Roberto De Lapuente: Herr Dantz, für Sie scheint es ein wesentlicher Aspekt demokratischer Kultur zu sein, Diskussionen zuzulassen. Sie sind parteiloser Kommunalpolitiker. Sind Sie freier als Kollegen, die parteilich organisiert sind und unter Umständen von ihrer Partei gewarnt werden, unliebsame Debatten gar nicht erst anzustoßen?
Roland Dantz: Ja, diese Unabhängigkeit hat sicher stets eine große Rolle gespielt. Ich habe sie in den beinahe 20 Jahren, in denen ich kommunalpolitisch tätig bin, immer gelebt. Ich finde es schade, wenn Leute hinter vorgehaltener Hand etwas sagen, was sie laut nicht artikulieren würden — wegen der Bindungen zur Partei oder zu einer Gruppe. Das ist eigentlich ein gesellschaftliches Dilemma.
„Hätte nicht erwartet, dass dieses Buch derartige Erregungskurven hervorruft“
Kamenz nennt sich die Lessingstadt. Gotthold Ephraim Lessing wurde in Ihrer Stadt geboren. Ist das Toleranzgebot, das etwa bei „Nathan der Weise“ zentrale Bedeutung hat, ein besonderes Attribut, das Sie Ihrer Stadt verordnen wollen, indem Sie auch denen ein Podium bieten, deren Ansichten heute nur noch wenig Toleranz erfahren?
Toleranz kann man nicht verordnen. Sie kann nur gelebt werden — oder eben nicht. Unsere Stadt hat durchaus ein klares Traditionsverständnis — ganz im Sinne Lessings und seines Toleranzansatzes. Lessing hat ja gesehen, dass es Wahrheit nur im Plural gibt; es gibt nie die eine Wahrheit. Sich das zu eigen machen, bedeutet letztlich auch, skeptisch zu bleiben. Und zu hinterfragen — ich habe das Gefühl, dass das in unserer Stadt von vielen Menschen so gehalten wird. Das ist also schon eine gewisse Kultur, die in Kamenz gelebt wird. Als Oberbürgermeister bin ich ein Teil unserer Stadt, aber nicht „Oberlehrer“.
Kamenz als Vorbild?
Ich weiß nicht, aber möglicherweise brauchen wir auch etwas mehr Gelassenheit, keinen inquisitorischen Eifer und auch weniger „Bekenntnissucht“. Das Eiferertum, das uns hindert, die Welt zu verstehen, hat Peter Sloterdijk auf eine sehr zutreffende, geradezu griffige Formel gebracht:
„Es hat seinen logischen Ursprung im Herunterzählen auf die Eins, die nichts und niemanden neben sich duldet. Diese Eins ist die Mutter der Intoleranz. Sie fordert das radikale Entweder, bei dem das Oder gestrichen ist.“
Nun haben Sie zwei Schreiben erhalten, beide von Historikerinnen mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Beide mahnen Sie an, dass Sie „russischen Mythen“ und „Geschichtsklitterern“ eine Bühne geben. Haben Sie solche Reaktionen eingepreist?
Beileibe nicht! (lacht) Also ich hätte mir doch nicht ernsthaft träumen lassen, dass das Buch von Patrik Baab bei einigen derartige Erregungskurven hervorruft. Und ich halte diese auch für vollkommen unnötig. Erwartet habe ich das nicht. Warum auch? Er erzählt in seinem Buch über seine Begegnungen mit Ukrainern und Russen. Er berichtet authentisch über seine Recherchen und Arbeit als Journalist. Etwas „Gegenwind“ habe ich vielmehr im Zuge der Ankündigung der Diskussion mit Frau Krone-Schmalz erwartet. Da blieb die Empörung allerdings aus. In der Zwischenzeit hat Frau Krone-Schmalz für ihr Engagement den Löwenherz-Friedenspreis erhalten — der MDR hat auch darüber berichtet.
