Deus zu machen“ (8).
Der Weg dahin, so Harari, führe die Menschheit über drei Projekte, welche das Ziel hätten, den Homo sapiens so „umzumodeln“, dass er:
erstens zwar nicht Unsterblichkeit, aber ewige Jugend bewahre,
zweitens ewige Freude empfinden könne.
„Das dritte große Projekt der Menschheit im 21. Jahrhundert wird es sein“, so Harari wörtlich, „dass sie für sich göttliche Schöpfungs- und Zerstörungsmacht erwirbt und den Homo sapiens zum Homo Deus erhebt“ (9).
Mensch — das Tier mit „Erzählungen“
Was bei Harari bleibt, ist ein irritierender Destruktivismus, der keine Werte außer den algorithmischen mehr gelten lassen will: Harari beschreibt den Menschen als Tier, das sich von anderen Tieren nur durch seine Fähigkeit unterscheide, „Erzählungen“ erfinden zu können, die ihn in die Lage versetzt hätten, seine kollektiven Kräfte so zu bündeln, dass er sich dadurch zum Herrscher über die „übrigen Tiere“ machen konnte.
Woher diese Kräfte kommen, fragt Harari nicht und gibt dem entsprechend auch keine Antwort.
„Erzählungen“ — das sind für Harari Mythen im Sinne geschickter Erfindungen, Religionen, Zeitströmungen wie die Aufklärung, Geschäftsideen, Fakes, Welterklärungen aller Art bis hin zum Humanismus als die letzte bisherige „Erzählung“.
Dabei versteht er Humanismus als „Anbetung des Menschen durch den Menschen“, als anmaßende Vergottung des „Homo sapiens“ durch Verabsolutierung seiner Gefühle. Diese Überschätzung des Menschen werde jetzt abgelöst durch die Entwicklung der intelligenten Technik — begleitet durch die Entstehung einer neuen „Erzählung“: der Religion des Dataismus, in welcher der Maßstab aller Dinge und Organismen, einschließlich des Menschen nicht mehr in Gefühlen oder moralischen Werten, sondern in der Komplexität der in ihren Algorithmen wirksamen Daten gemessen werde.
„Drei Fraktionen des Humanismus“
Mit Blick auf die neuere Geschichte kommt Harari so zu dem Wahn, die „Erzählungen“ des Sozialismus/Kommunismus, des Liberalismus und des Faschismus gleichermaßen als „humanistische Sekten“ zu beschreiben, insofern sie alle die Anbetung des Menschen in den Mittelpunkt gestellt hätten. Aber angesichts der heutigen Probleme und der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ihrer technischen Lösung verlören die Menschen ihre beherrschende Rolle heute an die „Religion des Dataismus“ als neue „Erzählung“.
In seiner Klassifizierung der drei „Humanismen“ schreibt Harari dem Faschismus, obwohl er dessen Brutalität verurteilt, den besonderen Charakter eines „evolutionären Humanismus“ zu, insofern dieser an der Entwicklung des Menschen zum Übermenschen orientiert gewesen sei.
Das „oberste Ziel der Nationalsozialisten“, schreibt Harari in der „Kurzen Geschichte“ wörtlich, „bestand darin, die Menschheit vor dem Verfall zu bewahren und ihre Entwicklung zu fördern. (…) Biologen haben die kruden Rassentheorien der Nationalsozialisten längst widerlegt. (…) Nach dem wissenschaftlichen Kenntnisstand des Jahres 1933 waren die Vorstellungen der Nationalsozialisten ABER keineswegs absurd“ (10).
So etwas kann nur ein Israeli schreiben, der sich vom Judentum gelöst hat. Zu diesem Geschichtsbild gäbe es einiges zurechtzurücken. Das kann hier der Kürze wegen unterbleiben.
Ich, Seele, Bewusstsein, freier Wille — Fehlanzeige
Betrachten wir stattdessen noch genauer Hararis Haltung zur Wissenschaft, die bei ihm als „die“ Wissenschaft erscheint. Im Kern handelt es sich um fulminante Angriffe gegen das Ich:
Angriffe auf das Ich, die bei den erklärten Transhumanisten, also etwa Ray Kurzweil eher beiläufig weggedrückt werden, treten in Hararis Wiedergabe ihrer Theorien nackt und ausdrücklich in zustimmender Weise begründet als das hervor, was sie sind — als plattester biologistischer Materialismus, ungeachtet aller idealistischen Verbrämungen, wie man sie bei Kurzweil findet, wenn er von der „Macht der Ideen“ spricht oder wenn er den Weg in die Superintelligenz als Weg zu Gott beschreibt, und — ungeachtet der Meditationspraxis und der öffentlichen Aufrufe zur Meditation bei Harari selbst.
