Wahlen waren den Thüringern angekündigt zu einem neuen Landesparlament, mithin einer neuen Regierung, einmal schon für den 25. April, dann wieder für den 26. September 2021. Seitdem betätigen sich der Thüringer Politiker und die geneigte Thüringer Politikerin am Spiel eines Abzählreimes: Wählen — nicht wählen — wählen — nicht wählen … Gewonnen hat soeben: Nicht wählen! Die Öffentlichkeit ist augenblicklich angesichts des unsäglichen Leids und der entsetzlichen Zustände, welche die Hochwasserkatastrophe im Westen des Landes anrichtet, hinreichend abgelenkt.
Die Attacke seitens Thüringer Politiker auf die Demokratie am 16. Juli ist allenfalls eine mediale Randnotiz wert. Wann der Wahlpoker somit seine Fortsetzung erfährt, ist noch nicht gänzlich entschieden — erst mal Sommerferien machen und sich von den gut dotierten Strapazen des Bürgerstrapazierens erholen, denn Corona hat(te) es ja durchaus in sich. Zwischenzeitlich wird noch durch den Thüringer CDU-Chef Mario Voigt in den Raum geworfen, es werde keinen weiteren Stabilitätspakt für Rot-Rot-Grün geben, doch zugleich wird betont, Gespräche über die weitere Zusammenarbeit seien nicht ausgeschlossen.
Was aber heißt das anderes als: Wir formulieren ein wenig um, ansonsten bleibt alles, wie es ist. Zufrieden dürfte somit die Linke in Thüringen sein, die es dank intensiven medialen Zutuns vermochte, das SED-Erbe abzustreifen und sich möglichen Koalitionären als demokratische, sehr demokratische, Braut zu offerieren. Die dunkelroten Demokraten beeindruckten jedenfalls die CDU. Es scheint jedoch geraten, an den vollmundigen Beschluss, der auf dem 31. Parteitag der Christlichen Demokraten im Dezember 2018 gefasst wurde, zu erinnern. Da heißt es markant und im Fettdruck (1):
„Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab.“
Vier Abgeordnete der CDU-Fraktion erklärten nun bereits am 19. Mai, ihre Zustimmung zur Auflösung des Thüringer Landtags versagen zu wollen, man sähe einfach „keinen Anlass für vorgezogene Neuwahlen“ (2). Dieses Gebaren könnte freilich einer Strategie folgen, die schon bei den Verhandlungen zur Tolerierung einer dunkelrot-rot-grünen Regierung eine Rolle spielte. „Um endlich wieder Stabilität im Land zu gewährleisten, sei es besser, eine Minderheitsregierung bis zur nächsten regulären Landtagswahl 2024 zu tolerieren“ (3), hieß es damals. Unvereinbarkeitsbeschluss des CDU-Parteitages hin oder her.
Der Vorhang zum ersten Akt des Possenspiels im Thüringer Staatstheater öffnete sich seinerzeit am 5. Februar 2020. Nach der Wahl zum Landtag vom Oktober 2019 war ein Ministerpräsident zu wählen. Keine einfache Sache jedoch, denn weder hatte eine „große“ Koalition aus SPD und CDU eine Mehrheit, noch bestand eine solche für Dunkelrot-Rot-Grün. Die größte Schnittmenge bei den politischen Inhalten wäre demnach für eine Koalition aus AfD, CDU und FDP gegeben gewesen.
Doch halt, AfD? Da war doch was. Unvereinbarkeitserklärungen etwa. Und die eigene Vortrefflichkeit natürlich. Denn wir sind doch anständig! Keinen Fußbreit den Faschisten! Immerhin darf man ja den Sprecher der thüringischen AfD Björn Höcke einen solchen nennen, das ist gerichtsfest (4).