Haben Sie eine Erklärung für die plötzlich aufkeimende Empörung?
Mir kommt es manchmal so vor, als brauchten gewisse Menschen immer wieder jemanden, den sie sich sozusagen ein Stück persönlich vorknöpfen können. Ich finde solche Menschen unangenehm.
Wie unangenehm muss das erst für die Betroffenen sein, für Herrn Baab, Frau Krone-Schmalz, Frau Guérot oder wer auch immer gerade Opfer solcher Kampagnen ist. Eigentlich bin ich entsetzt über diese Art von „Diskurs“, der da geführt wird. Mir scheint es dann nicht um die Sache zu gehen, sondern eher darum, den anderen in jeder denkbaren Form zu diskreditieren, ihn im gewissen Sinne aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Herr Baab hat niemandem etwas getan. Oder was hat er denn gemacht?
„Wenn ich spüre, dass jemand bevormundet, werde ich skeptisch“
Journalismus — wird gemunkelt …
Richtig, er ist seinem Beruf und Berufung als Journalist gefolgt, er hat seine Arbeit gemacht. Und ihm wurde Unrecht zugefügt, indem man ihm rechtswidrig den Lehrauftrag an der Uni Kiel gekündigt hat. Das hat das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein in seiner Urteilsbegründung sehr klar herausgearbeitet.
Sie kritisierten den anmaßenden Ton, der zumindest in einem der Schreiben herauszulesen war. Eine der beiden Historikerinnen wünschte sich gar eine „betreute Debatte“, weil das, ich zitiere, „auch in vielen anderen Städten Deutschlands üblich geworden“ sei. Die Kamenzer bleiben unbetreut?
Ich gestehe jedem Menschen zu, dass er seinen eigenen Kopf zum Denken hat — und dass es gewissermaßen sein Grundrecht ist, den auch zu benutzen. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass unsere Köpfe rund seien, damit die Gedanken darin kreisen können. Ich fand das ziemlich zutreffend.
Also kein Betreuungsangebot für die Kamenzer Bürger?
Zunächst hätte ich es auf alle Fälle verstanden, wenn man mir geschrieben hätte, man wolle da miteinander ins Gespräch kommen. Wenn mir die Historikerin Frau Wendland mitgeteilt hätte, ob man mal überlegen könne, unterschiedliche Standpunkte auf die Bühne zu bringen, dann hätten wir das alles bereden können. Warum denn nicht? Es wäre doch eine lohnenswerte Aufgabe der Hochschulen und von mir aus auch der Osteuropa-Institute, verschiedene Leute, Wissenschaftler mit unterschiedlichen Sichten, an einen Tisch zu bringen.
Wo ich eben sehr empfindlich bin — und das hat sicherlich auch mit meinem ostdeutschen Hintergrund zu tun: Wenn ich spüre, dass da jemand bevormundet und Besserwisserei übt, dann werde ich skeptisch. Ich hatte genau genommen den Eindruck, dass die Betrachtung der anderen Seite gar nicht wirklich interessiert.
Sie sprachen von Ihrem „ostdeutschen Hintergrund“ — haben Sie in der DDR gelernt, vor Bevormundung und dieser Form der Verfolgungsbetreuung Abstand zu nehmen? Würden Sie sagen, dass wir diese Tendenzen heute in der Bundesrepublik auch wieder spüren?
Dass Menschen anderen ihre Meinung aufzwingen wollen, halte ich zunächst mal für systemneutral. Eigentlich geht mir auch diese Betonung des Ostdeutschen ein bisschen auf den Keks. Manchmal gehe ich dieser Betonung auch in die Falle — wie gerade eben.