Ein kurzer Blick auf Positionen, die sich durch Hararis Veröffentlichungen ziehen und die er penetrant als allgemeine Wahrheiten hinstellt, mag das noch etwas weiter verdeutlichen:
- Gefühle sind für ihn Produkt biochemischer Reaktionen.
- „Die“ Wissenschaft habe keine Seele finden können.
- Das Ich sei eine Erfindung, eine Illusion, nicht existent, nicht dauerhaft.
- Entscheidungen würden von Algorithmen diktiert.
Andererseits muss er eingestehen:
- Bewusstsein gebe es offenbar — nur lasse es sich bisher nicht wissenschaftlich beschreiben.
- Geist gebe es auch — „wir“ hätten ihn nur noch nicht erforschen können.
Heute, so Hararis Schlussfolgerung, entwickle sich eine Trennung von Intelligenz und Bewusstsein, wobei — wenn man ihm glauben will — das Bewusstsein der Verlierer ist, der sich einfach im Unbestimmten verliert, während sich die Intelligenz in dem weltumspannenden Datennetz zu gottähnlicher Allmacht verdichtet.
Exemplarischer Originalton: Verwirrung
Bei all dem versteht Harari die Kunst, seine Positionen zwischen Wiedergabe dessen, was „wir“ oder „die“ Wissenschaft heute denken, zwischen Kritiken und eigenen Sichtweisen locker und in flotter Sprache in der Schwebe zu halten.
Zwei Beispiele mögen ausreichen, diesen Stil demonstrieren: Das erste stammt aus der „Kurzen Geschichte der Menschheit“, in dem er den notwendigen Übergang vom „Humanismus“ zum Nach-Humanismus — also Transhumanismus beziehungsweise „Dataismus“ darstellt.
„Zu Beginn des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung ist die Zukunft des evolutionären Humanismus unklar …“, schreibt er.
„Heute spricht zwar niemand mehr davon, ‚minderwertige Rassen und Völker‘ ausrotten zu wollen, doch viele denken darüber nach, mithilfe neuester biologischer Erkenntnisse Übermenschen zu züchten. Gleichzeitig tut sich ein immer größerer Graben zwischen den Glaubenssätzen des liberalen Humanismus und den neuesten Erkenntnissen der Biowissenschaften auf, der sich nicht mehr ignorieren lässt. Der liberale Rechtsstaat und die liberale Demokratie gehen von der Überzeugung aus, dass jedem Menschen eine heilige, unteilbare und unveräußerliche menschliche Natur innewohnt, die der Welt Sinn und Bedeutung verleiht und von der alle moralische und politische Macht ausgeht.
Das ist nichts anderes als die christliche Vorstellung von der freien unsterblichen Seele, wenngleich in anderem Gewand. Doch in den vergangenen Jahrhunderten haben die Biowissenschaften diese Vorstellung zunehmend infrage gestellt. Im Inneren des Menschen haben sie keine Seele gefunden, sondern nur Organe. Unser Verhalten wird nicht vom freien Willen gesteuert, sondern von Hormonen, Genen und Synapsen, wie sie auch Schimpansen, Wölfe und Ameisen haben. Unser Rechtsstaat und unsere Demokratie kehren diese unbequemen Wahrheiten gern unter den Teppich. Wie lange wird es noch dauern, bis wir die Mauer zwischen der biologischen und der juristischen Fakultät einreißen?“ (11).
Ein zweites Zitat stammt aus „Homo Deus“; das mag dann genügen:
„Sobald wir jedoch akzeptieren, dass es keine Seele gibt und dass Menschen keinen inneren Wesenskern namens ‚Selbst‘ oder ‚Ich‘ besitzen, kann man nicht mehr sinnvoll fragen: ‚Wie wählt das Ich seine Wünsche aus?‘ Das wäre so, als würde man einen Junggesellen fragen: ‚Wie wählt deine Frau ihre Kleider aus?‘ In Wirklichkeit gibt es nur einen Bewusstseinsstrom, und innerhalb dieses Stroms entstehen Wünsche und vergehen wieder, aber es gibt kein permanentes Ich, das die Wünsche besitzt, weshalb es sinnlos ist, ob ich meine Wünsche deterministisch, zufällig oder frei wähle“ (12).