Unglücklicherweise wird nun genau diese AfD zum Stolperstein bei der Wahl des Ministerpräsidenten, denn die Wiederwahl des bisherigen Amtsinhabers Bodo Ramelow geht gründlich daneben. Im dritten Wahlgang kandidiert der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich und wird — wohl auch zu seiner Überraschung — gewählt. Wie im zweiten Wahlgang erhält Ramelow 44 Stimmen, 45 sind es für den FDP-Mann. Nichts ist undemokratisch an diesem Vorgang. Kemmerich ist zum Ministerpräsidenten gewählt, er lässt sich vereidigen. 90 Parlamentarier haben gewählt und sich entschieden. Der gewählte Landeschef kann nun seine Regierungsarbeit aufnehmen.
Nicht so in Thüringen. Da fliegen erst mal Blumen vor die Füße des überraschten neuen Ministerpräsidenten, die werfende dunkelrote Blumenfrau Susanne Hennig-Wellsow schien ebenso überrascht und wenig nervenstark. Es brauchte kaum eine halbe Stunde und die ersten „Spontandemonstranten“ tummelten sich vor dem Landtag, andere vor der Staatskanzlei.
Die in Südafrika weilende Bundeskanzlerin gerät über die Nachricht aus Thüringen in Rage und lässt wissen, das Ergebnis sei zu revidieren. „Unverzeihlich“ nennt Merkel die Wahl, schließlich sei hier mit Stimmen der AfD gewählt worden, und ruft diesen Tag zu einem „schlechten Tag für die Demokratie“ (5) aus. Die Telefone glühen wohl an diesem Tag in den Parteizentralen und den Redaktionen. Brüche überall: „Dammbruch“, „Kulturbruch“, „Tabubruch“. „Jetzt hat die AfD ihren ersten Ministerpräsidenten“, wird sogleich der Spiegel fantasieren (6).
Viele Gratulationen sind es dann letztlich für den FDP-Politiker nicht geworden, denn nun wäre „das Böse wieder da“, heißt es da sogar aus den eigenen Reihen (7). Es mag hier dahingestellt sein, ob das Böse nun in Thomas Kemmerich zu personalisieren wäre oder die AfD pauschal als das Böse auszumachen sei oder eben gleichsam ihre Wählerschaft — 23,4 Prozent waren es zuletzt.
Hilft nicht das Argument, hilft immerhin noch die Anleihe bei moralischer Begrifflichkeit und ganz munter lässt sich dazu in metaphysische Sphären von Heil und Verdammnis gleiten.
Wer aber stört sich schon noch an schiefen Paarungen wie fremdenfeindlich-weltoffen, nationalistisch-international, regional-grenzenlos, menschenverachtend-respektvoll? Über allem „gleich“, „selbst“, „tolerant“, „bunt“, „offen“ und „demokratisch“ wird nur eben leider die Demokratie vergessen. Wie man mit den Begriffen blendet und umschmeichelt, so diskreditiert und ächtet man zugleich. Der Halb-Vorsitzende der SPD Norbert Walter-Borjans fordert nachdrücklich von FDP und CDU, „das Problem aus der Welt zu schaffen“, denn so mache man sich „zum Steigbügelhalter für den Faschismus, für Rassismus, für Hetze gegen andersdenkende Menschen“ (8).
Was macht den Schrecken, was lässt dunkle Ahnungen und Abgründe aufsteigen und weist auf eine grauenvolle Abnormität, wenn man zur Wahl 2019 bei der SPD liest: „Zu viele Bürgerinnen und Bürger haben das Vertrauen in die Politik und ihre Repräsentanten verloren. Das findet seine Ursache auch darin, dass Politik zunehmend komplexer wird, die Prozesse der Entscheidungsfindung für viele unverständlich und abstoßend sind“ (9), und es dann im Wahlprogramm der AfD heißt:
„Viele Bürger haben den Eindruck, dass die Politiker über ihre Köpfe hinweg entscheiden, ja, dass sich die Politik von der Wirklichkeit der Bürger generell weit entfernt hat. So entstehen Distanz, Enttäuschung und Verdrossenheit, welche die freiheitliche Demokratie schwächen“ (10)?