Wissen Sie, ich war vielleicht kein Kritiker der ostdeutschen Verhältnisse. Aber man muss mir auch nicht unterwuchten, dass ich ein Freund russischer Regierungspolitik oder sogar Russenfreund sei. Ein Russenfeind bin aber auch nicht. Ein Freund oder Feind der Ukraine bin ich übrigens ebenso wenig. Sie haben aber recht: Eine Bekenntnisfreudigkeit, wie es sie in der damaligen DDR gab, scheint heute auch wieder modisch zu sein.
„Nein, die Veranstaltung wird nicht abgesagt“
Mittlerweile berichtet auch die sächsische Presse davon, dass Patrik Baab nach Kamenz kommt. Setzt Sie das unter Druck?
Ach, dass sich da Leute in der Aufmerksamkeitssonne bräunen, das sehe ich mit einem Augenzwinkern. Das sind doch die normalen Abläufe. Man muss ja auch nicht meiner Meinung sein. Was ich jedoch wirklich schwierig finde, war die Äußerung der Historikerin Wendland in der Sächsischen Zeitung — sie sagte unter anderem.:
„Sicher, es muss möglich sein, auch mal Stuss zu reden. Das muss eine Demokratie aushalten …“
Das war ziemlich herablassend. Und auch unverschämt, besonders Herrn Baab gegenüber.
Das heißt, die Veranstaltung steht? Bei anderen Veranstaltern, die mit Patrik Baab ins Gespräch kommen wollten, hat die Kampagne offenbar gefruchtet: Patrik Baab wurde dort ausgeladen. Können Sie sich vorstellen, dass der Druck so groß wird, dass Sie dennoch einknicken werden?
Nein, die Veranstaltung wird nicht abgesagt. Dafür gibt es doch keinen sachlichen Grund. Ich habe mich heute auf das Gespräch mit Herrn Baab vorbereitet. Und dazu nutze ich auch Material der Landes- oder auch Bundeszentrale für politische Bildung.
Und ehrlich gesagt erkenne ich zu dem, was Patrik Baab aus seiner Sicht beleuchtet, gar keine Widersprüche. Unterschiedliche Betrachtungen? Ja, natürlich. Aber dass er etwa Dinge schreibt, die man besser nicht schreiben sollte, kann ich nun wirklich nicht erkennen.
Sie sagten mir, dass Sie eine Reihe solcher Gespräche planen. Halten Sie das für mutig in dieser seltsamen Zeit, in der man andere Meinungen immer schlechter aushalten kann? Oder ist das für Sie ganz normales staatsbürgerliches Engagement?
(lacht) Staatsbürgerlich klingt so wie Staatsbürgerkunde.
Da ist sie wieder, die DDR …
Eigentlich sollte das der Normalzustand sein, in dem wir uns bewegen sollten, wenn wir Interesse an der Welt haben. Was spricht denn dagegen, dass wir an einem Abend miteinander diskutieren? Das ist doch spannend. Aber diese Dialogreihe hat das Ziel, dass wir miteinander immer wieder ins Gespräch kommen. Und ich kann diese Spaltungsdiskussion nicht verstehen.
Ich erlebe immer wieder, dass die Menschen miteinander reden wollen. Das Problem besteht eher in den jeweiligen politischen Klassen, denn die bewegen sich in Blasen. Jeder bewegt sich natürlich viel unter Gleichgesinnten. Ich ja auch. Aber ich versuche aus solchen Blasen auch ein Stück weit auszubrechen.
„Es gibt kein Recht darauf, das Recht auf Meinungsäußerung anderer infrage zu stellen“
Halten Sie solcherlei Formen des Protestierens, wie die beiden Historikerinnen es bei Ihnen versucht haben, für staatsbürgerliches Engagement? Ich entschuldige mich, dass Sie schon wieder an die Staatsbürgerkunde denken müssen …
Nein, in der Form halte ich es einfach für nicht richtig. Das bedeutet nicht, dass man nicht kritisiert werden darf; natürlich darf man das. Selbst wenn jemand etwas Falsches denkt, ist es in unserer Gemeinschaft möglich, dass er es sagen darf. Also das Grundgesetz lässt das zu. Ich habe jedenfalls dort noch nie gelesen, dass wir nur kluge Meinungen von uns geben dürfen. Wir dürfen uns auch irren …
… und auch dummes Zeug erzählen?