Was in diesen Texten ist Harari? Wer hat keine Seele gefunden? Wer sind „wir“? Die Sprache des Buches schwimmt zwischen ich, wir und sie, zwischen direkter und indirekte Rede, zwischen faktischem Präsenz und Konjunktiv.
Für diejenigen, die solche und ähnliche Aussagen genauer verfolgen möchten, gibt es hier einen kleinen Wegweiser durch die 1.500 Seiten seiner Texte (13).
Der Warner selbst ist Anlass zur Warnung
Hararis Bücher müssen so gewissermaßen als doppelte Warnung gelesen werden:
An ihnen wird erkennbar, wie tief der Warner in dem Geist, vor dem er die Welt retten will, selbst noch befangen ist, wenn er das Ich, die Seele, die Möglichkeit freier Entscheidungen glattweg leugnet, zugleich aber zur Meditation aufruft, um den Geist in sich zu finden, den die Menschheit noch nicht gefunden habe.
So oder so tritt in seiner doppelten Botschaft jedoch das Paradoxon krass hervor, dass die Frage nach dem Ich, nach der Seele, nach der Menschlichkeit, indem und gerade weil sie durch das transhumanistische Credo heute beiseitegeschoben wird, umso klarer als DIE Herausforderung unserer Zeit ins Zentrum gesellschaftlicher Aufmerksamkeit rückt (14).
Hararis Schlussfrage — die Frage unserer Zeit?
Hararis eigene Zusammenfassung auf der letzten Seite von „Homo Deus“, in zwei einander gegenübergestellte Frageblöcke gekleidet, verdeutlicht den geistigen Spagat noch einmal, in dem er, stellvertretend für unsere Zeit, steht und den er uns mitteilen will:
Der erste Block:
„1. Die Wissenschaft konvertiert zu einem umfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.
2. Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.
3. Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir selbst.“
Nach einer Zwischenbemerkung, in diesen drei Prozessen würden drei Schlüsselfragen aufgeworfen, von denen er hoffe, dass sie die LeserInnen noch lange nach der Lektüre seines Buches beschäftigen werden, lässt Harari den zweiten Block folgen, der die Fragen des ersten Blocks konterkariert:
„1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
2. Was ist wertvoller — Intelligenz oder Bewusstsein?
3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir selbst?“
Also doch alles offen? Mit diesem Vexierbild werden die Leser/innen von ihm entlassen.
Aktualisierung durch Coronakrise
Anlässlich der Coronakrise, konkret anlässlich des Digitalisierungs- und Kontrollzwanges, der von der Krise ausgeht, hat Harari, seine Warnungen vor „Big Data“ — wie eingangs schon angemerkt — noch einmal aktualisiert. Zu den biometrischen Überwachungstechnologien, die gegenwärtig weltweit zur Kontrolle der Quarantäneverordnungen üblich werden, schrieb er in der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. März 2020 nach heftiger Kritik des überbordenden Kontrollwahns durch staatliche Organe unter anderem:
„Selbstverständlich sollten wir auch die neuen Technologien einsetzen, aber sie müssen die Bürger ermächtigen. Ich überwache gerne meine Körpertemperatur und meinen Blutdruck, aber meine Daten dürfen nicht dazu dienen, eine allmächtige Regierung zu schaffen. Im Gegenteil, die Daten sollten mich dazu befähigen, dank mehr Information bessere Entscheide für mich selber zu treffen und auch die Regierung für ihre Entscheide zur Verantwortung zu ziehen.“
Klingt gut! Klingt ähnlich gut wie die Fragen am Ende von „Homo Deus“ und Hararis Aufforderung in seinem dritten Buch „21 Regeln für das 21. Jahrhundert“, den Geist in der meditativen Innenschau zu suchen. Die Frage, wieso die Krise eine solche Dimension annehmen konnte, wenn „wir“ heute alles „bewältigen“ können und die weitere Frage, wer die App kontrolliert, der er seine Körperfunktionen anvertraut — stellt er jedoch nicht!
Hinter der Krise öffnen sich aber genau die Krankheiten des heutigen sozialen Organismus, die er für bewältigt hält, und hinter der App stehen genau die Algorithmen, vor deren Allmacht er warnen will!
Deutlicher kann die Schizophrenie, in der wir uns heute befinden, kaum noch dokumentiert werden. Was also ist zu tun?