Ist es also tatsächlich so unbegreiflich, dass die AfD vorrangig eine Bewegung des Anti-Establishments ist? Vielleicht aber braucht das Land eben gerade dieses politische Aufbegehren, braucht es sehr unterschiedliche Strömungen und Bewegungen. Reagieren ließe sich darauf mit guter bodenständiger, sachlicher, liberaler Politik. Ist diese Lösung den Etablierten zu einfach? Ist es somit besser, als sinnvollstes Instrument politischen Agierens zur Eindämmung des Unerwünschten die Begriffe „rechtsextrem“, „völkisch“ und „faschistisch“ in Dauerschleife anzuwenden?
Vor allem, wenn obendrein noch die Erklärung unterbleibt, was unter den Attributen überhaupt verstanden werden soll. Die permanente Wiederholung schafft jedenfalls keine Klarheit. Besser wäre es wohl überhaupt, bei der Vergabe der Schandetiketten Zurückhaltung zu üben, sie sich aufzusparen für die tatsächlich gravierenden Fälle. Wer das jedoch nicht verstehen will, der wird gegen ein stabiles Niveau oder gar ein Anwachsen der unerwünschten Partei nichts ausrichten.
Interessanter wäre es doch, sich mit den politischen Inhalten auseinanderzusetzen, um dann herauszustellen, dass etliche gesellschaftliche Probleme durch die Alternative für Deutschland ausgespart bleiben. Die Unwucht, die durch riesige Vermögen Einzelner klafft, ist kein Thema. Geschwiegen wird über Machtkonzentrationen bei Milliardären und einigen Großkonzernen, freilich überwiegend hierzu auch bei CDU und FDP. Randthemen lediglich bilden Natur und Umwelt.
Bislang hat man sich zur Fortsetzung des Possenspiels entschieden. Selbstkritik und Zweifel sind selten geworden im politischen Alltag. Empören und Ausgrenzen sind wenig anstrengend und einigermaßen bewährt, und so poltert es in Thüringen eben durch den Linken-Abgeordneten Knut Korschewsky: „Ich begebe mich weder in die Hände der faschistischen AfD noch der FDP“ (11). Wird Korschewskys Aussage zum Maßstab des politischen Handelns im Thüringer Landtag, dann dürfte das Regieren für die Minderheitsregierung nahezu beendet sein. AfD wie FDP könnten jedes Vorhaben zur Unmöglichkeit werden lassen, signalisierten sie ihre Zustimmung zu den Regierungsplänen. Wer hier nun eine Infantilisierung der Politik konstatiert, dürfte so falsch nicht liegen.
Einmal mehr: Das Versprechen bedeutete ein Ver-sprechen. Eine Lehrstunde jedenfalls für den wählenden Bürger. Der Vorhang schließt bis zum nächsten Aufzug. Beifall ist nicht zu zollen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://archiv.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/cdu_deutschlands_unsere_haltung_zu_linkspartei_und_afd_0.pdf?file=1
(2) https://twitter.com/R_Buchsteiner/status/1394923403606380546
(3) https://www.businessinsider.de/politik/deutschland/projektregierung-fuer-thueringen-cdu-unterhaendler-bereit-minderheitsregierung-unter-ramelow-zu-tolerieren/
(4) http://www.vgme.thueringen.de/webthfj/webthfj.nsf/CA8D0148CC67A0D5C125848600482F6C/$File/19-2E-01194-B-A.pdf?OpenElement
(5) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/angela-merkel-thomas-kemmerichs-wahl-muss-rueckgaengig-gemacht-werden?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de
(6) https://www.spiegel.de/politik/deutschland/thueringen-jetzt-hat-die-afd-ihren-ersten-ministerpraesidenten-a-244b88e6-4f08-4e7b-8651-8de25b8b1285
(7) https://www.vorwaerts.de/artikel/wahl-afd-stimmen-fdp-politikerinnen-fordern-ruecktritt-kemmerich
(8) https://www.n-tv.de/politik/SPD-Chef-Es-gibt-kein-Weiter-so--article21558514.html
(9) https://www.spd-thueringen.de/spd-thueringen-stellt-schwerpunkte-fuer-den-wahlkampf-2019-vor/
(10) https://cdn.afd.tools/wp-content/uploads/sites/178/2019/09/Wahlprogramm_Thüringen_2019_Endfassung.pdf
(11) https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/landtag-aufloesung-neuwahl-100.html
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