Sagen wir so: Was uns nicht zusteht, das ist ein Recht darauf, die Meinungsäußerung des anderen infrage zu stellen. Ich darf jeden kritisieren. Ich kann auch sagen, dass ich seine Meinung nicht teile und sie auch für falsch halte. Vorhin sprachen wir ja über Lessing. In „Nathan der Weise“ gibt es die Figur des Patriarchen. Der ist als fortwährender Rechthaber angelegt. Wir sollten uns nicht verhalten wie der Patriarch. Das möchte ich Frau Wendland und Frau Vulpius, der anderen Professorin, die mich wegen Herrn Baab anschrieb, mal entgegenhalten.
Wir erleben immer wieder, dass diese „besorgten Bürger“ darlegen, was gut sei für Zuseher und Zuhörer, was man ihnen zumuten darf und was nicht, wo es Betreuung braucht und so weiter. Die Rezipienten selbst werden selten gefragt, daher frage ich Sie: Herr Dantz, wie sehen Ihre Kamenzer denn das Angebot, auch mal gegenteilige Betrachtungsweisen angeboten zu bekommen?
Meine Kamenzer? Ich weiß ja, wie Sie es meinen, aber sehen Sie, ich darf nur ihr Vertreter sein — und darüber bin ich glücklich, und es macht mich auch stolz …
„Ich würde nur bereuen, wenn keiner käme“
Na gut, dann frage ich so: Wie sehen denn die Kamenzer Bürger, deren Stadtoberhaupt Sie sein dürfen, die von Ihnen initiierten Podien?
Die Interessenten für die Lesung und für das Gespräch mit Patrik Baab wurden durch die losgetretene Kampagne und die Berichte darüber nicht abgehalten, kann ich da nur sagen. Die Veranstaltung ist bereits ausverkauft.
Erwarten Sie bei der Veranstaltung am 6. Dezember einen unruhigen Abend?
Also, es ist jeder eingeladen — jeder mit Ticket, der mit Patrik Baab ins Gespräch kommen möchte. Und ich erwarte eine spannende Diskussion. Die kann auch durchaus mit unterschiedlichen Standpunkten verbunden sein. Es ist mir vollkommen klar, dass es die auch gibt. Was ich uns allen aber wünsche, ist, dass wir die Veranstaltung mit Respekt und Kultur begehen. Das ist uns in der Vergangenheit bei allen Veranstaltungen gelungen. Warum sollte das jetzt anders sein? Ich habe da wenig Bedenken.
Zum Abschluss erlauben Sie noch eine Frage: Bereuen Sie, dieses Podium ins Leben gerufen zu haben? Oder weckt das Ihre Kampfeslust erst recht? Im Namen der Demokratie quasi …
Es gibt doch in dieser Hinsicht überhaupt nichts zu bereuen. Wissen Sie, ich würde es nur dann bereuen, wenn wir ins „Leere“ reden müssten, wenn also keiner käme. Es ist auch nicht so, dass ich das Kampfgetümmel suche, das Motto „Viel Feind, viel Ehr“ ist nicht meines. Ich bin eigentlich eher harmoniebedürftig. Aber als Oberbürgermeister und Verantwortlicher für ein öffentliches Kulturangebot in unserer Stadt muss man eben auch Debatten anstoßen und Menschen zusammenbringen. Es konnten ja auch nicht nur Leute Tickets für die Veranstaltung kaufen, die ausschließlich Herrn Baabs Argumente teilen.
Es gab keine Gesinnungsprüfung vorher?
(lacht) Nein! Unsere Reihe „Im Dialog“ ist für alle offen.
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