Was tun?
Erinnern wir uns: Es ist ja nicht das erste Mal, dass die Menschheit vor der Frage steht, „ob der Mensch in seinem Denken und Handeln ein geistig freies Wesen ist oder ob er unter dem Zwange einer naturgesetzlichen ehernen Notwendigkeit steht“.
Genau mit diesem Satz eröffnete Rudolf Steiner vor mehr als hundert Jahren, 1894, seine Schrift zur „Philosophie der Freiheit“. Die Schrift endet mit Ausführungen zur Bedeutung eines „ethischen Individualismus“ und der moralischen Fantasie, die das Ich in den sozialen und geistigen Raum einbinden.
Erinnern wir uns weiter: Die „Philosophie der Freiheit“ erschien auf dem Höhepunkt des damaligen naturwissenschaftlichen Aufbruchs, der getragen war von der neu aufgekommenen Evolutionstheorie. Steiner forderte die damalige europäische Welt auf, sich von einem deterministischen Missverständnis der Evolutionstheorie zu befreien, ohne dabei die Evolution zu leugnen. Es gehe vielmehr darum, den Evolutionsgedanken zur „Erkenntnis der geistigen Welt“ weiter zu entwickeln. Ethischer Individualismus, erklärte er, sei „vergeistigte Entwicklungslehre auf die Evolution übertragen“ (15).
Zehn Jahre später, 1904, folgte Steiners Schrift „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“ (16). In ihr schlägt Steiner einen strengen meditativen Weg der geistigen Erneuerung vor — nicht anders als Harari heute, könnte man denken und in einer vergleichbaren Situation, nur auf erweiterter Stufenleiter: einer weiterentwickelten Verbindung von Mensch und Technik.
Damals war es die Physik, die die Menschen herausforderte. Heute wird die Möglichkeit des Menschen, einen freien Willen zu entwickeln, von der biotechnischen Forschung infrage gestellt. Steiners Vorschläge zur Meditation weisen jedoch einen anderen Weg als Harari. Harari will unter der Vorgabe: „Einfach nur wahrnehmen“ den Geist in sich selbst aufspüren, von dem er zuvor gesagt hat, dass er ihn im Ich, in der Seele, in seinen Emotionen, in der ihn umgebenden Welt nicht finden konnte. Der von Steiner skizzierte Weg führt dagegen in die wache Wahrnehmung der Welt, um das Ich, die Seele, das kreative Denken als gestaltende Kraft für diese Welt zu öffnen und zu entwickeln.
Wegweisend und angesichts des digitalen Tsunamis, der heute auf uns zu schwappt — noch gültiger als vor hundert Jahren — ist das, was Steiner im Jahr 1917 zur Frage der Beziehung von Mensch und Maschine äußerte.
Dem „Zusammenschmieden des Menschen mit der Maschine“ könne die Menschheit nicht ausweichen, erklärte er, das liege im Gang der Evolution.
Wörtlich:
„Diese Dinge dürfen nicht so behandelt werden, als ob man sie bekämpfen müsste. Das ist eine ganz falsche Anschauung. Diese Dinge werden nicht ausbleiben, sie werden kommen. Es handelt sich nur darum, ob sie im weltgeschichtlichen Verlaufe von solchen Menschen in Szene gesetzt werden, die mit den großen Zielen des Erdenwesens in selbstloser Weise vertraut sind und zum Heil der Menschen diese Dinge formen, oder ob sie in Szene gesetzt werden von jenen Menschengruppen, die nur im egoistischen oder im gruppenegoistischen Sinne diese Dinge ausnützen. Darum handelt es sich.
Nicht auf das Was kommt es in diesem Falle an, das Was kommt sicher; auf das Wie kommt es an, wie man die Dinge in Angriff nimmt. Denn das Was liegt einfach im Sinne der Erdenentwickelung. Die Zusammenschmiedung des Menschenwesens mit dem maschinellen Wesen, das wird für den Rest der Erdenentwickelung ein großes, bedeutsames Problem sein“ (17).
In der Idee der „Dreigliederung des sozialen Organismus“, die Steiner in seinen „Kernpunkten zur sozialen Frage“ (18) zur Neuordnung des Lebens direkt nach dem Ersten Weltkrieg vorlegte, flossen der philosophische, der spirituelle und der soziale Ansatz zu einem Impuls zusammen. Es ging darum, das Geistesleben von der Dominanz der Ökonomie und der erdrückenden Allmacht des Staates zu befreien und eine lebendige Wechselbeziehung zwischen den drei tragenden Elementen des sozialen Organismus herzustellen, also dem ökonomischen, dem geistigen und dem rechtlichen Leben.
Das soll hier nicht jetzt nicht im Detail ausgeführt werden. Beachten wir aber, womit Steiner die „Kernpunkte“ damals einleitete: Mit der Notwendigkeit, den von der Maschine entwürdigten Proletariern ihre Würde als Mensch zurückzugeben, genauer, sie diese neu finden zu lassen, um sie zu befähigen, ihrer historischen Aufgabe nachzukommen, auf neuer Entwicklungsstufe die Menschheit zu befreien.
Der freie, mündige Mensch war das Ziel dieser Vorstellungen. Er ist es immer noch, nachdem andere Versuche dieses Ziel zu erreichen, nicht zu dem Erfolg geführt haben, welchen die Menschen sich davon erhofften. Aber unter dem Druck einer drohenden Zentralisierung durch eine anonyme globale KI-Macht einer durchdigitalisierten Gesellschaft gewinnen diese Ideen eines differenzierten, vom Würgegriff der Ökonomie und eines von der Ökonomie dominierten überbordenden Staatsapparates befreiten sozialen Organismus heute eine neue Aktualität — nicht in sklavischer Kopie, versteht sich, und auch nicht nur im Rückgriff auf Rudolf Steiner, sondern auf die heutigen Verhältnisse übersetzt, in denen die Krise Impulse der dezentralen Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft notwendig hervorbringt.
Wenn es damals darum ging dem Proletariat ein Leben in Würde zu ermöglichen, so geht es heute um das Überleben und die Würde der Menschheit insgesamt. Die Coronakrise hat diese Frage, die schon lange ansteht, jetzt unausweichlich ins Zentrum gerückt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Harari, Yuval Noah, drei Bücher und ein Hörbuch:
„Eine kurze Geschichte der Menschheit“, Pantheon, 2013, 30. Auflage 2018;
„Homo Deus- Eine Geschichte von Morgen“, C.H.Beck, 2017;
„21 Lektionen für das 21. Jahrhundert!, C.H. Beck, 10. Auflage 2019;
Hörbuch, herausgegeben von: Der Hörbuchverlag, gelesen von Jürgen Holdorf.
(2) Ray Kurzweil, „Menschheit 0.2, Die Singularität naht“, lola books, 2014.
(3) Ebenda, Seite 400.
(4) Ebenda, Seite 393.
(5) Ebenda, Seite 397.
(6) Wer selbst Zitate sucht, die dieses Denken noch am Original illustrieren, der möge auf den folgenden Seiten von Kurzweils „Singularität“ blättern: Prolog, Seite 1; Gehirn „Engineering“, Seite 144; Schrittweise Intelligenz Verschiebung, Seite 202/203; Ich/Bewusstsein, Seite 386 ff.; Gott, Seite 493; Universum, Seite 505.
(7) „Homo Deus“, Seite 10.
(8) Ebenda, Seite 38.
(9) Ebenda, Seite 78.
(10) „Eine kurze Geschichte“, Seite 283/84 ff., aber wiederholt in beiden Folgebänden.
(11) Ebenda, Seite 31.
(12) „Homo Deus“, Seite 437/8.
(13) Aus: „Kurze Geschichte“, Seite 133 (Emotion); Seite 437 (Seele); Seite 198 ff. (ICH); Seite 465/6 („Erzählungen“/ICH); Aus. „21 Regeln für das 21. Jahrhundert“: Seite 45, (Mustererkennung), Seite 81 (Illusion des freien Willens), Seite 410 bis 417 (Schlussfolgerung: Geist erforschen/Meditation).
(14) Siehe dazu Anmerkung 15.
(15) Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, 1. Auflage, Berlin 1984.
(16) „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“, Rudolf Steiner, Taschenbücher, 1964.
(17) „Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen“, Vortrag vom 25. November 1917, GA 178, Seite 218, zitiert nach Paul Emberson, „Von Gondishapur bis Silicon Valley. Band II, Seite 575.
(18) Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, 1. Auflage 1919.
Dieser Text ist die Schriftliche Fassung eines Vortrags im Rahmen eines WEB-Kolloqiums des Netzwerk-Dreigliederung unter dem Titel: „Anthropozän und Transhumanismus“ vom 8./9. Mai 2020.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.